Kind im Brunnen

Kind im Brunnen: Aufstieg und Fall der Sozialarbeit

Kinder bedeuten Zukunft. Unterstützung und Chancengleichheit für die nächste Generation entscheiden über den Erfolg eines Landes. Wie ist es um die Jugendhilfe in NRW bestellt – mit der Betreuung durchs Jugendamt? Was hat Krafts Prestigeprojekt „Kein Kind zurücklassen!“ erreicht? Und was muss nach fünf Jahren rot-grüner Regierung kommen? Zusammen mit einem erfahrenen Sozialarbeiter haben wir seit Monaten recherchiert. Die Ergebnisse haben den Umfang eines Buches angenommen. „Kind im Brunnen“ – die exklusive Serie zum Buch. Heute: Aufstieg und Fall der Sozialarbeit (IV)

von Christoph Schurian

© Vincent Burmeister

Der Auftakt zu „Kein Kind zurücklassen!“ war „der Hammer“, erinnert sich Werner Fiedler. Tausend geladene Gäste. „Feinstes Buffet“ im Colosseum in Essen. Früher waren hier die Mechanischen Werkstätten von Krupp. Jetzt ist daraus eine Musicalbühne in bester Lage geworden, gegenüber vom Einkaufszentrum Limbecker Platz. Zwischen Gastspielen von „Rocky Horror Picture Show“ und „Cinderella“ luden am 9. November 2011 die NRW-Staatskanzlei und ihr Kooperationspartner, die Bertelsmann-Stiftung zum „Kick Off“. Es fühlte sich an wie der Beginn einer neuen Zeit, sagt Fiedler, „angefixt“ sei er von dem neuen Konzept gewesen, keine Kinder zurücklassen, vorbeugende Kommunen.

Die Konzentration auf die Kinder hatte dem Sozialarbeiter aus Gladbeck immer gefehlt und der Fokus auf kommunale Praxis, die besser werden muss, im Netzwerk mit anderen Kommunen, mit Wissenschaftlern und Landespolitik. „Ich habe dort das gehört, was ich schon lange dachte.“ Fiedler hatte große Erwartungen und erlebte große Enttäuschungen, wie so oft in seinem Berufsleben.

Die Folgen unserer Serie „Kind im Brunnen“

Folgen, die erschienen sind, werden verlinkt. Die ausstehenden Folgen veröffentlichen wir in den kommenden Wochen.

  1. Der Auftakt

  2. Politik mit dem Rechenschieber

  3. Ein Kommunikationsdesaster

  4. Aufstieg und Fall der Sozialarbeit

  5. Die Akte Jasmin

  6. Späte Hilfen

  7. 22 Millionen Chancen

  8. Unfreie Träger

  9. Flüchtlinge im Jugendamt

  10. Helikopter Staat

  11. Die Guten

  12. Fiedlers Traum

Werner Fiedler ist Sozialarbeiter der ersten Stunde und dazu einer wie aus dem Bilderbuch. Baumlang, ein ergrauter Lockenkopf, Stoppelbart, Nickelbrille, Norwegerpulli statt Hemd, Anorak statt Sakko. Ein großer starker Bruder, Spitzname: „Langen“. Fiedler hört man an, wo er herkommt, nördliches Ruhrgebiet. Vater Chemiefacharbeiter, Mutter Krankenschwester, eine behütete Kindheit in einer properen Arbeitersiedlung in Bottrop-Boy. Die Eltern verdienten beide, der Familie ging es gut.

Am Gymnasium wurde Fiedlers soziales Urvertrauen erstmals erschüttert. Für viele Lehrer und Mitschüler war er der Siedlungsjunge, ein Außenseiter. „Ich möchte nicht über die Schule sprechen“, sagt Fiedler fünfzig Jahre später, immer noch angefasst. Er hat trotzdem das Abitur geschafft, einen Ausbildungsplatz bekommen zum Bankkaufmann bei der WestLB in Essen. „Ich kannte das Krankenhauswesen durch meine Mutter. Aber Arzt, das hätte ich mir nie zugetraut, das war damals eine soziale Grenze.“

Was macht Fiedlers Tochter heute? Richtig, Ärztin.

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Unser Buch zur Serie „Kind im Brunnen“ kann in unserem Shop bestellt werden.

Fiedler wohnt mitten in Bottrop, man hört das Geläut des nahen Rathauses. Er hat einen ebenfalls ziemlich großen, ziemlich lockigen Hütehund, mit dem er stundenlang im Wald spazieren geht. An den Wänden im Wohnzimmer hängen und stehen Fotoposter, New York, Mode, Marilyn. Wir sitzen stundenlang auf zwei schwarzen Couchen. Jonas schläft neben seinem Herrchen. Immer wenn der den Raum verlässt, rutscht das Tier rüber auf die andere, vorgewärmte Seite und nicht wieder zurück. Fiedler schimpft dann, schubst den Hund weg und lacht: „Pädagogik hilft“, sagt Fiedler, „nur zuhause nicht.“

Sozialarbeiter aus Überzeugung

Er hat dann doch studiert. Nicht Finanzwirtschaft, nicht Medizin, sondern Sozialarbeit an der neu gegründeten Gesamthochschule Essen. Seine Abschlussarbeit schrieb er zum Thema „Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen“. Klingt nach einer Abrechnung, nach Marx-Lesekreisen und Studentenbewegung. Aber wir sind im Ruhrgebiet, nicht in Münster oder Berlin. Fiedler hatte kein Studentenleben, er zog sein Studium durch, hatte eine berufstätige Frau, pendelte werktags aus Bottrop an die Hochschule, spielte Fußball, schrieb Sportberichte für die Lokalzeitung, jobbte.

Sozialarbeiter wollte Werner Fiedler nicht aus ideologischen Gründen werden, sondern weil er Glück hatte. Und andere nicht.

Als Schüler machte Fiedler mit in der Jugendarbeit der Kirche. In Bottrop waren das nicht nur Zeltlager, der Jugendpastor war auch ein Pionier für Sozialarbeit, gründete einen Verein für Jugendhilfe. Fiedler wurde dort als Teenager mit sozialen Brennpunkten konfrontiert, half in einer Teestube, einem Anlaufpunkt für Drogensüchtige. Und lernte eine andere Siedlung kennen als seine eigene in Bottrop-Boy, eine für Obdachlose. Das hat sein Leben verändert.

Der Muff von tausend Jahren

Ende der 1960er war das Land in Bewegung geraten, auch die Sozialarbeit mit Kindern und Jugendlichen, die damals noch „Fürsorge“ genannt wurde. Die neue Linke, die außerparlamentarische Opposition, protestierte gegen den „Muff von tausend Jahren“ an den Universitäten, aber auch in Heimen, die wie Knäste wirkten und wo so genannte „schwer Erziehbare“ Gewalt und Ausgrenzung erlebten als Menschen zweiter Klasse, als „Asoziale“.

Ulrike Meinhof arbeitete als Journalistin zu den Zuständen in den Fürsorgeanstalten, den autoritären Erziehungsmethoden mit großem Echo in der Öffentlichkeit. Eine „Heimkampagne“ versteckte Ausreißer aus den Anstalten, in zivilem Ungehorsam wurden Wohngemeinschaften für die Fürsorgeflüchtlinge gegründet. Anfang der 1970er Jahre waren Ulrike Meinhof und einige der Aktivisten der Heimkampagne dann selbst in den Untergrund gegangen. Die anfangs illegalen Einrichtungen für Jugendliche waren Vorbilder geworden. Überall entstanden betreute Wohngemeinschaften für Jugendliche, die nicht mehr zuhause leben konnten oder wollten. Die 1968er hatten die Jugendfürsorge in wenigen Jahren gedreht.

Keine Bücher, keine Spielsachen

Fiedler studierte in Essen nicht im Geist von Zucht und Ordnung, sondern partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit Betroffenen, Hilfe zur Selbsthilfe. Das die aber natürliche Altersgrenzen hat, wusste er schon als Student. „Die Möglichkeiten bei den Älteren etwas zu verändern, sind außerordentlich gering“, wusste er. Sucht spiele eine zentrale Rolle, viele der Erwachsenen lebten in den Tag hinein, die müssten sich selbst mit dem Schopf aus dem Sumpf ziehen.

Aber die Not der Kinder in den Obdachlosenwohnungen „die hat mich nachhaltig verfolgt“. Es fehlte an Büchern, an Spielsachen, an jeglichen Anregungen und am Aufbruchsgeist und Elan der Eltern, dass es ihre Kinder einmal besser haben sollen…

Werner Fiedler wusste schon damals, nicht nur Reichtum, auch Armut wird vererbt. Einige von den Kindern aus der Obdachlosensiedlung trifft er in der Stadt an den Treffpunkten von Obdachlosen und Trinkern wieder. Sie haben nicht herausgefunden aus dem „Teufelskreis“.

Du kannst Bottrop-Boy verlassen, aber Bottrop-Boy verlässt dich nicht. Vielleicht war es das! Fiedler hatte gute Aussichten um bei der WestLB Karriere zu machen statt zu studieren. Er hätte an der neuen Gesamthochschule vermutlich Hochschullehrer werden können statt Sozialarbeiter an der Basis. Aber da wollte er hin. Er absolvierte ein sehr enttäuschendes Anerkennungsjahr in der Heimatstadt Bottrop und hatte danach seine beste Zeit: Als Sozialarbeiter in einem Jugendzentrum in Gladbeck-Ellinghorst, offene Kinder- und Jugendarbeit mit Kicker, Tischtennisplatte, Disko und Filmabenden.

„Ich kannte in Ellinghorst jeden Papa, ich kannte jede Mama, jedes Kind, wir hatten Besuchszahlen, da träumen die heute nicht mal mehr von“, sagt Fiedler und ist in seinem Element: Da sein, professionelle Beziehungen „zu den Blagen“ herstellen, Türen öffnen, jeder darf kommen. Wenn die Jungs sich am Stromkasten treffen, hingehen, quatschen. Mit Eltern reden. Ansprechbar sein für alle im Stadtteil. „Wir hatten im Jahr 25.000 Kinder und Jugendliche in dem Zentrum bei zwei Mitarbeitern und einem Etat von 5.000 Mark.“

Es waren die guten Zeiten als „freischaffende Künstler“, sagt Fiedler, jeder Sozialarbeiter hatte ein anderes Konzept, jeder arbeitete aus Leidenschaft. Und für alle war es Neuland, für die Sozialarbeiter, fürs Jugendamt, die Stadt, die Kinder und ihre Familien. Die größte Enttäuschung in Fiedlers Berufsleben ist, dass diese Zeit zu Ende ging. Nicht nur für ihn persönlich.

Der im Stadtbezirk, vor Ort wirkende Sozialarbeiter vom Jugendamt wurde abgeschafft, ohne dass es bessere Konzepte gegeben hätte. Viele Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit wurden aus Kostengründen geschlossen. Die Mitarbeiter vom Jugendamt, sagt Fiedler, gehen heute nur selten raus. Die Kinder auch. Die Jugendeinrichtungen spiegeln die Segregation in der Gesellschaft, die Heterogenität, in dem einen treffen sich Türkischstämmige, im zweiten nur Libanesen. Aus dem städtischen Sozialarbeiter wurde ein Case-Manager, aus den „Blagen“, ihren Papas und Mamas wurden Klienten, Fälle. Hinter verschlossener Tür: „das Klientel“.

Und das Jugendamt ist seitdem wieder auf dem Weg zu einem Fürsorgeamt, vor dem sich die Menschen fürchten.