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Abitur nach 8 Jahren – Wer hat G8 in NRW tatsächlich eingeführt?

In NRW will die neue Landesregierung von CDU und FDP das Abitur nach neun Jahren (G9) wieder einführen. So steht es jedenfalls im Koalitionsvertrag. Bislang galt: Das Abitur in NRW muss nach spätestens acht Jahren in einer weiterführenden Schule (G8) abgelegt werden. Das klingt nach einer Rolle rückwärts. In der politischen Debatte heißt es nämlich, G8 sei doch erst 2005 eingeführt worden – und zwar auch von einer schwarz-gelben Regierung. Das sagt beispielsweise der Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer NRW, Franz Roggemann. Doch stimmt das überhaupt? Wer hat G8 in NRW eingeführt? Eine Spurensuche.

von Pauline Schinkels

© 0905_Turbo-Abi-Demo155 von Webmaster Glockensee unter CC BY-NC-ND 2.0

Drei Wochen hat Schwarz-Gelb gebraucht, um das G8 nach der Landtagswahl 2017 weitgehend zu killen. Am 14. Mai war die Landtagswahl, am 7. Juni verkündeten die Wahlsieger von FDP und CDU die „prinzipielle“ Rückkehr zu G9. Zuvor hatten jahrelang Schüler, Jugendverbände, Eltern und Initiativen im Clinch mit der rot-grünen Landesregierung wegen der verkürzten Gymnasialzeit gestritten.

Jetzt kommt also vonseiten der Landesregierung das Angebot der Wahlfreiheit. Denn vereinzelte Gymnasien können bei G8 bleiben, wenn sie wollen. „Wir rechnen aber damit, dass die Mehrzahl der Gymnasien zum neunjährigen Abitur zurückkehren wird“, sagt Peter Silbernagel, Vorsitzender des Philologenverbands NRW. Landesweit, schätzt er, werden vielleicht 50 der rund 620 Gymnasien bei G8 bleiben. Das Abitur nach acht Jahren war erst 2005 eingeführt worden. Davor galt der Standard G9 – das Abitur nach neun Jahren weiterführender Schule, wie in vielen anderen Bundesländern.

NRW steht mit der Rückkehr zu G9 nicht allein. Niedersachsen kehrte bereits 2015 als erstes Bundesland flächendeckend zu G9 zurück, der Freistaat Bayern schnürte Anfang April ein entsprechendes Bildungspaket. In Hessen gibt es seit dem Schuljahr 2013/2014 die Wahlfreiheit zwischen G8 und G9. Das löste viele kontroverse Diskussionen  aus zwischen Eltern, Schulen und den jeweiligen Schulträgern, den Kommunen. Ähnliches habe man in NRW vermeiden wollen, sagte der NRW-CDU-Vorsitzende Armin Laschet. Deshalb jetzt die „Leitentscheidung zugunsten von G9“, wie der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner es formulierte. Und die damit verbundene Wahlfreiheit.

Ist die jetzige Rückkehr zum alten Abitur eine Rolle Rückwärts von CDU und FDP? Wurde nicht unter schwarz-gelb damals das G8 eingeführt? Einige Leute, wie der Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer NRW, Franz Roggemann sagen das. In weiten Teilen der Berichterstattung gilt diese Ansicht als Tatsache. Doch stimmt das? Unsere Spurensuche zeigt: so einfach ist das nicht.

Wie in den meisten Bundesländer wurde auch in NRW die G8-Reform hier Mitte der 2000er Jahren auf den Weg gebracht. Deutsche Schüler, hieß es damals, seien zu schlecht und zu alt. Die internationale Vergleichsstudie Pisa stellte den Kindern ein verheerendes Zeugnis aus. Und deutsche Arbeitgeberverbände attestierten den Schülern, sie würden im internationalen Vergleich deutlich später ihren Abschluss machen. 13 Jahre Schule, meinte man, seien ein Standortnachteil für Deutschland.

2000 beantragte die NRW-FDP, dass „Abitur in zwölf Jahren“ einzuführen. Eine Forderung nach dem G8, die auch Christian Lindner damals unterstützte. Das verkürzte Abitur zunächst im Modellversuch zu testen, hielten die Antragsteller für „überflüssig“. Grüne und SPD lehnten damals ab – noch.

„Für einen Neuanfang in der Bildungspolitik“, plädierte der damalige CDU-Landesvorsitzende Jürgen Rüttgers. Der gleichnamige Antrag seiner Partei aus dem Jahr 2003 enthielt ein ganzes Maßnahmenbündel. Rüttgers Punkt Sieben: die Schulzeitverkürzung, von G9 auf G8. Im gleichen Jahr folgten noch weitere Anträge von CDU und FDP für G8. 

Ein Jahr später, im Mai 2004, legte dann die damals in NRW regierende rot-grüne Regierung einen Gesetzentwurf für ein neues Schulgesetz vor, das sieben Einzelgesetze zusammen fassen sollte – unter anderem enthielt dieses Schulgesetz die Verkürzung der Schulzeit am Gymnasium auf zwölf Jahre: nun wollte auch Rot-Grün G8 einführen. Sylvia Löhrmann (Grüne) sprach damals von „sieben auf einen Streich“. CDU und FDP wetterten, dass sie viele Punkte aus dem rot-grünen Gesetzentwurf bereits jahrelang gefordert hätten. „Im Grunde genommen werden jetzt Selbstverständlichkeiten geregelt“, ließ Bernhard Recker von der CDU damals verlauten. 

Am 27. Januar 2005 wurde dann das NRW-Schulgesetz – und damit die Einführung von G8 – unter einer rot-grünen Landesregierung mit den Stimmen von SPD und Grünen gegen die Stimmen von CDU und FDP verabschiedet. Am 15. Februar 2005 wurde es verkündet und trat damit in Kraft. 

Die erste Reform des Gesetzes kam schnell. Die Landtagswahlen im Mai 2005 gewann Schwarz-Gelb. Und anders als Rot-Grün wollten FDP und CDU für die Umstellung von G9 auf G8 ein ganzes Schuljahr nicht in der Oberstufe kürzen, sondern in der Sekundarstufe I. So kam es dann auch bei der Einführung von G8. Ein Schuljahr zwischen der fünften und zehnten Klasse fiel weg.

Im Jahr 2010 wurde die schwarz-gelbe Regierung wieder abgelöst. Jetzt regierten wieder SPD und Grüne. Sie hielten an G8 in der von CDU und FDP beschlossenen Form fest – auch gegen den sich immer breiter formierenden Widerstand.

Im Jahr 2015 gelang es einer Volksinitiative den Landtag in NRW zu zwingen, noch einmal über G8 zu debattieren. Über 110.000 Menschen hatten das gefordert. Die Regierungsfraktionen SPD und Grünen lehnten allerdings den Wunsch nach Wiedereinführung von G9 zusammen mit der oppositionellen FDP ab; die ebenfalls oppositionelle CDU enthielt sich. 

Im NRW-Wahlkampf 2017 wurde das Thema dann breit aufgegriffen. Eine Initiative hatte es geschafft, ein Volksbegehren zur Rückkehr von G9 zu starten. Nun trat auf einmal jede Partei für eine Reform der G8-G9-Reform ein. Eine breite Rückkehr zu G9 unterstützte dabei niemand. Stattdessen wollten die Parteien mehr Wahlfreiheit ermöglichen.

„Die Rückkehr zu G9 ist nicht die Patentlösung.“
Klaus Kaiser (CDU) MdL NRW, 2015

„Es wäre in unseren Augen ein Fehler, die Gymnasien erneut in jahrelange Umstellungsprozesse zu stürzen.“
Yvonne Gebauer (FDP) MdL NRW, 2015

„Mit einer Rückkehr zu G9 ist uns hier also nicht geholfen.“
Eva Voigt-Küppers (SPD) MdL NRW, 2015

„Wir dürfen keine Rückwärtsrolle machen.“
Sigrid Beer (Grüne) MdL NRW, 2015

Die gekürzten Zitate sind aus dem Plenarprotokoll entnommen, die vollständigen Textpassagen können Sie hier einsehen.
 

Aber nicht nur die Wahl erhöhte den Druck auf die Parteien, sich zu G8 neu zu positionieren. Vor allem das Volksbegehren „G9 jetzt NRW“ mobilisierte. Laut eigenen Berechnungen hat die Initiative bis Juni bereits 500.000 Unterschriften gesammelt, rund 500.000 weitere Unterschriften fehlen noch. Dann muss die Landesregierung entweder zu G9 zurückkehren oder alle Wahlberechtigten in NRW über G9 abstimmen lassen.

Nach der Entscheidung von CDU und FDP, die Rückkehr zum Abitur nach neun Jahren zu ermöglichen, wollen die Initiatoren das Volksbegehren jedenfalls nicht einstellen. Da die jetzigen 3. bis 6. Klassen ihr Abitur nach jetzigem Stand wohl noch in zwölf Jahren machen müssen, würden weiter Unterschriften gesammelt, heißt es. 

Die Diskussion um G9 dürfte in Nordrhein-Westfalen also noch nicht beendet sein.

Fazit

Die Behauptung, eine Landesregierung von CDU und FDP habe an 2005 die Schulzeitverkürzung von G9 auf G8 eingeführt, stimmt nicht ganz. Die Verkürzung der Schulzeit wurde grundsätzlich von allen Regierungsparteien ab 2004 getragen. Unstimmigkeiten gab es nur darüber, in welcher Stufe eine Klasse gekürzt werden sollte. SPD und Grüne wollten in der Oberstufe eine Klasse heraus nehmen; CDU und FDP in der Sekundarstufe I.

Richtig ist: Die Einführung von G8 wurde von einer rot-grünen Landesregierung beschlossen und noch vor den Landtagswahlen 2005 verkündet. Diese Reform wurde dann modifiziert von einer schwarz-gelben Landesregierung ab 2005 umgesetzt und von einer erneuten rot-grünen Landesregierung ab 2010 weiter vorangetrieben.

Chronologie des G8-Abiturs in NRW

  • 2003: FDP und CDU beantragen jeweils die Schulzeitverkürzung. Die Anträge werden abgelehnt.
  • Mai 2004: Die rot-grünen Landesregierung legt erstmals den Entwurf zum einem neuen NRW-Schulgesetz vor. Der Entwurf enthält sieben Einzelgesetze – darunter auch die Schulzeitverkürzung von G9 auf G8. In der Oberstufe soll eine Klasse wegfallen.
  • 27. Januar 2005: Der Landtag NRW beschließt mit den Stimmen von SPD und Grünen (117) gegen die Stimmen von CDU und FDP (110) das neue Schulgesetz und damit die Schulzeitverkürzung von G9 auf G8.
  • 15. Februar 2005: Das Schulgesetz von NRW wird verkündet.
  • 22. Mai 2005: CDU und FPD gewinnen die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. SPD und Grüne verlieren. In dem kurz darauf beschlossenen Koalitionsvertrag kündigt die neue schwarz-gelbe Landesregierung bereits eine Novellierung des Schulgesetzes an.
  • 27. Juni 2006: Mit dem zweiten Schulrechtsänderungsgesetz wird die Sekundarstufe I auf fünf Jahre verkürzt und die Sekundarstufe II auf drei Jahre festgelegt — anders als von Rot-Grün ursprünglich vorgesehen wird damit für G8 eine Klasse in der Sekundarstufe I und nicht mehr in der Oberstufe gekürzt. Die Gesetzesänderung wird mit den Stimmen von CDU und FDP (mit Ausnahme einer FDP-Stimme) und gegen die Stimmen von SPD und Grüne angenommen.
  • 9. Mai 2010: Die CDU gewinnt nur knapp die Landtagswahlen. Im Landtag reicht es weder für eine rot-grüne noch eine schwarz-gelbe noch eine schwarz-grüne Mehrheit. Nach Koalitionsverhandlungen bildet sich unter Hannelore Kraft (SPD) eine rot-grüne Minderheitsregierung, die von der Linkspartei toleriert wird. Die neue rot-grüne Koalition für die G8-Reform weiter.
  • 2011: In Modellversuchen können erste Gymnasien in NRW zum G9-Abitur zurückkehren. Elf Gymnasien in NRW kehren zu G9 zurück, drei bieten sowohl G8 als auch G9 an.
  • 13. Mai 2012: Nach dem plötzlichen Ende der rot-grünen Minderheitsregierung gewinnen SPD und Grüne Neuwahlen und können eine stabile Regierung bilden, die sich auf eine breite Mehrheit im Landtag stützt.
  • September 2012: Die Dortmunder Schülerin Merle Ruge startet eine Online-Petition gegen G8 in NRW. Bis März 2013 unterzeichnen etwa 10.000 Leute.
  • Sommer 2013: Der sogenannte doppelte Abiturjahrgang verlässt die Schulen
  • 2013: Die „G9-jetzt!“-Initiative wird gestartet. Mit dieser Volksinitiative können die Initiatoren erreichen, dass sich der Landtag im Juni 2015 mit einem Thema befasst. Über 110.000 Personen unterzeichnen die Initiative. Im Landtag scheitert die Forderung der „G9-jetzt!“-Initiative allerdings. FDP, SPD und Grüne lehnen die Forderung nach der erneuten Einführung von G9 ab. Unterstützung kam von den Piraten. Die CDU enthält sich. Das entsprechende Protokoll finden Sie hier.
  • Mai 2014: Die damalige Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) ruft den „Runden Tisch zu G8/G9“ ein.
  • Januar 2017: Das Volksbegehren „G9 jetzt NRW“ wird von den Unterstützern der zuvor gescheiterten „G9-jetzt!“-Initiative gestartet. Für das Volksbegehren müssen rund acht Prozent der Wahlberechtigten in NRW (etwa eine Millionen Menschen) für die Einführung von G9 unterschreiben. Es ist das erste Volksbegehren in NRW seit Jahrzehnten.
  • 14. Mai 2017: Landtagswahlen in NRW. Schwarz-gelb gewinnt knapp die Mehrheit im Landtag.
  • 7. Juni 2017: CDU und FDP verkünden, dass in NRW ab dem Schuljahr 2019/2020 das Abitur in 13 Jahren wieder möglich sein soll. Dieses Vorhaben ist auch im neuen Koalitionsvertrag verankert.