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Warum NRW so ein großes Problem mit seinen Grundschulen hat

In Nordrhein-Westfalen wird so wenig für Grundschulkinder ausgegeben wie in keinem anderen Bundesland. Morgen stellt die Landesregierung ihre aktuellen Prognosen vor. Die Gewerkschaften haben eine ganze Reihe Forderungen an die Landesregierung.

von Daniel Drepper

© DSCF0452 von fileccia unter CC BY-NC-2.0

[Update, 19. August: Hier findet Ihr das Pressematerial aus der Schuljahresauftaktpressekonferenz des Schulministeriums NRW.]



Sprechzettel Sylvia Löhrmann: Vielfalt und Verlässlichkeit sind die Markenzeichen unserer Schulpolitik (86,9 KB)



Entwicklung der Schülerzahlen (1,1 MB)


Rixa Borns ist seit mehr als 40 Jahren Lehrerin in NRW, mehr als 20 Jahre Schulleiterin. Sie hat im Ruhrgebiet gearbeitet, im Kreis Recklinghausen, und leitet jetzt die Matthias-Claudius-Schule in Münster. Eine Woche vor Ferienende ist sie längst wieder voll eingeplant. Schulbücher abrechnen, neue Kinder aufnehmen, mit dem Sozialarbeiter über die Flüchtlinge sprechen, die Schulserver warten lassen, den Stundenplan machen, Einladungen zu Konferenzen und Vorträge bearbeiten – und der Mann vom Hochbauamt ist wegen der neuen Lärm dämpfenden Decken da. Auch das Telefonat mit correctiv.ruhr verschiebt Borns erst und muss dann unterbrechen. Da wundert es kaum, dass es derzeit kaum Kollegen gibt, die noch als Schulleitung arbeiten wollen.

Knapp 2800 Grundschulen gibt es in NRW. Jede achte Schule hatte, Stand vergangener Herbst, keinen Schulleiter. Und sogar jede dritte Schule keinen Vertreter. Das liegt auch daran, dass die Aufgaben wachsen, der Job aber kaum attraktiver wird. Mehr Ganztag, mehr außerschulische Partner, mehr Qualitätsanalysen, mehr Budget- und Personalverantwortung, dazu die Inklusion. 

Niemand will es machen

„Seit Jahren finden wir nicht mehr genug Lehrerinnen, die eine Schulleitung übernehmen wollen“, sagt Rixa Borns „Und in den kommenden Jahren geht eine ganze Generation Schulleiter raus.“ Borns engagiert sich bei der Bildungsgewerkschaft GEW NRW für die Grundschulen und tauscht sich regelmäßig mit vielen anderen Leitungskräften aus. 

Schulleitungen sind längst nicht mehr einfache Lehrkräfte mit ein paar Leitungsaufgaben. Sie sind Führungskräfte mit Personal- und Gestaltungsverantwortung. Das stellte eine vom Schulministerium einberufene Projektgruppe im Oktober 2015 fest. Die Arbeitsgruppe schlägt auch deshalb vor, Schulleitungen besser zu bezahlen, sie besser fortzubilden, für ausnahmslos jede Schule als Entlastung Stellvertreter zu berufen und den Schulleitern mehr Zeit für ihre Führungsaufgaben zu geben. Außerdem sollen Grundschulen mehr Sekretärinnen und Hausmeister bekommen. Bisher erledigen vor allem an kleineren Schulen die Lehrer diese Aufgaben noch nebenher mit.

Nina Golombek vom Schulministerium schreibt, dass die Landesregierung seit 2011 rund 62 Millionen Euro in 1227 Lehrerstellen investiert habe, um die Schulleiter zu entlasten.

„Das Land hat zwar zusätzliche Entlastungen finanziert, das reicht aber nicht für die vielen zusätzlichen Aufgaben“, sagt Borns. Sie und ihre Kolleginnen drängen weiter darauf, dass sich die Situation bessert. Ein Beispiel sind die Konrektoren. Als stellvertretende Leiter verdienen sie teilweise weniger, als Lehrer, die von Förderschulen an Grundschulen gewechselt sind. „Wo gibt es das schon, dass die Führungskräfte weniger verdienen als ihre Mitarbeiter?“

Die Oppositionsparteien von CDU und FDP haben die Kritik längst aufgegriffen und in den vergangenen Monaten verschiedene Forderungen an die Landesregierung gestellt.

Zwei Drittel der Stellen ohne Bewerbung

Aber nicht nur Schulleiter fehlen, auch normale Lehrer. Knapp 40.000 Grundschullehrer arbeiten in NRW, im vergangenen Jahr konnte die Landesregierung zum Schuljahresbeginn 107 Stellen nicht besetzen. Zum ersten Mal seit Jahren fehlte damit eine beachtenswerte Zahl Lehrer an den Grundschulen in NRW. Am morgigen Freitag, 19. August, stellt das Schulministerium seine Zahlen für das neue Schuljahr vor. 

Vermutlich fallen die Zahlen für das neue Schuljahr noch schlechter aus. Schon im Juni warnte die Bildungsgewerkschaft GEW, dass allein im Bezirk Düsseldorf in der ersten Einstellungsrunde 260 der 443 Stellen nicht besetzt werden konnten. Bei den Sonderschulkräften hätte es für zwei Drittel der Stellen keine Bewerbungen gegeben. 

Auch Rixa Borns hat von unbesetzten Stellen gehört. Allein Duisburg seien zu Ferienbeginn noch 100 Stellen offen gewesen. „Viele meiner Kollegen wissen nicht, mit welchen Kollegen sie kommenden Mittwoch starten werden.“ Das Ministerium habe über die Ferien zwar versucht, die offenen Stellen zu füllen, dafür fehlten nun aber die Vertretungslehrer. Wenn jetzt Kollegen ausfallen, trifft es die Schulen direkt. „Zwei meiner Lehrerinnen gehen in wenigen Wochen in den Mutterschutz“, sagt Borns. „Ich weiß noch nicht, ob ich für die beiden dann Ersatz bekomme.“ Die ständigen Wechsel würden natürlich auch die Eltern verunsichern.

Im Zweifelsfall kommt die Abordnung

Bei besonders großen Engpässen versetzt das Schulministerium mittlerweile Lehrer zwangsweise an bestimmte Schulen, um den Unterricht aufrecht zu erhalten. „Ziel ist, dass an allen Schulen genügend Lehrkräfte sind, um einen geregelten Unterricht sicherzustellen. Im Zweifelsfall muss mit Abordnungen gearbeitet werden“, schreibt Nina Golombek aus der Pressestelle des Schulministeriums NRW.

Alles deutet daraufhin, dass in NRW im kommende Woche beginnenden Schuljahr trotzdem zahlreiche Grundschullehrer fehlen werden. Das wäre nur logisch, ist NRW doch das Bundesland, das mit Abstand am wenigsten Geld in seine Grundschulen investiert. Dies geht aus einem Gutachten des Grundschulverbandes von Mitte Juli 2016 hervor. 4800 Euro pro Grundschüler und Schuljahr, kein anderes Bundesland investiert so wenig Geld. Bei Spitzenreiter Hamburg sind es sogar 8700 Euro.

NRW hat zudem die größten Klassen im Bundesgebiet. Laut statistischem Bundesamt besuchen in Grundschule und Sekundarstufe I im Schnitt mehr als 23 Kinder eine Klasse. In anderen Bundesländern sind es zum Teil nur 19 Schüler. Und die Grundschulen sind in NRW – nach den Realschulen – die Schulen mit den zweitmeisten Schülern pro Lehrer

Die Landesregierung arbeitet seit dem Jahr 2012 daran, die Klassengröße zu verringern und stellt dafür neue Lehrer ein. Eigentlich sollte die Klassengröße im vergangenen Schuljahr durchschnittlich auf 22,5 gesunken sein.

Extrem selektives Schulsystem

Wer in Deutschland arm geboren wird, bleibt arm. In kaum einem anderen westlichen Land ist es so schwer, gesellschaftlich aufzusteigen. Das liegt auch an mangelnder Bildung und Erziehung von Kindern. „Das Schulsystem in Deutschland ist extrem selektiv“, sagt Michael Schulte, Geschäftsführer der NRW-Bildungsgewerkschaft GEW. „Wir wissen seit mehr als zehn Jahren: Das ist das dringendste sozialpolitische Problem.“ Trotzdem passiert erstaunlich wenig.

Dass jetzt in NRW so viele Lehrer fehlen, liegt auch daran, dass die Landesregierung zuletzt für die Integration von Flüchtlingen sogenannte Willkommensklassen eingerichtet und zusätzliche Stellen geschaffen hat. Eigentlich eine gute Sache. Die zusätzlichen Stellen kann sie nun nur leider nicht besetzen, da zu wenige Lehrer mit ihren Referendariaten fertig werden.

Eine Ursache für den Lehrermangel ist auch ein Rückgang der Masterabsolventen durch die Umstellung des Lehramtsstudiums. Die Zahl der Referendare habe sich halbiert, schreibt die Gewerkschaft GEW. Weitere Gründe seien Zulassungsbeschränkungen zum Studium, zu wenige Studienplätze und teils extreme Anforderungen an das Lehramt Grundschule – sowie die schlechtere Bezahlung als bei anderen Lehrämtern.

Nun arbeiten immer mehr nicht pädagogisch ausgebildete Menschen in den Grundschulen in NRW. So sollen für Ganztagsschulen offenbar vermehrt Eltern und Sozialarbeiter eingesetzt werden. Die Quereinsteiger müssten von den ausgebildeten Lehrkräften dann allerdings mit betreut werden. Udo Beckmann, Landesvorsitzender der zweiten Bildungsgewerkschaft VBE, befürchtet zusätzliche Belastungen. Ein Ende dieser Lehrerknappheit ist vorerst nicht abzusehen. „Wenn jetzt neue Studenten anfangen, sind die in sechs bis sieben Jahren fertig“, sagt Beckmann. „Das ist ein Desaster.“

Inklusion, aber nicht genug Personal dafür

Die Bildungsgewerkschaften GEW und VBE kritisieren, dass die Belastung für die Lehrer in den vergangenen Jahren stark gestiegen sei. Mittlerweile müssen alle Schulen in Nordrhein-Westfalen Kinder mit Förderbedarf aufnehmen. Inklusion. Grundsätzlich eine gute Idee, doch einen Antrag auf zusätzlichen Förderbedarf können die Grundschullehrer erst nach zwei Jahren stellen. Bis dahin müssen sie selbst dafür sorgen, dass auch Kinder mit Lernmängeln ausreichend versorgt sind. „Eigentlich ist jetzt jede Schule in NRW eine inklusive Grundschule. Jede Klasse sollte einen Sonderpädagogen haben. Das ist bei Weitem nicht der Fall“, sagt Udo Beckmann von der VBE. Die gut 9000 Sozialarbeiter reichten längst nicht für jede Klasse. Ein massives Problem, sagen die Gewerkschaften, eine Verwaltung des Mangels. 

Insgesamt halten die Gewerkschaften Grundschullehrer für zu schlecht bezahlt. Bislang bekommen Grundschullehrer für die gleiche Arbeit mehrere Hundert Euro weniger pro Monat als ihre Kollegen an den weiterführenden Schulen. Zwei Gutachten von Verfassungsrechtlern hatten 2011 und 2015 festgestellt, dass dies nicht rechtens ist. Geändert hat sich bisher nichts. Nina Golombek vom Schulministerium verweist auf ein abweichendes Gutachten für den Philologenverband, „das keinen Automatismus zwischen gleich langer Ausbildung und gleicher Bezahlung postuliert.“ Zudem könne das Schulministerium nicht alleine entscheiden, die Gehälter zu erhöhen – davon seien auch andere Ministerien mitbetroffen.

Rixa Borns sieht die Entwicklung mit Sorge. „Wir haben an den Grundschulen eine immer höhere Belastung, aber kaum Entlastung.“ Lehrer können für besondere Aufgaben nicht freigestellt werden und müssen diese neben der eigentlichen Arbeit erledigen. Oft ist nur Geld für eine Sekretärin, die ein oder zwei Mal in der Woche für wenige Stunden kommt. Viele Aufgaben bleiben an Grundschullehrern zusätzlich hängen, die Kollegen in weiterführenden Schulen nicht machen müssen. Dass der Beruf wenig attraktiv erscheint, wundert die Gewerkschaften nicht. Sie hoffen, dass sich die Situation bald ändert.


*Zwei Zitate von Rixa Borns haben wir im Anschluss an die Veröffentlichung wegen eines Missverständnisses leicht angepasst.