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66.000 Euro teures Brustkrebs-Medikament von Pfizer hat keinen Zusatznutzen

Seit November 2016 ist das Brustkrebsmedikament Ibrance in Deutschland erhältlich. 21 Tabletten kosten 5425,89 Euro. Aber: Wissenschaftler bezweifeln, dass es einen Vorteil für die Patientinnen hat. Möglicherweise verursacht es sogar mehr Schmerzen, Übelkeit und Durchfall als ältere Präparate. Für den Pharmakonzern Pfizer bahnt sich ein Debakel an: Wenn Deutschland das Präparat so schlecht bewertet, hat das Einfluss auf andere Länder. Dabei ist Ibrance enorm wichtig – für Pfizer.

von Markus Grill

© Mark Lennihan/picture alliance

Anfang Mai präsentierte Ian C. Read die neuesten Pfizer-Zahlen. „Wir blicken auf starke Ergebnisse bei unseren Kern-Marken“, sagte der Vorstandschef des weltgrößten Pharmakonzerns und nannte an erster Stelle das neue Brustkrebsmedikament Ibrance. Rund 600 Millionen Euro habe Pfizer in den ersten drei Monaten 2017 damit eingenommen. „Wir erwarten, dass Ibrance sich weiter so gut entwickeln wird.“ 

Pfizer beschäftigt 97.000 Mitarbeiter rund um den Globus, im vergangenen Jahr machte das Unternehmen 47 Milliarden Euro Umsatz. Doch selbst bei einem Giganten wie Pfizer hängt der Erfolg oft nur von einer Handvoll neuer Medikamente ab, die möglichst teuer verkauft werden und möglichst viele Patienten schlucken sollen.

Seit November ist Ibrance auch in Deutschland zugelassen zur Behandlung von Frauen mit fortgeschrittenem Brustkrebs. Es kommt in Frage, wenn einer Frau keine auf Heilung zielende weitere Operation, Strahlentherapie oder Chemotherapie angeboten werden kann.* Ibrance soll die Zellteilung hemmen und so das Wachstum eines Tumors bremsen. Eine einzelne Packung mit 21 Tabletten kostet 5.425,89 Euro. Aufs Jahr gerechnet kostet die Therapie pro Patientin rund 66.000 Euro. 

Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung unter Frauen. Rund 70.000 Frauen erkranken in Deutschland jedes Jahr daran, jede vierte von ihnen stirbt an dem Krebs. Entsprechend hoch sind die Erwartungen vieler Patientinnen an neue Medikamente wie Ibrance.  

Ein Hoffnungsträger ist das Präparat aber vor allem auch für Pfizer. „Wir sind sehr glücklich über die Erträge von Ibrance in diesem Quartal“, sagte Pfizer-Arzneimittelchef Albert Bouria auf derselben Telefonkonferenz mit Analysten Anfang Mai, auf der auch Vorstandschef Read sprach. Das Wachstum bei Ibrance liege bei 59 Prozent im Vergleich zum vergangenen Jahr. „Wir hatten 61.000 Verschreibungen in diesem Quartal“, verkündete Bouria. „Wir haben Ibrance als eine Standard-Behandlung bei metastasierendem Brustkrebs etabliert“, so der Pfizer-Arzneimittelchef.    

„Weit in die Versorgung eingesickert“

Doch spätestens seit heute gibt es große Zweifel an dieser „Standard-Behandlung“. Denn der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Gremium im Gesundheitswesen, hat einstimmig beschlossen, dass sich für Ibrance bisher „kein Zusatznutzen“ für Patientinnen belegen lasse. 

Auch wenn das Präparat „schon weit in die Versorgung eingesickert ist“, wie der Vorsitzende des G-BA, Josef Hecken, sagt, lasse sich bisher für keine Patientengruppe ein längeres Überleben durch das Medikament belegen. „Daten zur Lebensqualität beziehungsweise zur Symptomatik der Krebserkrankung konnten in den bisherigen Studienergebnisse insgesamt keine Vorteile für Ibrance zeigen“, schreibt der G-BA in einer Mitteilung. Weil der G-BA aber nicht ausschließen will, dass Pfizer noch neuere Studien nachliefert, die das Präparat in einem besseren Licht erscheinen lassen, hat er den Beschluss erstmal befristet bis zum 1. Oktober 2018. 

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Josef Hecken, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses

Georg J.Lopata / Axentis.de

Hecken warnt Bundestagsabgeordnete vor „einer gewissen öffentlichen Debatte“

Unmittelbar nach der Sitzung schickte Hecken den Beschluss auch den Mitgliedern des Gesundheitsausschusses des Bundestags, verbunden mit detaillierten Informationen und Argumenten, „da ich damit rechne, dass der Beschluss eine gewisse öffentliche Debatte auslösen wird“, wie Hecken den Bundestagsabgeordneten schreibt.

Pfizer selbst wollte sich auf Anfrage nicht konkret zu der Entscheidung äußern. „Wir bitten um Verständnis, dass uns die ausführliche Begründung vollumfänglich vorliegen und nachvollzogen werden muss, bevor wir uns detaillierter zum Beschluss äußern können“, schreibt Pfizer in einer Stellungnahme an CORRECTIV. 

Das vom G-BA beauftragte Prüfinstitut IQWiG und die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft waren in ihren Stellungnahmen an den G-BA sogar noch kritischer mit dem Medikament umgegangen. Beide Institutionen halten es für möglich, dass Ibrance einen „geringeren Nutzen“ hat, mit anderen Worten, dass es schlechter sein könnte als bisherige Therapien. 

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das vom Bundesgesundheitsministerium beaufsichtigt wird, aber fachlich unabhängige Entscheidungen trifft, hat vor allem zwei Studien ausgewertet, die Pfizer eingereicht hatte, um die Vorteile von Ibrance zu belegen. In der ersten Studie hat ein Teil der Brustkrebspatientinnen nur das herkömmliche Präparat Letrozol bekommen, der andere Teil der Gruppe Letrozol und zusätzlich Ibrance. Das Ergebnis war, dass in beiden Gruppen innerhalb des Untersuchungszeitraums 17 bis 21 von 100 Frauen starben. „In der Ibrance-Gruppe starben sogar etwas mehr Frauen als in der Kontrollgruppe, aber das war statistisch nicht auffällig“, sagt IQWiG-Mediziner Thomas Kaiser. 

„Wir haben insgesamt keine positiven Ergebnisse gefunden, sondern nur negative.“

Auffällig war hingegen, dass in der Ibrance-Gruppe bei 78 von 100 Frauen schwere Nebenwirkungen auftraten, dazu gehören Schmerzen, Übelkeit, Durchfall, Haarausfall und Blutbildungsstörungen. In der Gruppe, die nur Letrozol erhielt, waren nur 25 von 100 Frauen davon betroffen, wie Kaiser sagt. „Wir haben insgesamt keine positiven Ergebnisse gefunden, sondern nur negative.“

In einer zweiten Studie, in der Ibrance mit dem herkömmlichen Präparat Fulvestrant verglichen wurde, waren die schweren Nebenwirkungen ähnlich. Beim Gesamtüberleben habe es ebenfalls „keinen signifikanten Unterschied gegeben“, erläutert Kaiser. Das IQWiG schreibt in einer Mitteilung: „In der Studie ließen sich keine Vorteile für den neuen Wirkstoff gegenüber der Standardtherapie nachweisen.“ Schwere Nebenwirkungen treten bei Ibrance jedoch „deutlich häufiger auf, woraus ein Hinweis auf einen höheren Schaden abzuleiten ist“. 

Schlechter kann die Bewertung eines neuen Krebsmedikamentes kaum ausfallen. 

Laut Pfizer sind die Nebenwirkungen „in der Regel kontrollierbar“

Pfizer teilt auf Anfrage hingegen mit, dass das IQWiG „nur einen Teil der zur Verfügung stehenden Studiendaten berücksichtigt“ habe. Das „Sicherheitsprofil“ von Ibrance sei „tolerabel“, die Nebenwirkungen des Medikaments seien „in der Regel kontrollierbar“, so Pfizer gegenüber CORRECTIV. 

Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft kommt dagegen ebenfalls zu seiner sehr negativen Bewertung des Medikaments: „In keiner der beiden Studien zeigen sich positive Effekte“ für Ibrance dahingehend, dass die Patientinnen länger leben oder sich ihr Gesundheitsstatus verbessere. Insgesamt sieht die Arzneimittelkommission sogar einen „Anhaltspunkt für einen höheren Schaden“, wie es in ihrer Stellungnahme an den G-BA heißt. Ein im Vergleich zu älteren Präparaten „geringerer Nutzen ist nicht auszuschließen“.

Seit das Präparat Ende vergangenen Jahres zugelassen wurde, haben es in Deutschland mehrere tausend Frauen eingenommen. Allein bei den Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) wurden nach Informationen von CORRECTIV bisher mehr als 6700 Packungen zum Preis von jeweils 5.425,89 Euro abgerechnet. Ann Marini, Sprecherin des GKV-Spitzenverbands sagt: „Wir schätzen, dass aktuell mindestens 1.500 Patientinnen mit Ibrance behandelt werden.“ Dazu kommen noch jene Patientinnen, die das Präparat direkt in Kliniken bekommen. Das Marktforschungsinstitut Insight errechnet, dass im März diesen Jahres in Deutschland 2.768 Patientinnen mit Ibrance behandelt wurden.

Bis zu 70.000 Patientinnen in Deutschland könnten Ibrance bekommen

Nimmt man die Gruppe der Patientinnen, für die das Präparat zugelassen ist, könnten in Deutschland bis zu 70.000 Frauen Ibrance erhalten. Gemessen an den heutigen Kosten würde das die Krankenkassen mit bis zu fünf Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich belasten, wie der G-BA errechnet hat.

Wie kann es aber sein, dass ein Präparat, das unabhängige Wissenschaftler so schlecht bewerten, überhaupt zugelassen wird? Schaut man sich die Begründung der Europäischen Zulassungsbehörde EMA an, steht dort, dass Ibrance den „Zeitraum, in dem die Erkrankung des Patienten sich nicht verschlimmert, um durchschnittlich 6 bis 10 Monate verlängert“, was als „eindeutiger klinischer Wert angesehen wird“. 

Dem widerspricht IQWiG-Mediziner Thomas Kaiser ebenso deutlich wie der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Wolf Dieter Ludwig. Das Kriterium, auf das sich die EMA berufe, sei „progressionsfreies Überleben“, erläutert Krebsmediziner Ludwig. Das klingt zunächst so, als ob die Patientinnen länger leben. Tatsächlich heißt es aber nur, dass der Tumor in dieser Zeit nicht wächst. Ob es einer Patientin besser geht, ob der Tumor anschließend schneller wächst, ob starke Nebenwirkungen auftreten – all dies ist mit „progressionsfreiem Überleben“ nicht gesagt. 

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Wolf-Dieter Ludwig, Onkologe und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

In den bisherigen Studien lebten Patientinnen, die Ibrance bekamen, nicht länger als Patientinnen, die ein herkömmliches Hormonpräparat erhielten, betont Onkologe Ludwig. Deshalb weigert sich auch der G-BA, dem Präparat eine bessere Note zu erteilen, solange Pfizer nicht nachweisen kann, dass Patientinnen davon wirklich profitieren, indem sie länger leben. 

Pfizer selbst kritisiert in einer Stellungnahme gegenüber CORRECTIV, dass in der Beurteilung durch den G-BA „der Parameter ,progressionsfreies Überleben‘ nicht berücksichtigt wird“ und beharrt auf der „therapeutischen Überlegenheit“ einer Therapie mit Ibrance, die „durch zahlreiche Studien belegt“ sei. 

Wird Pfizer den Preis senken oder das Medikament vom Markt nehmen?

Der Beschluss des G-BA führt jetzt dazu, dass die Krankenkassen über den bisher horrenden Preis für das Medikament verhandeln müssen. Bei jedem Präparat, das in Deutschland neu zugelassen wird, darf der Hersteller den Preis zunächst frei festlegen. Innerhalb von sechs Monaten entscheidet dann der G-BA, ob das Präparat einen Zusatznutzen gegenüber bisherigen Therapien hat und wie groß dieser Zusatznutzen ist. Kurz gesagt: Je besser ein Präparat ist, desto teurer darf es sein. 

Doch mit welchen Präparaten soll man Ibrance vergleichen, um den Zusatznutzen zu bestimmen? Auch das hat der G-BA festgelegt. Je nachdem, wie fortgeschritten der Brustkrebs ist und ob die Patientinnen vor, in oder nach der Menopause sind, hat der G-BA sechs Wirkstoffe als „zweckmäßige Vergleichstherapie“ festgelegt.

Das Problem für Pfizer ist, dass vier dieser sechs Wirkstoffe, mit denen sich Ibrance vergleichen muss, inzwischen Generika und deshalb sehr billig sind. So kostet nach Angaben des aktuellen Arzneiverordnungsreports Tamoxifen 0,21 Euro pro Tag, Letrozol 0,76 Euro, Exemestan 0,91 Euro und Anastrozol 0,92 Euro pro Tag. 

Lediglich für eine Patientenuntergruppe (Frauen nach den Wechseljahren mit einem fortgeschrittenen Brustkrebs, bei denen eine Hormontherapie nicht geholfen hat) hat der G-BA neben den erwähnten günstigen Generika auch noch die teureren Wirkstoffe Fulvestrant und Everolimus als „zweckmäßige Vergleichstherapie“ anerkannt.

Wenn die Krankenkassen ihren Auftrag zu Preisverhandlungen jetzt also ernst nehmen, können sie kaum mehr als einen Bruchteil des bisher von Pfizer verlangten Preises von 66.000 pro Jahr billigen, sagt Ulrich Schwabe, Pharmakologe an der Uni Heidelberg und Herausgeber des Arzneiverordnungsreports, einer jährlich erscheinenden detaillierten Übersicht über Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen.

Auf Anfrage teilt Pfizer mit: „Bitte haben Sie Verständnis, dass Pfizer im Vorfeld von Preisverhandlungen weder spekulieren noch eine Erwartung äußern wird.“ Auch Ann Marini, Sprecherin des Krankenkassenverbandes GKV, will sich nicht zu den Preisvorstellungen der Kassen äußern. Die Krankenkassen gehen aber davon aus, dass „die Verhandlungen entsprechend herausfordernd sein werden“. 

Einen allzu niedrigen Preis wiederum kann Pfizer kaum akzeptieren. Denn sobald klar ist, dass Deutschland nur noch einen Bruchteil des bisherigen Preises bezahlt, würden weltweit die Preise für Ibrance einbrechen. Denn Deutschland ist in Europa und darüber hinaus ein Referenzland. 

Denkbar ist, dass Pfizer Ibrance in Deutschland komplett vom Markt nimmt. Entsprechend nervös wird man heute in der Pfizer-Zentrale in New York die Nachricht aus Germany zur Kenntnis nehmen.

IQWiG-Chef Jürgen Windeler im Gespräch mit CORRECTIV

Weiterführende Links

Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) zu Ibrance

IQWiG Bewertung

Stellungnahme der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

Pfizer Analystenkonferenz vom 2.5.2017

Zulassung des Medikaments durch die EMA, Zusammenfassung auf Deutsch

*Korrektur 6.6.2017: In der ursprünglichen Fassung des Beitrags fand sich die Formulierung, dass Ibrance für Frauen zugelassen ist, „für die keine Chemotherapie, Strahlentherapie oder eine weitere Operation in Frage kommen“. Um es noch präziser zu formulieren, haben wir den Zusatz „auf Heilung zielende weitere Operation, Strahlentherapie oder Chemotherapie“ ergänzt.

Video: Florian Farken