Alte Apotheke

Ein Beutel ohne Wirkstoff

Der Krebs-Apotheker Peter S. aus Bottrop sitzt seit einem halben Jahr in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen Abrechnungsbetrug gegenüber den Krankenkassen. Doch der größere Betrug geschah womöglich gegen den Patienten. Die Ermittler haben einen Infusionsbeutel für eine Patientin gefunden, in dem gar kein Wirkstoff war: ein angebliches Krebsmedikament, das nur aus Kochsalzlösung bestand. Ein Einzelfall - oder einer von Hunderten? In Bottrop herrscht Betroffenheit unter Patienten und ihren Angehörigen. Eine Spurensuche vor Ort.

von David Schraven

Die Alte Apotheke in der Bottroper Hochstraße.© Lennart Schraven

Dies ist die erste Geschichte über die Alte Apotheke in Bottrop, die ich schreibe. Es wird nicht die letzte sein.

Ich beginne in der Hochstraße. Die herausgeputzte Alte Apotheke dominiert hier den Blick. Eine aus Gold geschlagene Schlange windet sich zweifach gewunden am Eingang hinab. In ihrem züngelnden Maul hält sie das Schild der Apotheke. Die „1864“ steht darauf. Die Zahl soll Tradition verdeutlichen, Beständigkeit, Zuverlässigkeit. Ein altes, ein großes Haus. Eine zweite goldene Schlange kommt ihr von unten entgegen. Ihr Spiegelbild.

Am 26. Oktober 2016 fing die Kriminalpolizei hier einen Infusionsbeutel mit einem Krebsmedikament ab.

In dem Beutel war angeblich eine Antikörpertherapie – individuell zubereitet vom damaligen Apotheker der Alten Apotheke, Peter S., für eine krebskranke Patientin. Die Arznei gehört zu den wirksamsten Mitteln gegen Krebs. Die Antikörper docken an Tumorzellen an und aktivieren das körpereigene Immunsystem, das dann Tumorzellen abtöten kann. Auf dem Etikett des Infusionsbeutels stand der Name dieser Frau und die angebliche Konzentration des Wirkstoffes. Das Krebsmedikament sollte ihr in den Praxisräumen eine Krebsarztes verabreicht werden. Doch die Patientin konnte das Medikament nicht einnehmen.

Die Praxis schickte den ungeöffneten Beutel zurück in die Apotheke. Von dort gelangte der Beutel direkt zur Kriminalpolizei, die damals schon verdeckt gegen Peter S. ermittelte.

Die Kriminalpolizei ließ den Infusionsbeutel auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft Essen vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen untersuchen. Das Institut stellte am 21. November 2016 in seinem Abschlussbericht fest, dass der Infusionsbeutel „ausschließlich Kochsalzlösung, also keinerlei nachweisbaren Wirkstoff“ enthielt.

Der Fakt ist eindeutig: In dem Infusionsbeutel, in dem eine der Arznei gegen Krebs sein sollte, war kein Wirkstoff.

Nichts.

Nur Kochsalz.

Bei Razzia weitere Beutel beschlagnahmt

Am 29. November 2016 wurde Peter S. verhaftet, er sitzt seither in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte bei der gleichzeitigen Razzia in der Alten Apotheke Dutzende weitere Infusionsbeutel. Wie viele davon wie der erste Beutel ohne Wirkstoffe waren, werde derzeit geprüft, bestätigt die Staatsanwaltschaft. „Sobald wir belastbare Ergebnisse haben, werden wir dazu detaillierte Angaben machen“, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungen dauern an. Die Alte Apotheke ging zurück in den Besitz der Mutter von Peter S., die nach Aussage ihrer Anwälte nichts mit dem Skandal zu tun haben soll.

Der Verdacht der Strafverfolger gegen Peter S.: Auch in diesen Beuteln war kein Wirkstoff.

Klaus Peterseim, Vorsitzender des Verbands der Zytostatika herstellenden Apotheker, schließt weitgehend aus, dass sich die Wirkstoffe beim Transport im Beutel rückstandslos aufgelöst haben könnten. Zwar sei die Haltbarkeit von Wirkstoffen in der Krebsbehandlung sehr unterschiedlich und Wirkstoffe könnten sich unter Umständen in den zubereiteten Medikamenten schnell zersetzen. Allerdings seien dann Zerfallsprodukte der Wirkstoffe nachweisbar. „Dass sie ohne Spuren aus einer Kochsalzlösung verschwinden, ist undenkbar“, sagt Peterseim.

Insgesamt reden wir von tausenden, vielleicht zehntausenden Beuteln, die Peter S. verkauft hat – wieviele davon ohne Wirkstoff waren, oder mit zu wenig Wirkstoff, lässt sich nicht mehr herausfinden. Die Staatsanwaltschaft spricht von 40.000 Krebstherapien, die in Frage stehen. Das bedeutet: Tausende Menschen wären betroffen.

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Der Bottroper Krebs-Apotheker Peter S. wird bei Gericht vorgeführt.

Marcus Bensmann

Mehr verkauft als eingekauft

Der mathematische Beweis dieses Verdachts wird in den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Essen geführt. Nehmen wir zum Beispiel die Arznei Abraxane. Diese Arznei soll das Teilen von Krebszellen unterbinden, damit der Tumor abstirbt. Es wird besonders gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs eingesetzt.

Aus den vorliegenden Papieren, die aus der zentralen Abrechnung der Alten Apotheke stammen, geht hervor, dass Peter S. zwischen 2010 und 2016 unter 100.000 Milligramm des Krebsmittels Abraxane eingekauft haben soll, um sie an die Patienten weiterzuverkaufen.

Tatsächlich habe Peter S. jedoch mehr als 250.000 Milligramm Abraxane verkauft, geht aus den Unterlagen der Alten Apotheke hervor.

Wie kann das sein? Wie kann er nur unter 100.000 Milligramm einkaufen, aber über 250.000 Milligramm verkaufen?

Um das zu verstehen, müssen wir uns anschauen, wie Krebsarzneien hergestellt werden.

Der Arzt bestellt für seinen Patienten bei der Apotheke seines Vertrauens das Medikament. Dieses wird vom Apotheker individuell zubereitet und auf den Patienten abgestimmt. Dazu kauft der Apotheker direkt beim Hersteller oder bei einem Großhandel den Wirkstoff des Medikamentes ein und bereitet daraus die Arznei – etwa in dem er den Wirkstoff in einer Kochsalzlösung auflöst. Da die zubereiteten Arzneien nur sehr kurz haltbar sind, oft nur wenige Stunden, werden die Wirkstoffe meist in kleinen Chargen gehandelt. Die fertige Arznei sendet der Apotheker umgehend mit Boten in die Praxis. Dort wird das Medikament direkt dem Patienten verabreicht. Wenn der Patient aus irgendeinem Grund die Arznei nicht einnehmen kann, weil er zu krank ist etwa oder zu schwach, wird das Medikament in die Apotheke zurückgeschickt, wo es entweder direkt für einen anderen Patienten mit einem gleichen Bedarf weiter verwendet oder vernichtet werden muss. Der Apotheker rechnet mit der Krankenkasse nur die Menge des Wirkstoffes ab, die er zur Herstellung der individuellen Arznei  benutzt hat.

Die Krankenkasse weiß also nur, wieviel Wirkstoff der Apotheker an die Krebsärzte geliefert hat. Sie kann nicht direkt nachvollziehen, ob die Menge des verkauften Wirkstoffes mit der Menge des eingekauften Wirkstoffes übereinstimmt. Diese Lücke soll Peter S. genutzt haben.

Wirkstoffe frei erfunden?

Er soll die fehlenden über 150.000 Milligramm der Arznei Abraxane frei erfunden haben — so der Verdacht der Ermittler. Anders ausgedrückt: Sie vermuten, dass es die 150.000 Milligramm nie gab. Peter S. soll demnach Krebstherapien ohne Wirkstoff verkauft haben. In den betroffenen Infusionsbeuteln wäre dann nur Wasser gewesen.

Patienten und ihre Kassen, die entsprechende Therapien von Peter S. erhielten, hätten in diesem Fall tausende von Euro für gepanschte Medikamente bezahlt. Das ist der Betrugsverdacht, der Peter S. vorgehalten wird. Wir haben versucht mit ihm über den Vorgang zu sprechen, ihn gefragt, ob das stimmt. Wir haben bis Redaktionsschluss keine Antwort bekommen.

Allein mit Abraxane soll Peter S. im angesprochenen Zeitraum mehr als 900.000 Euro Gewinn gemacht haben.

Hätte er ausreichend Wirkstoff gekauft, um auch tatsächlich die Therapien zubereiten zu können, hätte er im gleichen Zeitraum regulär nur rund 300.000 Euro Gewinn machen können.

600.000 Euro Differenz — für welchen Preis?

Mehr Medikamente

Es gab mehr Medikamente bei denen Peter S. ähnlich verfahren haben soll:

  1. Etwa bei dem Wirkstoff Nivolumab (Handelsname Opdivo), einem modernen Medikament zur Behandlung von fortgeschrittenem Lungenkrebs von dem Patienten nach einer Nutzenbewertung des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) erheblich profitieren: Zwischen Sommer 2015 und Januar 2016 kaufte Peter S. den Unterlagen zufolge rund 16.000 Milligramm ein. Er rechnete aber rund 52.000 Milligramm der Arznei bei den Kassen ab. Die fehlende 36.000 Milligramm soll es nicht gegeben haben. Peter S. soll sie durch Wasser ersetzt haben – so der Verdacht.
  2. Von der Arznei Xgeva soll Peter S. zwischen 2011 und Sommer 2016 rund 2100 Dosen eingekauft und rund 4700 Dosen verkauft haben. Das Medikament wird unter anderem zur Behandlung von Krebsbefall der Knochen eingesetzt. Die Differenz zwischen Einkauf und Verkauf liegt bei 2600 Dosen.
  3. Die Arznei Cyramza ist ebenfalls ein monoklonarer Antikörper zur Behandlung von fortgeschrittenem Lungenkrebs. Zwischen 2015 und Mai 2016 soll Peter S. den Unterlagen zufolge rund 20.000 Milligramm der Arznei eingekauft – aber rund 50.000 Milligramm verkauft haben. Die Differenz von 30.000 Milligramm hat er — so der Verdacht — erfunden.

Die Liste lässt sich fortsetzen. Es ist immer das gleiche Muster. Peter S. soll regelmäßig weniger Wirkstoff eingekauft als verkauft haben.

Die genauen Zahlen zu den Wirkstoffen aus der Abrechnung der Alten Apotheke liegen vor. Doch dürfen in Deutschland vor einem Prozess keine Zitate aus Ermittlungsakten veröffentlicht werden. So will es das Gesetz.

Insgesamt soll sich Peter S. auf diese Art und Weise mehrere Millionen Euro verschafft haben. Die Rede in den Ermittlungsakten ist derzeit von mindestens 2,5 Millionen Euro. Der Vorwurf gegen Peter S. lautet auf Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz und auf Betrug.

Doch es geht um mehr.

Jeder kennt einen Fall

Viele Familien in Bottrop und der Umgebung kennen Opfer, kennen die Betroffenen, sind vielleicht selbst betroffen.

Sollte sich der Verdacht gegen Peter S. bestätigen, hätte sich hier in der Alten Apotheke in der Hochstraße gemessen an der Zahl der Betroffenen eines der größten Medizinverbrechen Deutschlands abgespielt. Hinter verschlossenen Türen, in einem Labor im Keller.

Fast jeder in Bottrop kennt den Apotheker. Den Mann, der heute in Untersuchungshaft sitzt und schweigend auf seinen Prozess wartet. Ich war mit Peter S. in der Schule, in einer Klasse von der fünften bis zur dreizehnten. Ich habe mit ihm die ersten Flaschen Bier getrunken, habe mit ihm gelacht und habe mich mit ihm durchs Abitur gezittert. Er war kein enger Freund, aber ein Kollege. Ich kann sein rundes Gesicht vor mir sehen, wenn ich die Augen schließe.

Peter S. ging nach dem Abitur, nach seinem Studium zur Bundeswehr und dann zu seiner Mutter und seinem Vater in die Alte Apotheke, um sie später zu übernehmen.

Lange wollte ich nicht über den Fall der Alten Apotheke schreiben. Zu nah war das alles. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Schulkollege ein Verbrecher sein soll, der hunderte, vielleicht tausende Patienten geschädigt haben soll. Niemand mit dem ich für diese Recherche geredet habe, konnte oder kann sich vorstellen, dass Peter S. getan hat, was ihm vorgeworfen wird. Allenfalls ein kleiner Beschiss bei Abrechnungen war für die Leute denkbar, die Peter S. seit Jahren kennen.

Warum schweigt Peter S.?

Ich habe erst angefangen zu recherchieren, als ich misstrauisch wurde. Warum redet Peter S. nach Monaten in Untersuchungshaft immer noch nicht und sagt was los war?

Die Alte Apotheke wird dominiert von goldenen Schlangen vor dem Haus, die sich nicht um einen Äskulapstab, dem Symbol der Heilkunst, nach oben winden – sondern ohne Stab mit dem Kopf nach unten streben und dort auf ihr Spiegelbild treffen. Ein Symbol, das offenbar keiner von uns je richtig verstanden hat: Hier ist alles verkehrt.

Die Alte Apotheke brachte Geld, viel Geld. Soviel Geld, dass sich der Apotheker Peter S. einkaufte in die Stadt. Er veranstaltete Sponsorenläufe um die Alte Apotheke herum, trat als Wohltäter auf, ließ sich feiern. Er spendete aber auch im Stillen. Gab mal hier 10.000 Euro, mal dort. Zum Beispiel für das örtliche Hospiz. Peter S. mochte es, Dinge geschehen zu lassen. In seinen Garten in Kirchhellen wollte er einen privaten Themenpark bauen. Eine Ecke sollte Atlantis gewidmet sein, eine Ecke dem Wolkenkuckucksheim, eine Ecke Grimms Märchen. Aus seinem Bad im ersten Stock seiner Neubauvilla führte eine Rutsche in den Swimmingpool im Erdgeschoss.

Woher das Geld für all das kam, fragte niemand. Die Stadt nicht. Die Bürger nicht. Das Hospiz nicht.

Alle nahmen an, ein ehrlicher Krebs-Apotheker habe mit guter Arbeit Erfolg gehabt und teile sein Glück.

Die Stadt, die Bürger und das Hospiz waren froh, einen Geschäftsmann zu haben, der sein Geld in der Stadt ausgab.

„Weil Gesundheit ein Geschenk ist“

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MediCity Bottrop. – Das Projekt von Krebs-Apotheker Peter S.

Die Stadt beobachtete, wie Peter S. ein Nachbarhaus der Alten Apotheke kaufte, und dann noch eines. Und noch eines. Und noch eines. Die Stadt sah, wie die Alte Apotheke wucherte. Irgendwann bekam das Wuchern einen Namen: „MediCity Bottrop“ nannte Peter S. seine Meile in der Innenstadt.

In die Häuser setzte Peter S. Ärzte. Ärzte, deren Patienten oft in der Alten Apotheke einkauften. Ein Geschäft von dem alle etwas hatten. Auch die Krebsärzte, die bei Peter S. Medikamente bestellten, um sie Patienten in ihren Praxen zu geben.

Es war so bequem. Direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite – gegenüber den Praxen – war die Apotheke, in der die Arzneien gegen Krebs zubereitet werden sollten; mit den besten Wirkstoffen, frisch und penibel angerührt in eigens eingerichteten sterilen Arbeitsplätzen.

Peter S., der gute Mensch von Bottrop. Auf den Schildern aller MediCity-Häuser in der Hochstraße steht: „Weil Gesundheit ein Geschenk ist“.

Heute verbreiten einige Menschen in der Stadt Legenden. Zum Beispiel, dass der Ex-Mann einer entlassenen Mitarbeiterin der Alten Apotheke aus Rache falsche Behauptungen über Peter S. verbreiten würden. Ein Mann, der alles Wissen nur aus zweiter Hand habe – und der wegen einer anderen Straftat verurteilt sei. Angeblich würde die Staatsanwaltschaft nur auf Basis dieser wagen Anschuldigungen ermitteln.

Zwar gibt es diesen Mann und seine Anzeige aus dem Jahr 2014 tatsächlich. Doch die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen in dieser Sache damals nicht weiterverfolgt. Die Ermittlungen wurden von den Anwälten von Peter S. zerredet und zu den Akten gelegt.

Harte Fakten

Die aktuellen Ermittlungen stützen sich auf mehrere neue Zeugen.

Es sind Leute, die aus erster Hand berichten können, was wirklich in der Alten Apotheke geschah, die direkten Einblick hatten und mutig genug waren, den Ring aus Geld um Peter S. zu zerbrechen. Die Zeugen geben an, dass sie die Vorgänge nicht decken wollten, sie wollten sich nicht mitschuldig machen. Sie berichteten der Staatsanwaltschaft auch von miserablen hygienischen Bedingungen im Labor der Alten Apotheke.

Die Zeugen sagten aus, Peter S. sei mit Straßenanzug und Hund ins Reinlabor gegangen, um Krebsmedikamente anzurühren.

Für Krebspatienten sind verunreinigte Medikamente gefährlich, ihr Immunsystem ist geschwächt. Wenn sie eine verkeimte Infusion in den Blutkreislauf kriegen, können sie sterben. Im Reinlabor müssen Mitarbeiter und Apotheker auf peinlichste Hygiene achten. Die Medikamente werden unter sterilen Bedingungen hergestellt.

Klaus Peterseim, Vorsitzender des Verbands der Zytostatika herstellenden Apotheker, sagt: „Aufgrund der Behandlung mit Krebsmedikamenten sind die Patienten sehr anfällig für Infektionen. Ihr Immunsystem ist geschwächt, ihre Abwehrkraft herabgesetzt. Eine Infektion kann schwerwiegende Folgen haben.“

Zeugen berichteten, dass sie im Labor der Alten Apotheke Hundehaare gefunden haben.

Gerüchte in der Stadt

Einige Menschen in der Stadt vermuten, Apotheker S. habe nur die Krankenkassen betrogen, nur ein wenig Geld links und rechts gemacht.

Tatsächlich geht es aber nicht nur um ein paar Euro nebenher. Er soll die Kassen um Millionen von Euro betrogen haben, weil er Infusionen ohne Wirkstoffe als Krebstherapie verkauft haben soll.

Vor allem dieser Abrechnungsbetrug begründet bisher den Verdacht, aufgrund dessen Peter S. in Untersuchungshaft sitzt.

Schwer zu ertragen

Für viele betroffene Menschen ist das erschütternd. Denn gegen Peter S. wird derzeit nicht wegen Mord oder Totschlag oder Körperverletzung ermittelt, sondern wegen Abrechungsbetrug und Panscherei. Das fühlt sich an, als wiege ihr Leiden nicht schwer bei der Suche nach Gerechtigkeit.

Doch der Begriff „Abrechnungsbetrug“ scheint der einzige, greifbare juristische Begriff für das zu sein, was Peter S. getan hat.

Um eine Körperverletzung nachzuweisen, müsste die Staatsanwaltschaft beweisen, mit welchem gepantschtem Medikament Peter S. welchen Patienten zu welcher Zeit versorgt hat – und welchen Schaden dieser Patient genau durch diese Arznei davon trug. „Das ist das Problem, vor dem wir stehen“, sagt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Und er versichert, dass die Ermittler alles versuchen würden, um Beweise zu finden.

Doch wie soll dieser Beweis geführt werden? Selbst wenn die gepanschten Medikamente Wirkstoffe enthalten hätten, wären sie in den Körpern der Krebskranken längst abgebaut worden – es ist nicht mit letzter Gewissheit zu beweisen, dass genau jene verabreichte Arznei keine Wirkstoffe enthielt.

Der Schaden durch die wirkungslosen Medikamente ist ebenfalls schwer festzustellen. Es passiert oft, dass ein Mensch an Krebs stirbt, weil Medikamente nicht anschlagen, oder weil er zu schwach ist. Wer kann beweisen, dass der Tod durch ein gepanschtes Medikament verursacht wurde?

Diese drohende Unbestrafbarkeit ist für Betroffene oft schwer zu ertragen. Sie fühlen sich von der Justiz im Stich gelassen.

Ein fast perfektes Verbrechen.

Es gibt Zweifel

Wahrscheinlich wäre Peter S. nie aufgeflogen, wenn es keine handfesten Belege gäbe, wie den Beutel ohne Wirkstoff, wie die Belege über die abweichenden Zahlen zwischen Einkauf und Verkauf.

Natürlich gibt es Zweifel. Die Zeugen hatten sie, die Ermittler hatten sie, auch ich hatte sie.

Hatte Peter S. vielleicht andere Bezugswege? Kaufte er auf dem Schwarzmarkt Krebsmedikamente, und erklärt sich so die Differenz zwischen der Menge der Wirkstoffe, die er offiziell eingekauft und die er bei den Krankenkassen abgerechnet hat? Hat er vielleicht halbleere Packungen mit Wirkstoffen, den sogenannten Verwurf, weiter verwendet? Also den Wirkstoff noch einmal verkauft?

Kann es also sein, dass er „nur“ die Krankenkassen betrogen hat – aber immerhin die Patienten nicht mit unwirksamen Arzneien versorgte?

Die Staatsanwaltschaft hat das überprüft. Ein Sprecher sagt: „Wir haben keine Hinweise für einen Schwarzhandel gefunden.“

Bei den Mengen an Wirkstoffen, um die es geht, wäre das auch sehr unwahrscheinlich.

Klaus Peterseim, vom Verband der Zytostatika-Apotheker, erklärt: „Die Überfüllung der Packungen mit Wirkstoffen der Krebsmedizin sind sehr gering. Die Wirkstoffe in der Krebstherapie sind sehr teuer.“ Auch das doppelte Abrechnen bereits angebrochener Medikamente sei nicht so einfach. Ein Apotheker müsse die Wirkstoffe aus einer angebrochenen Medikamenten-Packung für den nächsten Patienten weiterverwerten. Die Abrechnung mit den Kassen funktioniere hier nicht nach der Zahl der Packungen, sondern nach der Menge der verarbeiteten Wirkstoffe. Nur wenn kein weiterer Patient den Wirkstoff benötigt und der Rest deswegen weggeschmissen werden müsse, könne im Einzelfall eine angebrochene Packung abgerechnet werden, sagt Verbandschef Petersheim. „Aus der eingekauften Menge kann man unmöglich nennenswerte Mengen an Wirkstoff gewinnen, die man über die eingekaufte Menge hinaus verkaufen kann. Dass man auf diesen Wegen doppelt so viel Wirkstoff gewinnt wie man eingekauft hat, ist undenkbar“, sagt Peterseim.

Großen Mengen an Verwurf können also ausgeschlossen werden und Hinweise auf weitere Bezugsquellen auf dem Schwarzmarkt gibt es auch nicht. Die komplette Buchhaltung der Alten Apotheke liegt vor.

Hoffnungen

Ich kenne Krebspatienten, die an der Hoffnung hingen, die Arzneien aus der Alten Apotheke würden ihnen helfen, ihr Leben verlängern oder zumindest ihr Leiden lindern.

Ich habe Peter S. über seine Anwälte und die Alte Apotheke angeschrieben und gefragt, ob die Vorwürfe stimmen. Wir haben bis Redaktionsschluss keine Antwort bekommen.

Wir von CORRECTIV konnten Peter bei einem Gerichtstermin kurz mit unseren Fragen konfrontieren, sein Anwalt ging dazwischen und unterband eine Antwort. Kein Kommentar.

Es ist laut zu hören, wie Menschen in Bottrop schweigen.

Die Arbeit beginnt

Meine Recherche zur Alten Apotheke hat erst begonnen. Ich will nun mit vielen Leuten reden.

Die meisten Krebsmediziner und Krebsapotheker bemühen sich, ihren Patienten das Beste zu geben. Sie lindern Leiden. In der Forschung werden ständig Fortschritte gemacht. In der Behandlung und Betreuung Erfolge erzielt. Menschen leben länger. Das ist gut.

Umso wichtiger ist es, aus Krisen zu lernen. Wenn wir verstehen, wie der Fall der Alten Apotheke passieren konnte, können wir ähnliche Fälle vielleicht für die Zukunft ausschließen. Ich will deswegen alles aufschreiben, was in Bottrop passiert ist, um die Fehler im System zu finden.

  1. Ich will mit Betroffenen reden. Ich will ihre Geschichte hören. Was denken, was fühlen sie? Wie gehen sie mit dem Fall um, wie geht es weiter? Die Menschen im Hospiz, die Kranken und ihre Familien. Ich will mit ihnen drüber reden, was die Gesellschaft machen kann.
  2. Ich will verstehen, was Peter S. bewegt hat. Wie konnte er werden, was er wurde? Wie hat er gelebt? Ich will begreifen, was Peter S. in der Stadt getan und geplant hat?
  3. Ich will den Aufsichtsbehörden nachgehen. Warum haben sie das Treiben nicht entdeckt und beendet? Was lief da falsch? Und wie können solche Misstände in Zukunft verhindert werden? Wie laufen die Kontrollen im Großhandel? Wer greift nur nach Geld und Macht?

Die Recherche wird lange dauern.

Ich will alles aufschreiben.

Ich glaube, das ist wichtig.

Die Alte Apotheke ist ein Familienunternehmen. Seit Jahrzehnten im Besitz der Familie von Peter S. – 2009 pachtete er dann selbst den Betrieb der Alten Apotheke von seiner Mutter, nachdem er dort schon lange gearbeitet hatte. 2012 überschrieb die Mutter ihm dann auch das Gebäude. Nach Bekanntwerden des Skandals gab ihr Peter S. aus der Haft heraus die Alte Apotheke zurück. Die Mutter selbst lies sich wieder als Betreiberin eintragen. Ihre Anwälte sagen: sie habe nichts mit dem Skandal zu tun.


Ich möchte mit Ihnen reden:

Wenn Sie mit mir reden möchten, mir ihre Geschichte erzählen wollen, schreiben Sie mich kurz an. Ich melde mich dann bei Ihnen so schnell es geht.

Entweder per Email: alteapotheke@correctiv.org

Oder schreiben Sie mir einen Brief.

CORRECTIV

z.H. David Schraven

Huyssenallee 11

45128 Essen