In eigener Sache

#ÖZGÜRÜZ hat Geburtstag

Heute vor einem Jahr gründeten wir mit Can Dündar unsere türkischsprachige Redaktion #ÖZGÜRÜZ. Ein auch persönlicher Rückblick auf Pläne und Pannen, Tränen und Wut, unangemeldete Besucher und freundliche Polizisten.

von David Schraven , Frederik Richter

Can und David (von rechts) und Kollegen in der gemeinsamen Redaktion in Berlin.© Ivo Mayr

Im vergangenen Jahr hatten wir jeden Morgen, wenn wir die Tür zur Berliner CORRECTIV-Redaktion aufschlossen, zwei Wünsche.

Hinter dieser Tür arbeiteten Dokumentarfilmer, Theatermacher, Fotografen und Journalisten: eine laute, chaotische, liebenswerte Truppe. Sie liefen hin und her, schimpften über die Technik, berichteten live von Straßenprotesten, vergossen Tränen, standen in unserem Fernsehstudio und schrien in die Kameras, als führten sie ein Theaterstück auf.

Zwei Mal am Tag mussten wir ganz leise sein, wenn die Aufnahmen liefen.

Jeden Morgen, wenn wir die Tür aufschlossen, wünschten wir uns, dass sie noch da wären.

Und jeden Morgen wünschten wir uns, dass sie nicht mehr da wären. 

Wir wünschten uns, dass die Redaktion hinter der Tür wieder leer und leise sein würde: dass die Kollegen wieder zurück gekonnt hätten in das Land, aus dem sie fliehen mussten.

Flucht nach Berlin

Nach dem gescheiterten Putschversuch ging der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2016 mit aller Härte gegen seine Gegner vor, echte und vermeintliche. Er nutzte die Gunst der Stunde, um seine Macht in einem Referendum zu zementieren. Wer nicht für Erdoğan war, war gegen ihn. Eine Unterdrückungswelle ging wie ein Tsunami über die türkischen Medien nieder. Etliche Reporter flohen nach Deutschland. Etliche nach Berlin.  

Einer von ihnen war Can Dündar, der Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“. Als wir ihn trafen, beschlossen wir rasch, eine gemeinsame Redaktion zu gründen. Damit Can und seine geflohenen Kollegen einfach weiter arbeiten können. Damit die türkische Gesellschaft weiter Zugang zu unabhängigem Journalismus hat. Damit die Propaganda der türkischen Regierungspartei AKP nicht unwidersprochen bleibt, die auch auf die türkischstämmige Gemeinschaft in Deutschland zielt.

Wir nannten das Projekt #ÖZGÜRÜZ: Wir sind frei.

Und wir machten uns an die Arbeit: bauten unser TV-Studio um, richteten eine Webseite ein sowie ein Bezahlsystem und eine Datenbank für die Verwaltung von Fördermitgliedern für #ÖZGÜRÜZ. Unsere Programmierer rätselten, wie man all das auf Türkisch macht.

Eine kleine, große Redaktion

Am 24. Januar 2017 legten wir los. Dieser Tag ist etwas besonderes.

An diesem Tag wurde im Jahr 1993 der türkische Investigativ-Journalist Uğur Mumcu ermordet. Er recherchierte zu Korruption, Waffenschmuggel und Islamismus. Er schrieb für „Cumhuriyet“. Seine Mörder wurden nie gefasst.

Unsere türkischen Kollegen interviewten aus unserem Studio heraus Experten, analysierten Entwicklungen in Politik und Wirtschaft der Türkei, schalteten live zu Gerichtsverhandlungen und Protesten. In Deutschland, in der Türkei.

Unsere Redaktion platzte damals – in der Zeit vor dem Referendum in der Türkei – aus allen Nähten. Ein kleines Büro, überschaubare Technik und vor allem nie genug Reporter und Entwickler. CORRECTIV fühlt sich manchmal an wie die kleinste Redaktion Deutschlands. Doch in jenen Monaten auch ganz groß: wie hätten wir die Kolleginnen und Kollegen nicht bei uns aufnehmen können?

Geld für drei Wochen

Heute, ist der erste Geburtstag von #ÖZGÜRÜZ. Wir haben etwas außergewöhnliches geschafft. Wir haben überlebt – und sind stabiler geworden. Mittlerweile haben wir ein halbes dutzend Reporter, die aus der Türkei berichten. Dazu Can Dündar und sein Team in Berlin.

Lange Zeit sah es nicht so gut aus. Fast nichts von dem, was wir von CORRECTIV kannten und auf #ÖZGÜRÜZ übertragen wollten, funktionierte. Die Webseite wurde in der Türkei schon zensiert, bevor sie überhaupt veröffentlicht war. Es gibt in Deutschland keinen Vertrieb für türkischsprachige Medien, den wir zur Verbreitung unserer Nachrichten hätten nutzen können.

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Bei der gemeinsamen Arbeit in der Redaktion.

Ivo Mayr

Außerdem konnten wir in der Türkei anders als geplant keine Fördermitglieder gewinnen, weil Banküberweisungen aus dem Land schwierig sind. Und weil sich Unterstützer einer Redaktion, die von einem zum Landesverräter erklärten Journalisten geleitet wird, in große Gefahr begeben.

Von Anfang an war die Finanzierung des Projektes gefährdet: beim Start hatten wir Geld für knapp drei Wochen. Doch wir wollten alles versuchen, um #ÖZGÜRÜZ überleben zu lassen. Immer wieder fanden wir Freunde, die uns großzügig halfen und uns weiteren Atem verliehen.

Im Visier

Doch nicht das Geld alleine war und ist ein Problem. Viele Menschen haben Angst davor, in der Nähe von Can Dündar zu sein, zu arbeiten – und damit ins Visier der türkischen Geheimdienste zu geraten.

Für uns war es schwierig, Mitarbeiter für #ÖZGÜRÜZ zu finden. In der Türkei – wie in Berlin. Nur mit viel Mühe bekamen wir eine Gruppe zusammen: Exil-Journalisten, Studenten, engagierte Menschen.

Natürlich kam es zu Konflikten. Zwei Mal kündigten Mitarbeiter, indem sie einfach aus der Redaktion rannten.

Es war hart.

Da war der Stress der Startphase. Da war die politische Herausforderung, sich beim Referendum gegen die Einführung einer Präsidialdiktatur zu stemmen. Da waren die vielen heftigen Lebensumbrüche bei einem Start in einem fremden Land. Die Verwandten, die zurückgelassenen Frauen, Männer – und Kinder. Kulturen prallten aufeinander. Es ging um die nackte Existenz – und um die komplizierte deutsche Welt mit vielen, kaum zu verstehenden Regeln.

Ungebetene Besucher

Aber all diese Rückschläge ließen uns nicht scheitern. Wir halfen einander, wo wir konnten: wir trieben Förderer auf, wir teilten unsere Ausrüstung, unsere Autos, unsere Büros.

Und wir vertrieben ungebetene Besucher. Eines Tages tauchte das Team eines Erdoğan-treuen Fernsehsenders vor der Redaktion auf. In ihrem einige Tage später ausgestrahlten Bericht beschrieben sie genau, wo unsere Redaktion zu finden ist und von wann bis wann Can anwesend sei. Die Schnitte erinnerten an Explosionen.  

Der Film erscheint wie eine Gebrauchsanweisung zur Gewalt. Hier lohnt es sich zu bomben. Frederik ging raus, um mit den Journalisten und einem dazu gerufenen Polizisten zu reden. Sie filmten weiter und in dem Bericht ist Frederik mit einem roten Pfeil als angeblicher „Assistent Can Dündar“ an den Pranger gestellt.

Einem Kollegen zu helfen, der sein Land verlassen musste: das ist für uns kein Pranger. Das ist unsere Arbeit.

Heute klingelt alle zwei Stunden ein freundlicher Beamter der Berliner Polizei bei uns und fragt, ob es uns noch gibt.

Endlich Stabilität

All dies macht klar, warum sich das Projekt #ÖZGÜRÜZ in seinen ersten zwölf Monaten ständig verändert hat. Warum es sich erneuerte und wie es wuchs.

Heute feiern wir das Leben. Wir sind frei.

#ÖZGÜRÜZ hat eine stabile Form gefunden: Wir geben zum zweiten Mal ein Magazin heraus. #ÖZGÜRÜZ gedruckt.

Und wir haben ein halbes Dutzend Reporterinnen und Reporter, die aus mehreren Städten der Türkei berichten. Ungebrochen. Mehrmals täglich senden wir über die Streaming-App Periscope. Wir berichten über Demonstrationen und Gerichtsprozesse, sprechen mit den Angehörigen von Verhafteten, berichten über Themen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt.

Einfach Journalismus

Ein paar Eindrücke:

Ein Verhafteter berichtete live aus dem Gefangenenwagen, in dem er bei Protesten gesperrt und abtransportiert wurde.

Vor ein paar Tagen war #ÖZGÜRÜZ als einziges Medium live dabei, als die Büros der kurdischen Oppositionspartei DHP durchsucht wurden.

Wir ließen die Verwandten eines türkischen Soldaten zu Wort kommen, der von IS-Terroristen in Syrien bestialisch ermordet wurde – und dessen Schicksal Erdoğans Regierung vertuschen wollte.

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ÖZGÜRÜZ-Reporterin Zubeyde Sarı führt ein Interview.

Onur Ünlü

Gemeinsam enthüllten wir die Pläne für eine neue Panzerfabrik in der Türkei, von der die deutsche Politik nichts wissen will. Mit deutscher Hilfe geplant ist das genau ihr Ziel: mit eigener Produktion unabhängig von deutschen Exportgenehmigungen zu werden. Damit es keinen Aufschrei gibt, wenn die türkische Armee in Zukunft noch einmal eine kurdische Enklave in Nordsyrien angreift, und dabei Kampfpanzer aus deutscher Fertigung einsetzt.

Auch in der Türkei gibt es Proteste gegen den Krieg. Sie sind verboten und #ÖZGÜRÜZ berichtete live – vor Ort.

Aus der Türkei – für die Türkei.

Unser Journalismus ist genau jener, normaler Journalismus, der in der Türkei selten geworden ist.

Wir schmieden Pläne

Unsere Berichte haben im vergangenen Jahr über 20 Millionen Menschen in der Türkei gesehen. Kaum jemand ist so erfolgreich über soziale Medien wie #ÖZGÜRÜZ.

Am ersten Geburstag von #ÖZGÜRÜZ planen wir, wie wir die Berichterstattung ausbauen können: wir wollen nicht nur tagesaktuell berichten, wir wollen investigativer arbeiten. Wir wollen zusätzliche Reporter in weiteren türkischen Städten einstellen. Wir wollen die Webseite in der Türkei sichtbarer machen – sie ist immer noch blockiert.

Wir wollen das Magazin weiter verbreiten und unsere beiden Redaktionen, CORRECTIV und #ÖZGÜRÜZ, besser miteinander verknüpfen. Wir wollen auch im Ausland weitere Reporter einstellen – die Berichte des #ÖZGÜRÜZ-Korrespondenten in Washington zählen zu den meistgesehenen der Berichterstattung.

Für Can Dündar, für uns alle, ist die Angst um die Sicherheit unserer Reporterinnen und Reporter in der Türkei ein ständiger Begleiter. Bei der Einnahme von Kirkuk durch die irakische Armee konnte er unseren Reporter dort tagelang nicht erreichen. Und ständig wartet er auf den Anruf, der ihm über die Verhaftung eines der #ÖZGÜRÜZ-Reporter informiert.

Unterstützen Sie die Arbeit von #ÖZGÜRÜZ als Fördermitglied. Wir streiten für unabhängigen Journalismus in der Türkei:

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