Kind im Brunnen

Kind im Brunnen: Politik mit dem Rechenschieber

„Kein Kind zurücklassen!“ ist das Prestigeobjekt von Kraft und Co. Doch wie läuft es für Kinder in NRW, die vom Jugendamt betreut werden? Ist es in fünf Jahren rot-grüner Regierung besser geworden? Zusammen mit einem erfahrenen Sozialarbeiter haben wir seit Monaten recherchiert. Die Ergebnisse haben den Umfang eines Buches angenommen. „Kind im Brunnen“ – die exklusive Serie zum Buch. Heute: Politik mit dem Rechenschieber (II)

von Christoph Schurian

© Vincent Burmeister

Nach 19 Minuten schwant es auch der Ministerpräsidentin. „Aber wem sag ich das?!“, ruft Hannelore Kraft, die Arbeiterwohlfahrt sei doch längst dabei: „Die AWO hilft uns ja!“ Der Saal applaudiert laut und herzlich, es ist ein Schulterschluss wenige Monate vor der Landtagswahl in NRW. Die SPD-Politikerin spricht auf der Sozialkonferenz der AWO im gediegenen Kongresszentrum der Messe Düsseldorf. Eine Rede zum Motto der Tagung „Stark für Kinder und Jugendliche“. Ihr Lieblingsthema, sagt Kraft, und dazu ein Heimspiel bei dem vor fast 100 Jahren von einer Sozialdemokratin gegründeten Wohlfahrtsverband, der in der Zwischenzeit zu einem der größten Arbeitgeber Deutschlands geworden ist.

Die Folgen unserer Serie „Kind im Brunnen“

Folgen, die erschienen sind, werden verlinkt. Die ausstehenden Folgen veröffentlichen wir in den kommenden Wochen.

  1. Der Auftakt

  2. Politik mit dem Rechenschieber

  3. Ein Kommunikationsdesaster

  4. Aufstieg und Fall der Sozialarbeit

  5. Die Akte Jasmin

  6. Späte Hilfen

  7. 22 Millionen Chancen

  8. Unfreie Träger

  9. Flüchtlinge im Jugendamt

  10. Helikopter Staat

  11. Die Guten

  12. Fiedlers Traum

Kraft hat eine Rede vor sich, die sie aber so nicht hält und die es deshalb nicht gibt. Auch nicht für die Presse. Das Manuskript werde nicht herausgegeben, lässt die Staatskanzlei zugeknöpft mitteilen. Dabei ist Politik für Kinder und Familien das Leitmotiv der Ministerpräsidentin, das Landesprogramm „Kein Kind zurücklassen!“ (KeKiz) das Leitprojekt der Landesregierung. Hannelore Kraft wird mehr als hundertmal zum Thema gesprochen haben. Was soll diesmal anders gewesen sein?!

Im Internet findet sich „Kein Kind zurücklassen!“ als einziges Regierungsvorhaben direkt auf der Startseite der Ministerpräsidentin gleich unter den „Tat-Kraft“-Tagen, den Tagespraktika der Politikerin. In Düsseldorf erzählt Kraft am Rednerpult von einem ihrer Einsätze im wirklichen Arbeitsleben. 2011 sei sie in ihrer Heimatstadt Mülheim/Ruhr mit einem Familienhelfer von der Caritas unterwegs gewesen, das habe sie tief beeindruckt. Wie viel Liebe in den betroffenen Familien gewesen ist und wieviel Verzweiflung und Überforderung. Auch in der Organisation: Sechs bis sieben Stellen seien an einer Hilfsmaßnahme in einer Familie beteiligt gewesen, „das ist nicht gut“, sagt Kraft, das wäre nicht gut koordiniert gewesen. Deshalb sei es so wichtig gewesen, das Pilotprojekt ‚Kein Kind zurücklassen!‘ aufzusetzen: „Wir müssen uns im Sozialraum besser organisieren“.

Die kühle Pragmatikerin

Vor fünf Jahren hätten sie sich deshalb „auf den Weg gemacht“. KeKiz sei „sehr gut“. 80 Prozent der angeschobenen Maßnahmen seien erfolgreich gewesen. Ob in Hamm, Unna oder im beschaulichen Arnsberg im Sauerland. Auch dort gebe es einen Arbeiterstadtteil, Moosfelde, ein sozial schwieriges Quartier. Jetzt habe man dort gute Übergangsquoten in die weiterführenden Schulen, würden die wenigsten Kinder aus Familien herausgenommen, stadtweit. „Durch frühe Hilfen können wir die späteren Chancen von Kindern beeinflussen“, sagt Kraft. Je besser die Präventionsketten funktionierten, desto höher seien die Chancen auf einen Schulabschluss, auf gelingendes Aufwachsen. Die ersten Jahre von „Kein Kind zurücklassen!“ hätten gezeigt, „gezielt Vorbeugen lohnt sich“, sagt Kraft. Sie meint das durchaus wörtlich.

Cover_KindimBrunnen_v3-1.jpg

Unser Buch zur Serie „Kind im Brunnen“ kann in unserem Shop bestellt werden.

Der Trick an der Politik der Vorbeugung von Hannelore Kraft: Der Ansatz klingt bestechend logisch. Wenn sich eine Gesellschaft nur früh und gut genug um den Nachwuchs kümmert, auch um die Kinder von armen Leuten, investiert sie in die eigene Zukunft und in die der öffentlichen Kassen, weil die gesellschaftlichen Folgekosten von Armut und Verwahrlosung sinken, die „Reparaturkosten“. Hannelore Kraft, die als Kümmerin gilt, ist eher kühle Pragmatikerin. Ihr sozialpolitischer Ansatz wird oft missverstanden als Politik mit Herz. Es ist Politik mit dem Rechenschieber. Und ein Lehrbeispiel für geschickte, man könnte auch sagen zynische politische Kommunikation.

Nach ihrem Regierungsantritt 2010 ließ Kraft wie eine Unternehmensberaterin eine Datenerhebung in Auftrag gegeben. Die Firma „Prognos“ fand für sie heraus, dass allein in Nordrhein-Westfalen jedes Jahr von Bund, Land und Kommunen mehr als 23 Milliarden Euro aufgewendet werden für soziale Folgekosten. Seien es die Aufwendungen für Arbeitslosengeld, die dem Gemeinwesen fehlenden Steuereinnahmen von Schulabbrechern oder die seit Jahren steigenden Kosten für Jugendhilfe, etwa die Unterbringung von Kindern außerhalb des Elternhauses.

NRW hinkt bei Kita-Plätzen hinterher

Prognos ging mit einem unsentimentalen Blick an die Daten heran. Auch Kosten von Verbrechen, Gerichtsverfahren oder Gefängnissen gingen ein in die Bilanz. Und umgekehrt wäre ein heiler, idealer Staat also ein Staat ohne Folgekosten. Vor der AWO erinnerte Hannelore Kraft an die 23 Milliarden, in die die immensen Gesundheitskosten der Armut noch gar nicht eingerechnet seien.

Nach dem Kassensturz machte sich Rot-Grün daran, die Politik im Bundesland neu zu justieren. Statt die Sparpolitik und den Privatisierungskurs des vorherigen CDU/FDP-Bündnisses fortzusetzen, formulierten die Landesregierungen seit 2010 einen vorbeugenden Politikansatz. Für die Ministerpräsidentin sind es „massive Aufwendungen für Bildung“. Seit 2010 seien in NRW 200 Milliarden für Kinder, Bildung und Familien aufgewendet worden, das allermeiste Geld für Ganztagsschulen und Kindertagesstätten.

Ähnlich wäre das aber vielleicht ohne den neuen Politikansatz geschehen, vielleicht sogar ohne Regierungswechsel: 2013 trat der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung auch für Unter-Dreijährige in Kraft. Und trotz der eingesetzten Milliarden hinkt NRW bei Kitaplätzen und erst recht beim Anteil der Kinder, die dann wirklich eine Kita besuchen, weit hinterher.

In keinem Bundesland gehen weniger Kleinkinder in eine Kita als in Nordrhein-Westfalen. Im Durchschnitt ist es nur jedes vierte Kind. Dem AWO-Fachpublikum lieferte Kraft eine Erklärung: Im Ruhrgebiet habe das mit Traditionen zu tun, Frauen hätten dort schon immer seltener gearbeitet. Außerdem sei die Erwerbsquote von Frauen unter Zuwanderern ebenfalls unterdurchschnittlich.

Dass das aber das Hauptproblem bei der Herstellung von besseren Bildungschancen ist, dass genau deshalb Kinder zurückgelassen werden, vor allem im Ruhrgebiet, in den Armutshochburgen im Westen, dass die beschworenen „Präventionsketten“ kaum greifen können, kommt erst Stunden später zur Sprache in Düsseldorf. Ohne die Ministerpräsidentin.