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Not mit Ansage

Im NRW wächst der Bedarf nach Wohnraum. Trotz großer Leerstände fehlen Neubauten und Sozialwohnungen. Auch im Ruhrgebiet wird zu wenig gebaut und renoviert. Vor allem untere Einkommensgruppen leiden. Futter für Populisten.

von Stefan Laurin

© Ivo Mayr / Correctiv

Lange war das Ruhrgebiet eine Insel der Seeligen. Während in Köln, Düsseldorf oder Münster die Mieten kletterten und Wohnungen ein immer knapperes Gut wurden, war der Wohnungsmarkt in Essen, Bochum und Dortmund entspannt. Tausende Wohnungen standen leer. In Duisburg, im Stadtteil Bruckhausen, wurden ganze Straßenzüge abgerissen. Einfach so. Man brauchte die Häuser nicht.

Das Ruhrgebiet sollte geplant schrumpfen, meinten Stadtplaner wie Volker Eichener. Selbst in beliebten Lagen wie dem Bochumer Ehrenfeld gab es Wohnungen für einen Mietpreis von fünf Euro pro Quadratmeter. Und wer in Dortmund eine neue Bleibe suchte, hatte noch vor drei Jahren innerhalb weniger Tage etliche Angebote zur Auswahl.

Vorbei.

Prognosen lagen reihenweise daneben

Auch im Ruhrgebiet steigen die Einwohnerzahlen. Prognosen, die der Region ein radikales Schrumpfen voraus gesagt hatten, erwiesen sich als falsch. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaft (RWI) aus Essen sagte etwa 2001 vorher, dass Dortmund im Jahr 2015 rund 530.000 Einwohner haben werde, Essen 526.000 Einwohner und Duisburg 490.000 Einwohner. Bis auf Duisburg, wo zur Zeit tatsächlich 487.000 Menschen wohnen, lag das RWI daneben. Essen und Dortmund lagen im vergangenen Jahr jeweils rund 50.000 Einwohner über der Prognose.

Jetzt werden auch im Ruhrgebiet Wohnungen knapp. Am stärksten betroffen sind jene, die darauf angewiesen sind, eine preiswerte Wohnung zu finden. Selbst schlichte Wohnungen in schlechten Lagen sind nun begehrt.

Knappheit führt zu Wucher

Immer wieder kommt es zu Mietwucher. Der WDR berichtete von einem Wohnhaus in Hagen-Wehringhausen, Eugen-Richter-Straße: Dort vermietet ein früherer Opernsänger aus Baden-Baden Wohnungen. Die Immobilie verfiel. Der Vermieter ließ sie vergammeln. Zunächst wollte niemand mehr dort wohnen. Doch dann kamen Bulgaren und Rumänen, die im Zuge der Europäischen Niederlassungsfreiheit für Arbeitnehmer nach Deutschland gekommen sind. Im Haus in Hagen-Wehringhausen wohnen derzeit 20 Erwachsene und 30 Kinder — zum Teil in Zimmern ohne Strom. Der Vermieter kassiert trotzdem 4,20 Euro pro Quadratmeter kalt, der aktuelle Mietspiegel liegt bei 4,25 Euro. Der Vermieter kassiert also für eine Bruchbude den ortsüblichen Tarif einer normalen Wohnung. Und hält sich schadlos: im Mietvertrag schließt er ausdrücklich aus, dass die Miete wegen Mängeln gekürzt werden könnte. Ähnliche Beispiele lassen sich heute in Gelsenkirchen, Duisburg und Dortmund finden. Überall im Revier.

Noch enger wird es bei den Sozialwohnungen, die bei günstigen Mieten einen gewissen Standard bieten. Sie sind längst Mangelware geworden. Allein in Bochum ist die Zahl der Sozialwohnungen in den vergangenen 15 Jahren um über 50 Prozent auf knapp 14.000 Wohnungen gesunken. Viele geförderte Wohnungen fielen aus der Sozialbindung, neue wurden kaum gebaut.

Und daran hat sich auch angesichts der Zuwanderung durch Flüchtlinge oder durch Migranten aus der Europäischen Union nicht viel geändert.

Kaum Sozialbauten

Zum Beispiel Mülheim: Im Jahr 2014 war unter den genehmigten 272 Wohnungsneubauten keine einzige Sozialwohnung. Im Jahr 2015 war es bei 86 genehmigten Wohnungsneubauten nicht anders: keine einzige Sozialwohnung. In diesem Jahr sollen in Mülheim immerhin 11 Sozialwohnungen entstehen. Bei insgesamt 268 neu genehmigten Wohnungsbauten.

In Bottrop entstanden wenigstens in den vergangenen Jahren immer wieder neue Sozialwohnungen. 2014 etwa 38 Sozialwohnungen, im Jahr 2015 waren es 94. Allerdings wurde in Bottrop im ersten Halbjahr 2016 keine einzige Sozialwohnung genehmigt.

Aus dem Rahmen fällt Essen. Die Stadt Essen erfasst zwar nicht die Zahl der erteilten Baugenehmigungen, verfügt dafür aber über Zahlen zu geförderten Wohnungen. Im Jahr 2010 waren das 91 Wohnungen und im Jahr 2014 immerhin 171. Im Jahr 2015 änderte sich dann das Bild so radikal wie in keiner anderen Stadt im Ruhrgebiet. In Essen wurden 858 Sozialwohnungen neu genehmigt. Allerdings floss nur ein geringer Teil in den Neubau von Sozialwohnungen (48 Einheiten). Der Großteil des Geldes ging in Bestandswohnungen, die nach der Renovierung als Sozialwohnungen zu Verfügung gestellt wurden. Eine Praxis, die in anderen Städten kaum vorkommt. In Essen engagierte sich vor allem das städtische Wohnungsbauunternehmen Allbau in diesem Bereich. Leider werden die Investitionen nun wieder zurückgehen, teilte das Unternehmen mit. Die Allbau müsse einen größeren Teil ihres Gewinnes an die Stadt abführen. Essen braucht Geld.

Auch am Rhein wenig Bewegung

Köln ist nach Düsseldorf die Stadt mit den höchsten Mieten in Nordrhein-Westfalen. Einen entspannten Wohnungsmarkt wie im Ruhrgebiet gab es hier nie. Die Stadt boomt, und selbst die einst unbeliebten Stadtteile auf der „falschen“ Rheinseite wie Mülheim oder Kalk werden immer beliebter. Wer knapp bei Kasse ist, hat es auf dem freien Wohnungsmarkt in Köln immer schwerer. 609 Sozialwohnungen wurden im Jahr 2014 in Köln genehmigt, neun Jahre zuvor waren es 607 Sozialwohnungen. Dazwischen liegen Jahre wie 2009, in denen 897 Sozialwohnungen genehmigt wurden. Oder das Jahr 2012, in dem nur 210 Sozialwohnungen entstanden.

Die Politik hat das Problem erkannt. Das Land NRW hat die Zuschüsse für den sozialen Wohnungsbau erhöht – um 90 Millionen Euro, die der Bund zur Verfügung stellt. Das Ziel ist es, den sozialen Wohnungsbau für Investoren so attraktiv zu machen, wie den Bau nicht preisgebundener Wohnungen. Köln will genauso wie Dortmund oder Bochum die Anzahl der Sozialwohnungen erhöhen.

Allerdings dauert es lange, bis die neuen billigen Wohnungen zur Verfügung stehen. Wenn in den nächsten Monaten immer mehr Flüchtlinge beginnen werden, sich Wohnungen zu suchen, wird es gerade bei den preiswerten Wohnungen eng. „Sie werden sich auf die Viertel konzentrieren, in denen es heute schon soziale Spannungen gibt und in denen viele Menschen leben, die keine Arbeit haben, die in schlechten Wohnung wohnen und deren Kinder auf Schulen gehen, die weder von der Ausstattung noch von der Unterrichtsqualtität her mit den Schulen in den Stadtteilen zu vergleichen sind“, sagt der Berliner Stadtplaner Arnold Voß. Es sind Viertel wie Essen-Karnap, Hochhaussiedlungen wie Kölnberg bei Köln oder die Dortmunder Nordstadt. „Wer verhindern will, dass in diesen Vierteln die Situation eskaliert, muss jetzt alles dafür tun, dort die Wohn- und Lebensqualität zu verbessern“, sagt Voß. „Das geht durch Neubauten, aber auch durch die Sanierung des Bestandes, wenn die Wohnungen danach wieder zu Sozialwohnungen werden.“  

Hausbau entlastet Wohnungsmarkt

Doch nicht nur der Bau von Sozialwohnungen ist für das Angebot an preiswerten Wohnungen entscheidend. In fast allen Ruhrgebietsstädten gibt es immer noch erhebliche Leerstände – in Gelsenkirchen und Duisburg sind es mehrere tausend Wohnungen. Doch viele sind in einem erbärmlichen  Zustand, oft sind die Besitzverhältnisse nicht klar, streiten sich Erbengemeinschaften oder die Bausubstanz ist so verrottet, dass sie erst nach erheblichen Investitionen wieder marktfähig werden könnte. So wurde ein ehemaliges Bruchhaus in der Dortmunder Nordstadt gerade erst mit einem Aufwand von über eine halben Million Euro von dem Unternehmen J.E. Schmitt Grundstücksgesellschaft saniert.

Investitionen, die sich angesichts der niedrigen Mieten in vielen Lagen oft nicht lohnen. Nach einer Studie des Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2011 erwirtschaften Immobilienbesitzer im Durchschnitt eine Rendite von drei Prozent. Nicht viel, wenn es darum geht, Risiken abzufedern. Wer über hunderttausend Euro in eine Immobilie in der Dortmunder Nordstadt oder in Duisburger Quartieren wie Marxloh oder Hochfeld investiert, kann nicht damit rechnen, sie über den normalen Markt wieder herein zu bekommen. Das Immobilienportal Immowelt macht seine Leser darauf aufmerksam, das hohe Renovierungskosten die Gewinne einer Immobilie senken und verweist auf die Risiken von Investitionen in schlechte Lagen.

Lohnender ist da da oft, in den unrenovierten Häusern Matratzenplätze an Zuwanderer aus Bulgarien oder Rumänien zu vermieten, die mit den Gepflogenheiten des deutschen Mietrechts nicht vertraut sind und sich nicht beschweren. Pro Matratze können so bis zu 300 Euro pro Monat eingenommen werden, ergaben Recherchen der ARD. Diese überwohnten Häuser mit ihren schnell wechselnden Bewohnern führen dann oft zu Problemen in den jeweiligen Vierteln und häufig sind es die Stadtverwaltungen, die dann einschreiten und die Vermietungspraxis in den sogenannten „Ekelhäusern“ beenden, wie es vor allem in Dortmund seit Jahren systematisch gemacht wird.

Wichtiger ist die Entlastung des Wohnungsmarktes durch Neubauten, egal ob es sich um Miet- oder Eigentumswohnungen oder selbstgenutzte Einfamilien- oder Reihenhäuser handelt. Wer hierhin umzieht, gibt eine Wohnung frei, die in der Regel üblichen Standards entspricht, aber günstiger ist als der neuen Wohnsitz. Das ist das Ergebnis einer Studie des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschungs- und Beratungsinstituts empirica aus dem Jahr 2016. Der „Sickereffekt“ hat entscheidenden Einfluss darauf, wie viel preiswerter Wohnraum in einer Region zur Verfügung steht.

Neubauten fehlen

Fast im ganzen Ruhrgebiet gibt es einen großen Bedarf an hochwertigen Neubauwohnungen, an Reihenhäusern und an Einfamilienhäusern. Doch fast alle großen Ruhrgebietsstädte sind nicht in der Lage, diesen Bedarf zu befriedigen, stellt der Immobilienkompass 2015 des Wirtschaftsmagazins Capital fest. Neues Bauland wird kaum ausgewiesen. Dortmund schafft es immerhin, attraktive Flächen in der Innenstadt wie einen ehemalige Güterbahnhof oder ein Brauereigelände dem Markt zur Verfügung zu stellen – mit Erfolg. In Essen, wo Bauplätze auch rar sind, steigen die Preise gerade im wohlhabenden Essener Süden. Trotzdem wird nicht so viel gebaut, wie der Markt vertragen könnte. In Bochum wurden nach Meinung der Experten von Capital Neubaugebiete schlicht falsch geplant: In eher schlechten Lagen wie Riemke können nun freistehende Einfamilienhäuser gebaut werden. Gerade hier hätten die Flächen eher für Reihenhäuser genutzt werden können, schreibt Capital.

Die vielen Leerstände im Ruhrgebiet sind die größte Chance, preiswerten Wohnraum für Menschen mit geringem Einkommen zu schaffen. Doch werden diese Häuser viel zu häufig zu Spekulationsobjekten, verfallen oder werden abgerissen. Für Experten wie den ehemaligen NRW-Städtebauminister Christoph Zöpel oder den Kunsthistoriker Roland Günter, der sich seit Jahrzehnten für die neue Nutzung von Altbauten einsetzt, wird damit eine große Chance vergeben, Stadtteile neu zu beleben.

Die Zeit zum Handeln wird knapp. Politisch könnten die Wohnungsprobleme bald schon zum Problem werden. Der Wettbewerb um billige Wohnungen kann von Populisten in deren Kampf gegen Zuwanderer instrumentalisiert werden.