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„Wie der jüngste Tag“

Im syrischen Ort Khan Scheichun kamen etwa 100 Menschen bei einem Chemiewaffenangriff ums Leben. Wir haben mit einigen der Helfer und Überlebenden gesprochen.

von Bassel Alhamdo

Helfer kümmern sich nach dem Giftgasangriff auf den syrischen Ort Khan Scheichun um Verletzte.© Bashar Diab

Der 4. April begann für Bashar Diab wie jeder andere Tag. Luftangriff in Khan Scheichun, einem Ort in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Der Mitarbeiter der Zivilschutzorganisation Weißhelme machte sich auf den Weg.

„Wir dachten, dass es ein normaler Angriff ist, wie immer sind wir zum Angriffsort gegangen, um die zivilen Opfer zu retten“, erzählt Diab.

„Normalerweise helfen uns immer viele zivile Freiwillige, aber was uns überraschte, einer nach dem anderen sind einfach umgefallen, die Kollegen von den Weißhelmen auch.“ Nach anderthalb Stunden Rettungsarbeiten sei ihnen klar gewesen, dass es ein Chemiewaffenangriff gewesen sein musste, der Dorf traf.

Windel im Gesicht

Diab und andere Helfer erzählen vor allem, wie sie mangels Ausrüstung und Medikamenten schnell Hilflosigkeit überkam. „Was sollten wir tun, wir habe dafür keine Ausbildung. Die UN und die Länder, die uns ausgebildet haben, haben uns gesagt, dass Al-Assad keine Chemiewaffen mehr hat und wir deswegen keine Ausbildung bräuchten.“ Von dreißig Helfern hätte nur zwei einmal einen fünftägigen Kurs zur Behandlung von Opfern von Chemiewaffen mitgemacht. Diab erzählt von einer alten Frau, die nur überlebt habe, weil sie sich eine Windel ihrer Enkelkinder vors Gesicht gehalten habe.

Der erste Angriff auf den Ort richtete keine große Zerstörung an. Doch laut Zeugen vor Ort zog das Gas dann mit dem Wind vom nördlichen Rand der Stadt nach Süden, wo es auch Opfer gegeben haben soll.

Mohamed Rahmun, ein Jugendlicher aus Khan Scheichun hat den Angriff überlebt. Er schlief noch, als der Angriff auf den Ort begann.

„Ich konnte nicht atmen, ich konnte die Leute um mich herum nicht sehen. Es war wie ein Alptraum.“ Später wachte er in einem Krankenhaus auf. „Meine Eltern erklärten mir dann, was passiert war.“

Codename Quds 1

Die Angaben von Augenzeugen des Angriffs sowie der Helfer sind schwer zu überprüfen. Bisher ist nicht klar, wer für den Chemiewaffenangriff verantwortlich ist. Als gesichert gilt lediglich, dass das Nervengas Sarin eingesetzt wurde. Laut Augenzeugen vor Ort sowie nach Aussagen des US-Verteidigungsministerium fand zeitgleich ein Luftwaffenangriff auf den Ort statt. Wenn das Giftgas von der Luft aus eingesetzt wurde, ist dies ein deutlicher Hinweis auf das Assad-Regime. Syrien sowie sein Bündnispartner Russland streiten das ab.

Die französische Regierung erklärte am Dienstag, dass das Assad-Regime für den Angriff verantwortlich sei. Die Regierung veröffentlichte eine sechs-seitigen Analyse des Angriffs. Darin stützt sie sich vor allem auf eine chemische Analyse des in Khan Scheichun eingesetzten Kampfstoffs. Dieser sei in seiner Zusammensetzung dem Regime zuzuordnen.

Laut Augenzeugen wurde der Angriff auf Khan Scheichun gegen 6.30 Uhr geflogen. Die syrische Opposition hat Beobachtungsstellen eingerichtet, mit denen sie den Funkverkehr der Luftwaffe Assads verfolgt. Auch, um sich auf Bombenangriffe vorbereiten zu können.

CORRECTIV hat mit einem der Beobachter gesprochen, der an jenem Tag Dienst hatte. Er möchte anonym bleiben. Nach seinen Angaben hob am 4. April um 6.30 Uhr ein Kampfflugzeug vom Typ Suchoi 22 von der Luftwaffenbasis Al Shayrat in der Nähe der syrischen Stadt Homs ab. Der Pilot wies sich mit dem Rufnamen Quds 1 aus. Zehn Minuten später bombardierte das Flugzeug den Ort Khan Scheichun.

Warnung über WhatsApp

Gegen 9 Uhr verbreiteten die Helfer über eine WhatsApp-Gruppe, die zur Koordinierung der Rettung eingerichtet ist, eine Warnung. „Achtung, Achtung, das waren Chemiewaffen, ich warne die Retter, nicht zum Angriffsort zu kommen.“ Auch die Moscheen des Orts verbreiteten die Warnung.

„Die Situation war außer Kontrolle“, erinnert sich Diab. Das kleine Krankenhaus in Khan Scheichoun habe weder genug Sauerstoff, noch ausreichend Medikamente, geschweige denn Ausrüstung zur Behandlung von Chemiewaffenopfern gehabt. „Wir haben die Verletzten mit normalen Autos oder Lkws in anderen Krankenhäuser in der Nähe transportiert, die meisten starben unterwegs.“

Im Laufe des Vormittags, laut Augenzeugen gegen 10 Uhr, bombardieren Flugzeuge dann das Krankenhaus von Khan Scheichoun. Zum Schutz vor Luftangriffen ist es teilweise unterirdisch angelegt. Das Regime von Bashar Al-Assad bombardiert oft gezielt Krankenhäuser und medizinische Infrastruktur in Oppositionsgebieten, um deren Widerstand zu brechen.

Verteilung von Hilfe als Waffe

Im mörderischen Bürgerkrieg ist die medizinische Hilfe sowie die Versorgung mit Hilfsgütern längst auch eine Waffe geworden. Während die Vereinten Nationen ihre Hilfsgüter vor allem in Gebieten verteilen, die unter der Kontrolle des Assad-Regimes stehen, arbeitet die Zivilschutzorganisation Weißhelme vor allem in Oppositionsgebieten. Sie wird finanziert von den USA sowie Großbritannien und ist wegen ihrer Zugänglichkeit für westliche Medien zu einer gewissen Bekanntheit gelangt. Ein Film über sie bekam einen Oscar verliehen, die Organisation selbst gewann den alternativen Nobelpreis.

Auch Mazen Al Sayed arbeitet als Retter bei den Weißhelmen. Er ist ausgebildet, den Opfern von Luftangriffen zu helfen, doch der Chemiewaffenangriff war zu viel für ihn. „Ich hörte, dass meine Familie vergast worden sei. Ich habe sie gesucht, aber nicht gefunden.“ Al Sayed erzählt, wie er einen Nervenzusammenbruch erlitt, während er durch die Spuren des Angriffs stolperte. Einen Tag später erhielt er Nachricht, dass seine sieben Monate alte Tochter in der Türkei behandelt wurde. Auch die anderen Familienmitglieder waren in den Norden Syriens in Sicherheit gebracht. Die Türkei nahm einen Teil der etwa 500 bei dem Angriff Verletzten auf.

Der Journalist Fouad Basbus aus der Provinzhauptstadt Idlib berichtete über den Angriff und erlebte das Chaos in den Stunden nach dem Angriff hautnah mit. „Wer seine verletzten Kinder und seine Familie suchte, musste alle Krankenhäuser in der Region absuchen.“ Bei vielen Opfern habe nur eine Nummer und das Wort „anonym“ auf der Stirn gestanden. „Wenn Du die Leute siehst, wie sie umherirren und ihre Familien suchen, dann denkst Du, das ist der jüngste Tag.“