CORRECTIV.Ruhr

Stadt Herne: kein skandalöser Vorfall

Die Massenschlägerei zwischen Jesiden und Libanesen nahe des Herner Wohnblocks an der Emscherstraße sei ein Einzelfall gewesen. Ein Konflikt unter Jugendlichen, erklärte der Herner Oberbürgermeister Frank Dudda während einer Ausschusssitzung am Dienstag. Er warnte davor, den Wohnblock zu stigmatisieren. Dennoch bleiben Fragen offen.

von Felix Huesmann

Der Problemwohnblock an der Emscherstraße.© Huesmann/correctiv.ruhr

Alles nur ein Konflikt unter Jugendlichen? Auf einer Sitzung des Haupt- und Personalausschusses der Stadt Herne haben sich am Dienstag der Oberbürgermeister und der Ordnungsdezernent erstmals ausführlich zur Situation am Problemwohnblock Emscherstraße geäußert. Die Stadt liefert eine neue Interpretation der Geschehnisse, die am Ostersonntag 2016 mit einer Schlägerei zwischen Jesiden und Libanesen und der anschließenden Flucht von sechs Familien einen Höhepunkt erreicht hatte. Was vergangenes Frühjahr genau im Wohnblock an der Emscherstraße passiert ist, bleibt bis heute undurchsichtig.

Am Anfang stand eine Schlägerei auf einem nahegelegenen Bolzplatz. Die Jesiden sagen, sie wurden massiv bedroht, und seien als „Ungläubige“ und „Teufelsanbeter“ beschimpft worden. In das Wohnungsfenster einer jesidischen Familie wurden nach der Schlägerei Steine geschmissen. Letztendlich hatten sechs jesidische Familien, 40 Personen, fluchtartig ihre Wohnungen an der Emscherstraße geräumt und Herne verlassen.

Stadt: weniger Libanesen als behauptet

Die Libanesen sehen das anders: Issam El-Lahib, ein libanesischer Familienvater, mit dem CORRECTIV.Ruhr an der Emscherstraße gesprochen hat, sagt: Die Aggressionen seien von den Jesiden ausgegangen. Nach der Schlägerei habe ein libanesischer Junge einen gebrochenen Arm gehabt. Die Jesiden seien nicht bedroht worden. El-Lahib sagt aber auch: „Normalerweise läuft das so ab, dass ich dich schlagen muss, wenn du mich schlägst. Darum haben wir denen gesagt, geht besser weg.“ Die Libanesen im Wohnblock gehören zu einem großem Familien-Clan, der in 20 Wohnungen verteilt lebt, sagt El-Lahib.

In der gestrigen Ausschusssitzung stellte Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda (SPD) die beschriebenen Zustände im Wohnblock in Frage. Die öffentlich genannten Zahlen der libanesischen Bewohner seien nicht richtig. 811 Personen sind im Wohnblock gemeldet, so Ordnungsdezernent Johannes Chudziak. Die größte Gruppe davon seien deutsche Staatsbürger, gefolgt von Rumänen, Bulgaren, Türken und Syrern. Lediglich 20 Libanesen würden in der Siedlung wohnen. Das, so betonte der Oberbürgermeister nochmal, sei die objektive Faktenlage, auch wenn Anwohner eine andere Einschätzung hätten.

Migrationshintergründe erfasst das Melderegister allerdings nicht. Wie viele der deutschen Staatsangehörigen im Wohnblock libanesische Wurzeln haben, ist deshalb unbekannt. Dudda warnte davor, den Wohnblock zu stigmatisieren. Angeblich sei alles gar nicht so schlimm gewesen und die Jesiden nie in Gefahr.

Streiterei zwischen Jugendlichen

In der Sitzung gab Oberbürgermeister Frank Dudda einen detaillierten und chronologischen Überblick über die Vorgänge aus Sicht der Stadtverwaltung: Am 27. März fand die Schlägerei auf dem Bolzplatz statt. Zwei Tage später, am 29. März habe sich dann der Zentralrat der Jesiden zum ersten Mal an die Stadt gewandt. Der Zentralrat war bereits kurz nach der Auseinandersetzung in Herne, um die jesidischen Bewohner zu unterstützen.

Nach den Schilderungen der Angriffe und Bedrohungen, erklärte Dudda, habe sich die Stadtverwaltung dann am 30. März an die Polizei und den Staatsschutz gewandt. Die Polizei habe sich einen Tag später zurückgemeldet. Deren Mitteilung: Wir können die jesidischen Bewohner schützen, ein Umzug ist nicht notwendig.

Zu dem Zeitpunkt hatten die jesidischen Familien den Wohnblock allerdings bereits verlassen und waren vorübergehend bei Verwandten in Nachbarstädten untergekommen.

Staatsschutz: keine Probleme

Am 7. April habe der Staatsschutz dann nochmals bekräftigt, dass es für die Jesiden in der Wohnsiedlung kein Problem gebe und dass es sich nicht um religiöse Konflikte handele, sondern die Massenschlägerei ein Einzelfall sei, so der Oberbürgermeister. Am 14. April habe die Polizei dann ihren Ermittlungsstand mitgeteilt: Schon vorher sollen libanesische und jesidische Jugendliche mit gegenseitigen Beleidigungen und Provokationen aufgefallen sein. Für Dudda ist darum klar: „Wir gehen davon aus, dass das ein Streit von Jugendlichen untereinander war.“

Auch Ordnungsdezernent Johannes Chudziak sagte in der Ausschusssitzung: „Wer Täter und wer Opfer ist und was der eigentliche Konfliktgrund war, ist uns nicht bekannt.“ Von den möglicherweise betroffenen Personen hätte niemand eine Anzeige erstattet. Ob das Nachbarschaftsverhältnis so gestört gewesen sei, dass die Jesiden ausziehen mussten, sei unklar. Durch die Schilderungen des Zentralrats sei aber der Eindruck entstanden, man wolle „einseitige Sympathien“ für die Jesiden wecken.

Der Zentralrat, so erklärte Chudziak weiter, habe den Umzugswunsch der Jesiden mehrfach an die Stadt herangetragen. Obwohl die Stadt keine Notwendigkeit dafür gesehen habe, habe man die Jesiden dabei trotzdem unterstützt. „Wir haben zum Beispiel bei der Ummeldung beim Jobcenter geholfen“, so der Ordnungsdezernent.

Kritik nicht gerechtfertigt

Einen außergewöhnlichen oder skandalösen Vorfall sieht die Stadtverwaltung weiterhin nicht. Oberbürgermeister Frank Dudda erklärte vielmehr: „Die Kritik, die da an uns geäußert wurde, ist nicht gerechtfertigt und nicht haltbar.“

Nach einem Ortsbesuch im November vergangenen Jahres hatte die CDU-Ratsfraktion in einer Pressemitteilung die Lage in der Herner Siedlung als „Pulverfass“ beschrieben. Es herrsche eine Atmosphäre der Angst. Im Wohnblock regiere das Faustrecht. Gewalt und Aggressionen stünden auf der Tagesordnung.

Die Stadtverwaltung sei im Fall der Jesiden sehr wohl aktiv gewesen und habe hervorragend mit der Polizei zusammengearbeitet, sagte Dudda. Gemeinsam mit der Polizei habe man im Dezember auch beschlossen, einen Runden Tisch einzusetzen, der im März beginnen und die Anwohner einbinden soll.

Politik und Öffentlichkeit wurden nicht informiert

Die Flucht der Jesiden ist erst vor wenigen Wochen zum ersten Mal öffentlich geworden. Auch vielen Herner Lokalpolitikern waren die Vorgänge bis dahin unbekannt. „Ich bin überrascht über den genauen und detaillierten Sachstandsbericht“, sagte der CDU-Fraktionsvorsitzende Markus Schlüter nach den Schilderungen des Oberbürgermeisters. „Nicht einmal in den nichtöffentlichen Teilen von Sitzungen wurden wir darüber informiert.“

Auch seine Fraktionskollegin Andrea Oehler wollte vom Oberbürgermeister wissen, warum Politik und Presse erst jetzt über die Details informiert wurden. „Wir wollten verhindern, was jetzt geschehen ist, die Diskriminierung und Stigmatisierung des Wohnblocks“, rechtfertigte Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda das Schweigen der Stadtverwaltung daraufhin.

Die Stadt habe eine Verantwortung für die Bewohner und die Kinder müssten sich weiterhin trauen können, zu sagen, wo sie wohnen. Außerdem hätten die Ermittlungen der Polizei ja ergeben, dass es sich um einen „Streit zwischen verfeindeten Jugendgruppen“ gehandelt habe. „Wenn ich so etwas jedes Mal mitteile“, fragte Dudda, „was meinen sie, wie viel das wäre?“

“Die Stadt hat gepennt“

Thomas Nückel ist von den Schilderungen der Stadtverwaltung nicht überzeugt. Der Herner sitzt für die FDP im nordrhein-westfälischen Landtag und hatte die Flucht der Jesiden als erster in einer Pressemitteilung öffentlich gemacht. Am Dienstag hat auch er die Ausschuss-Sitzung beobachtet.

“Man versucht das jetzt klein zu reden. Aber Fakt ist: Die Jesiden haben sich dort nicht beschützt gefühlt. Darum sind sie geflohen. Ich habe das Gefühl, dass das in den Tagen danach auch allen recht war, und die Verantwortlichen alles verdecken wollten“, sagte er CORRECTIV.Ruhr nach der Sitzung. „Ich würde nicht sagen, dass die Stadt Schuld hat. Aber sie hat gepennt und hat sich dämlich verhalten. Bei der Polizei muss man das noch hinterfragen, ob da nicht mehr Schutz möglich gewesen wäre“, erklärte er weiter.

Durch Thomas Nückel wird die Flucht der Jesiden nun auch zum Thema für die Landespolitik. In einer Kleinen Anfrage an die Landesregierung will er unter anderem wissen, welche Kenntnisse das Innenministerium zu dem Fall hat und warum die Jesiden in Herne nicht geschützt werden konnten.