Justiz & Polizei

Diese Regeln könnte die Politik umsetzen, wenn sie für Chancengleichheit zwischen Bürgern und Versicherungen sorgen will

Wer gegen seine Versicherung klagt, muss sich warm anziehen: Er steht einem mächtigen Apparat gegenüber. Die eigenen Ressourcen sind oft begrenzt, die der Gegenseite schier grenzenlos. Wenn sich folgende sechs Dinge ändern, herrscht wieder mehr Chancengleichheit für Verbraucher.

von Daniel Drepper , Justus von Daniels

© Collage von Ivo Mayr

Experten sagen: Das Versicherungsrecht leidet unter einem „strukturellen Ungleichgewicht“. Das heißt: Völlig unabhängig vom einzelnen Fall stehen die Chancen für die Verbraucher nicht gut. Die Ausgangssituation ist in der Regel so: Hier ein milliardenschwerer Konzern, der sich hoch spezialisierte Anwälte leisten kann, die an Gesetzeskommentaren mitschreiben, beste Kontakte haben zu Richtern, die ihr Fachgebiet teilweise besser kennen als diese Richter.

Auf der anderen Seite: ein einzelner Geschädigter, der eine solche Situation meist nur ein Mal im Leben durchmacht. Vielleicht hatte er oder sie einen Unfall, ist nun berufsunfähig, das Geld geht zur Neige, die Zeit drängt. Vielleicht entscheidet er oder sie sich nicht für den besten, exakt auf dieses Gebiet spezialisierten Anwalt. Und hat deshalb schon mal von Beginn an ziemlich schlechte Karten.  

Darum fordern Politiker, Verbraucherschützer und Verbraucheranwälte, dass sich sechs Dinge ändern:

1. Tricks verhindern

Erst führt eine Versicherung einen zermürbenden Prozess. Zweifelt alles an. Verlangt zusätzliche Gutachten. Fechtet das Urteil an. Geht in die nächste Instanz. Vom Landgericht zum Oberlandesgericht zum Bundesgerichtshof. Das ist die höchste Instanz.

Und nun kommt der Trick: Droht dort eine Niederlage, zieht die Versicherung die Klage zurück oder erkennt die Forderungen des Versicherten vollumfänglich an. Vor allem Banken und Versicherungen sind dafür bekannt. Erst ein jahrelanger Prozess. Und plötzlich gibt man in allem klein bei. Warum?

Weil Urteile Wirkungen haben. Sie können andere Urteile beeinflussen. Sie können „Präzedenzwirkungen“ entfalten, also dafür sorgen, dass weitere, ähnlich gelagerte Fälle genauso entschieden werden. Dass also weitere Verbraucher von diesem Urteil profitieren. Das möchten Versicherungen vermeiden. Rücknahmen vor dem BGH sind heute nicht mehr ganz so einfach wie früher. Aber immer noch möglich.

Günter Hirsch fordert, das weiter einzuschränken. Er war bis 2008 Präsident des Bundesgerichtshofes und ist heute Versicherungsombudsmann der Versicherungswirtschaft – er leitet die kostenlose Schlichtungsstelle für Verbraucher, die sich über ihre Versicherung beschweren wollen. Hirsch hält es für eine wichtigen Fortschritt, dass Rücknahmen nicht mehr so einfach sind. Aber seine Idee geht weiter: Der Bundesgerichtshof sollte eine Entscheidung von allgemeiner Bedeutung auch dann begründen dürfen, wenn eine Partei einen Rückzieher gemacht hat. Damit sie in jedem Fall dokumentiert ist. Und anderen Geschädigten helfen kann.

2. Spezialisierte Richter

An einem normalen Amts- oder Landgericht müssen Richter mal über Mietrecht, mal über Kaufverträge oder eben über die Haftung für einen Unfall urteilen. Gerade in einem Spezialgebiet wie dem Versicherungsrecht kann es für Richter schwierig werden, ein sicheres Urteil zu fällen. Zumal, wenn hoch spezialisierte Anwälte auf Seite der Versicherer auftreten. Mehr als 40 Prozent aller Gerichte haben laut dem Bundesjustizministerium keine spezialisierten Richter für Versicherungsrecht.

Das Ministerium will das künftig ändern. Zumindest gebe es Pläne, teilt das Ministerium CORRECTIV mit. Es setzt „sich dafür ein“, dass an Land- und Oberlandesgerichten flächendeckend eine spezielle Zuständigkeit für Versicherungsrecht eingerichtet werden soll. Damit Richter auf Augenhöhe mit den Anwälten stehen. Konkret seien die „politischen Überlegungen“ aber noch nicht abgeschlossen. 

3. Verzögerungstaktiken ausbremsen

Verbraucherverbände beklagen regelmäßig, dass Versicherungen zu lange brauchen, um einen Schaden zu regulieren. Also Geld zu zahlen, das einem Geschädigten rechtmäßig zusteht. Das Gegenargument der Versicherungen: Problematische Fälle müssten nunmal sorgfältig geprüft werden.

Verbraucherverbände drängen schon lange auf Änderungen. Bei einer Anhörung des Bundesjustizministeriums im Jahr 2013 forderten sie: Wenn Versicherungen Verfahren hinauszögern, dann sollten sie mittels Verzugszinsen zu größerer Eile bewegt werden.

Um den Geschädigten nicht hängen zu lassen, sollten Versicherungen auch schneller mitteilen müssen, ob ein Anspruch besteht, selbst wenn noch nicht über die Höhe der Entschädigung entschieden wurde. Und sie fordern, die Beweislast nach einer gewissen Frist umzukehren. Dann müsste nicht der Geschädigte beweisen, dass ein Schaden entstanden ist. Sondern die Versicherung, warum sie einen Anspruch ablehnt.

In einem internen Vermerk, der CORRECTIV vorliegt, wird ein Beamter des Justizministeriums zitiert, der diesen Forderungen bei dem Treffen vor vier Jahren wenig Chancen voraussagte: Nicht „jedes Problem“ könne „durch den Gesetzgeber gelöst werden“. Und: „Viel sei schon gewonnen, wenn die Schadensbearbeitung sachgerecht durchgeführt werde.“

4. Unabhängige Gutachter

Ist ein Mann, der nach einem Autounfall über chronische Rückenschmerzen klagt, nicht mehr arbeitsfähig? Vor Gericht wird oft ein Fachgutachter beauftragt, um solche Fragen zu klären.

Die Einschätzung eines Gutachters kann streitentscheidend sein. Umso wichtiger ist ihre Unabhängigkeit. Laut derzeitigem Gesetz muss ein Sachverständiger selbst mitteilen, ob es Gründe gibt, weshalb er befangen ist. Reicht das aus?

Nein, sagt die Verbrauchervereinigung „Bund der Versicherten“ und fordert, dass Gutachter künftig offenlegen müssen, wie oft sie in zurückliegenden Jahren für Versicherer tätig waren. „Zeigt sich beispielsweise, dass der Gutachter weit überwiegend Gutachten für die Versicherungswirtschaft erstellt hat, dürfte ein solcher Gutachter wohl kaum als unbefangen gelten und auch nicht vom Gericht bestellt werden“, schreibt der Versichertenverband.

5. Nebeneinkünfte offenlegen

Auch Richter können neben ihrer regulären Tätigkeit Geld dazuverdienen. Etwa, indem sie von der Versicherungswirtschaft organisierte Seminare geben. Gegen Honorar. Wie viel sie nebenher verdienen? Auf wessen Gehaltsliste sie stehen? Bisher müssen Richter das nicht offenlegen.

Das muss sich ändern, sagt Renate Künast. Die Grünen-Politikerin leitet den Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages. „Wir haben das Recht zu wissen, wo unsere Richter sonst noch verdienen“, sagt Künast. Gerichte, die Nebentätigkeiten erlauben, müssten sich mit der Frage auseinandersetzen „wie sichern wir eigentlich den Anschein der Unabhängigkeit?“.

6. Transparenz

Wie oft gewinnt eine Versicherung eine Klage? Wie oft ein Geschädigter? Wie oft wird den Geschädigten eine Prozesskostenhilfe für die langen, teuren Prozesse gegen eine Versicherung gewährt? Niemand kann das mit Sicherheit sagen. Denn Daten darüber gibt es nicht. Weil deutsche Gerichte es bisher nicht für nötig erachten, verlässliche, transparente Statistiken zu führen.  

Es gibt zudem keine festen Regeln, welche Urteile generell veröffentlicht werden. Es liegt oft am einzelnen Gericht, welche Urteile der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. „Hier wären einheitliche Leitlinien zur Veröffentlichungspraxis hilfreich“, sagt Versicherungsexperte Christian Armbrüster von der Freien Universität Berlin.

CORRECTIV hat sich rund 90.000 Urteile, davon 3000 zum Versicherungsrecht, besorgt. Auch hier ist eine Datenauswertung nicht möglich – weil es in den Urteilen keine Standardformulierungen gibt. Weil man die Urteile nicht maschinenlesbar vergleichen kann. Das ist nicht zeitgemäß. Es wäre dringend an der Zeit, rechtserhebliche Urteile so zu veröffentlichen, dass eine automatische Auswertung möglich ist.

Solch eine Auswertung könnten zuständige Stellen wie die Landesjustizministerien und das Bundesjustizministerium dazu nutzen, die Effizienz und Chancengleichheit der verschiedenen Gerichte und Rechtsbereiche zu vergleichen – und wenn nötig, daraus abzuleiten, was sich ändern muss.