Flug MH17

Bundesregierung hätte vor Gefahr für Passagiermaschinen warnen müssen

von David Schraven

© Anastasia Vlasova

Das Bundesministerium für Verteidigung hat es nach unseren Recherchen versäumt, zivile Fluggesellschaften rechtzeitig vor Gefahren beim Überfliegen der Ostukraine zu warnen. Bereits im Juni 2014, rund einen Monat vor dem Abschuss des Passagierjets MH17, war Militärexperten der Nato bekannt, dass russische Flugabwehrraketen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Seiten der Separatisten im Einsatz waren. Es war den Militärexperten klar, dass diese Flugabwehrraketen Zivilflugzeuge treffen konnten. Dieses Wissen hätte Grundlage für Warnungen der Bundesregierung sein müssen.

Das Bundesverteidigungsministerium weist diese Darstellung genauso wie das Bundeskanzleramt zurück und verweist auf eine Stellungnahme vom August 2014. Darin heißt es zum Abschuss von MH17: „Die Bundesregierung konnte nicht davon ausgehen, dass der zivile Flugverkehr in der betreffenden Flughöhe Ziel von Angriffen sein würde.“

Unterdessen hat die Niederländische Regierung in einer Antwort an das dortige Parlament eingestanden, das den Behörden und dem Kabinett klar gewesen sei, dass der Luftraum über der Ostukraine gefährdet gewesen sei. Dies sei dem Kabinett „allgemein bekannt“ gewesen, heißt es in dem Papier. Dennoch seien die Luftfahrtgesellschaften nicht gewarnt worden. Man habe sich auf Information der ukrainischen Autoritäten verlassen, nach denen der Flugraum oberhalb 9,75 km sicher gewesen sei.

Das malayische Passagierflugzeug MH17 wurde am 17. Juli 2014 nördlich der ostukrainischen Stadt Snizhne abgeschossen, alle 298 Insassen starben. Nach Erkenntnissen des gemeinnützigen Recherchebüros CORRECTIV hätte das Bundesverteidigungsministerium ab dem 14. Juni, gut einen Monat vor der Tragödie, von der tödlichen Gefahr wissen müssen, die der zivilen Luftfahrt über der Ostukraine drohte.

Am 14. Juni veröffentlichte die Nato Fotos von russischen Panzern in der Stadt Snizhne. Nach russischer – und westlicher – Militärdoktrin bewegen sich Panzereinheiten im Feindgebiet nie ohne mobile Flugabwehrsysteme. Russische Panzereinheiten werden von BUK-Lenkwaffen geschützt, die mühelos Flugzeuge in 15 Kilometern Höhe abschießen können. Dies bestätigten uns mehrere Nato-Luftkriegsexperten und BUK-Offiziere aus den ehemaligen Ostblockstaaten.

Zwischen Mitte Juni und Mitte Juli tobte über der Ostukraine ein Kampf zwischen ukrainischen Luftstreitkräften und russischen Panzern und Flugabwehrraketen. Die ukrainische Luftstreitkräfte verloren in dieser Zeit mehr als neun Flugzeuge und Hubschrauber. Dieser Kampf war der Nato bekannt. Es war damit klar, dass Waffen zum Einsatz kamen, die Passagierjets abschiessen konnten. Bislang hieß es in Berichten etwa der Süddeutschen Zeitung lediglich, dass die ukranische Regierung spätestens nach dem Abschuss einer Antonov in großer Höhe den Luftraum über der Ostukraine hätte schließen müssen. Doch auch die Bundesregierung hätte bereits Wochen vorher auf Basis der Nato-Kenntnisse Warnungen vor dem Überflug aussprechen müssen.

Dennoch unternahm Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen nichts, um die Lufthansa und andere Fluggesellschaften vor dieser Gefahr zu warnen. Die taktische Grundregel, das Panzer von einer mobilen Luftabwehr geschützt werden, wurde auch aus Bundeswehrkreisen mehrfach bestätigt. Dennoch beharrt die Bundesregierung darauf, sie habe nicht davon ausgehen können, dass der zivile Luftverkehr in der betreffenden Flughöhe Ziel von Angriffen sein würde, sagte ein Regierungssprecher.

Die Lufthansa gab an, nichts von den Gefahren durch weit reichende Flugabwehrraketen zu wissen. Sie führe zwar eigene Sicherheitsanalysen durch, verweist aber darauf, dass ihnen wesentliche „militärische und geheimdienstliche Informationen“ nicht zur Verfügung stünden. „Die Verantwortung für die Freigabe und die Schließung von Luftstraßen liegt bei den Staaten“, so ein Sprecher.

Ehemalige Kampfpiloten der Nato-Staaten erklärten gegenüber CORRECTIV, dass die Gefahren für die zivile Luftfahrt über der Ostukraine mehr als offensichtlich waren. In einer solchen Kriegslage dürften Passagierflugzeuge auf keinen Fall das Kampfgebiet überfliegen. „Piloten müssen im Panzerkrieg die feindliche Luftabwehr fürchten“, sagte etwa der ehemalige niederländische Kampfflieger Harry Horlings. Die Luftabwehrraketen können jederzeit auch Ziviljets treffen.

CORRECTIV hat in Kooperation mit dem Spiegel und dem Algemeen Daagblad monatelang die komplizierte Wahrheit hinter dem Abschuss von Flug MH17 recherchiert. Die ganze Geschichte gibt es unter mh17.correctiv.org.