Jugend & Bildung

Schulen in Herne und Gelsenkirchen kämpfen mit den größten Problemen

Schüler im Ruhrgebiet haben mit schlechteren sozialen Bedingungen zu kämpfen als der Rest von NRW. Viele zeigen in den Hauptfächern unterdurchschnittliche Leistungen. CORRECTIV.RUHR hat die aktuellen Lernstandserhebungen für die Städte der Region ausgewertet und verglichen. Das Ergebnis ist mehr als beunruhigend. Doch spezielle Schul- oder Förderprogramme für die Sonderregion Ruhrgebiet gibt es laut Schulministerium nicht. Folge 2 von 3: Wie gut sind die Schulen im Revier? (mit Datenbank zu den einzelnen Schulen)

von Hendrik Schulze Zumhülsen , Simon Wörpel

© Illustration: Charlotte Hintzmann

Sprachschwierigkeiten und gering verdienende Eltern gehören zu den großen Bildungshürden im Ruhrgebiet. Mehr als 40 Prozent der weiterführenden Schulen, die in Nordrhein-Westfalen die denkbar schlechtesten sozialen Bedingungen haben, liegen im Pott. Das geht aus einer CORRECTIV.Ruhr-Auswertung der Lernstandserhebungen des Schulministeriums NRW hervor.

Die schlechten sozialen Bedingungen wirken sich auf die Leistungen der Schüler und dementsprechend ihre Zukunftsperspektiven aus. 

Bildungsstandort Ruhrgebiet

Folge 1: Wie gut sind die Schüler im Revier? 

Jeder dritte Achtklässler nicht auf Arbeitsmarkt vorbereitet

Folge 2: Wie gut sind die Schulen im Revier? 

Schulen in Herne und Gelsenkirchen kämpfen mit den größten Problemen

Folge 3: Was wird fürs Revier getan? 

Region ohne Sonderstatus

Das Schulministerium teilt die Schulen bei den Lernstandserhebungen in sogenannte Standorttypen ein. Sie zeigen an, wie hoch der Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund und der Anteil von Hartz-IV-Empfängern im Schulumfeld ist. Dies soll bei den Lernstandserhebungen, die die Leistungen von Schülern der dritten und achten Klasse messen, einen „fairen Vergleich“ ermöglichen, sagt Projektleiter Kevin Isaac. So werden Schulen in sozial schwachen Gegenden nicht direkt mit einem vermeintlichen Edelgymnasium in Konkurrenz gesetzt.

Der Einfluss des Umfeldes aufs Lernen

Das soziale Umfeld „macht einen großen Unterschied aus“, sagt Sozialwissenschaftler Jörg-Peter Schräpler von der Ruhr-Universität Bochum. Er hat 2009 bei der Entwicklung des Standorttypenkonzepts in NRW mitgearbeitet und die amtlichen Schuldaten ausgewertet. Betrachtet man die zugewiesen Standorttypen, zeigt sich eine deutliche Benachteiligung des Ruhrgebiets. Dort hat die Mehrzahl der weiterführenden Schulen mit sozialen Belastungen zu kämpfen.

„Die Unterschiede betragen maximal 20 Prozent“, sagt Isaac. Benachteiligte Schüler hängen also den Schülern mit den besten sozialen Bedingungen im Lernstoff hinterher. „Diese standortbezogene Unterschiede können aber mit der standorttypenbezogenen Ergebnisrückmeldung der entsprechenden Schulen berücksichtigt werden.“ 

Schlechte Voraussetzungen im Pott

Die günstigste Kategorie für das gesellschaftliche Umfeld ist im Revier leider sehr selten vertreten. Der Standorttyp 1 deutet auf geringe soziale Belastungen hin, eine vermeintlich heile Welt für Schüler und Lehrer. Nur fünf Prozent der 331 weiterführenden Schulen, die in NRW diese besten sozialen Voraussetzungen mitbringen, befinden sich im Ruhrgebiet.   

Die meisten weiterführenden Schulen im Ruhrgebiet sind den Standorttypen 4 oder 5 zugeordnet. 5, die höchste Stufe in der Skala besagt, dass mehr als die Hälfte der Schüler einen Migrationshintergrund hat. An manchen Schulen im Ruhrgebiet liegt laut Schräpler der Wert sogar bei über 80 Prozent. Eine weitere Voraussetzung für Standorttyp 5: Im Schulumfeld, heißt im Fünf-Kilometer-Radius um die Schule, ist jeder fünfte Anwohner im Durchschnitt Hartz-IV-Empfänger.

Standorttypen von ausgewählten weiterführenden Schulen in NRW

Besonders betroffen sind die Ruhrgebietsstädte Gelsenkirchen und Herne. Mehr als die Hälfte aller Schulen in diesen Gebieten müssen mit den schlechtesten Bedingungen auskommen. In Gelsenkirchen sind sogar 19 von 26 weiterführenden Schulen dem Standorttyp 5 zugeordnet. Dies spiegelt sich auch in den Ergebnissen der Lernstandserhebungen wider. In Mathe ist mindestens jeder dritte Schüler in Gelsenkirchen ein Risikoschüler, in Deutsch jeder vierte. Risikoschüler haben bei der Lernstandserhebung gerade mal die erste von fünf Niveaustufen erreicht.

Deutlich hinter den ländlichen Kreisen

Vergleicht man die Schulen Gelsenkirchens mit denen des ländlichen Kreises Olpe, dann wird das Gefälle zum Ruhrgebiet noch deutlicher. Der Anteil der Risikoschüler im Fach Mathematik ist in Gelsenkirchen doppelt so hoch wie im Kreis Olpe. Im Fach Deutsch gibt es in Gelsenkirchen sogar fünfmal so viele Problemschüler. Betrachtet man dagegen die sozialen Voraussetzungen der Schulen, dann zeigt sich: Im Kreis Olpe hat ein Großteil der Schulen die besten – der Standorttyp 1 dominiert dort die Schullandschaft.      

Aber nicht nur zwischen Stadt und Land gibt es einen Unterschied. Auch innerhalb des Ruhrgebiets zeigen sich Ungleichheiten. „Die A40 ist sozusagen der Sozialäquator“, sagt Sozialwissenschaftler Schräpler. Im Norden des Ruhrgebiets gebe es einen höheren Anteil an Migranten und Hartz-IV-Empfängern, während im Süden in der Regel die Höherverdienenden sitzen. Und tatsächlich häufen sich Schulen mit schlechten sozialen Bedingungen auch in bestimmten Quartieren. Im Essener und Dortmunder Norden sieht man das deutlich.

Diese scharfe Unterteilung, die sozialen Grenzlinien haben sich über Jahre entwickelt. „Viele Viertel sind nach und nach gekippt, kann man sagen, und sind zu Problemvierteln geworden“, sagt Schräpler. Im Zuge des Strukturwandels mussten sich die Bergarbeiterkumpels anstatt mit „harter Arbeit und gutem Geld“ mit gering bezahlten Dienstleistungsjobs abfinden. Manche fanden auch gar keine Arbeit mehr. Die Miet- und Bodenpreise verringerten sich in den Gebieten. Höherverdienende zogen weg und machten Platz für Sozialleistungsempfänger. Quasi eine umgekehrte Gentrifizierung.

Standorttypen der Schulen in den Ruhrgebietsstädten und -kreisen*

*ohne Kreis Wesel, Duisburg. Die Daten für Unna und Recklinghausen beziehen sich jeweils auf den kompletten Landkreis.

Daten: Antworten auf kleine Anfragen, aggregiert in dieser CSV-Datei, eigene Berechnungen, gerundet.

Integrationsprobleme sind Lernhürde

Ein weiteres Problem aus den 60er Jahren, mit dem sich die Region auch heute noch auseinandersetzen muss und das sich auf die Ergebnisse der Lernstandserhebungen auswirkt: Jahrzehntelang hat man die Integration der Gastarbeiter ignoriert, die meist als ungelernte Arbeitskräfte nach Deutschland und vor allem auch in das Ruhrgebiet eingewandert sind.

„Dort, wo deutsche Arbeiterviertel waren, sind auch wegen der geringen Mietpreise Viertel entstanden, in denen vor allem Migranten mit geringem Einkommen wohnen“, sagt Schräpler. Dort gebe es teilweise Grundschulen, an denen acht von zehn Schülern einen Migrationshintergrund haben. Diese sind doppelt benachteiligt. Neben den Sprachschwierigkeiten müssen die Schüler meist auch mit einem geringen Einkommen der Eltern zurechtkommen. Laut Schräpler gibt es einen Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und dem Bezug von Sozialleistungen.

Obwohl die Abgängerquote, also der Prozentsatz der Schüler, die ohne Abschluss eine Schule verlassen, im gesamten Land in den vergangenen zwölf Jahren von 7,1 auf 6,2 Prozent fiel, stieg sie bei ausländischen Schülern an. Laut Chancenspiegel lag die Abgängerquote von ausländischen Schülern ohne Hauptschulabschluss im Land Nordrhein-Westfalen im Jahr 2014 bei 14,5 Prozent.  Im Jahr 2002 war die Abgängerquote noch fast zwei Prozentpunkte niedriger (12,8 Prozent).

NRW hat ein Schichtproblem

Haben die Schulen im Ruhrgebiet ein Integrationsproblem? Nein, meint Wilfried Bos, Mitautor des Chancenspiegels, und verweist darauf, dass NRW ein Schichtproblem habe, das viel weiter gefasst werden muss. Um es zu bekämpfen, müsse Geld in die Hand genommen werden – eine gezielte Förderung von benachteiligten Schülern sei unbedingt notwendig. Ansonsten müsse Deutschland, genauer: Nordrhein-Westfalen, mit den langfristigen Kosten leben. Und die seien – betrachtet man den erwartbaren Lebensweg eines Risikoschülers – extrem hoch.

Datenanalyse und -visualisierung: Simon Wörpel