Der Prozess

Der Prozess, Tag 4

Der vierte Prozesstag in einem der größten Medizinskandale der Nachkriegszeit. Der Prozess wird nicht neu angesetzt. Der Richter lehnt diese Forderung der Nebenklage ab. Ohne Ersatzschöffen wird weiter verhandelt. Die Anwälte des Bottroper Apothekers scheitern mit der Ablehnung des Sachverständigen vom Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen. Der Apotheker sagt als einer der wichtigsten Zeugen der Anklage aus. CORRECTIV berichtet aus dem Gerichtssaal.

von Cristina Helberg , Marcus Bensmann

© Correctiv.Ruhr

Acht Journalisten sitzen in der ersten Reihe des Zuschauerraumes. Dahinter bleiben zwei für die Presse reservierte Stuhlreihen leer. Auch die Zuschauer sind überschaubar. Ein Zuschauer im eleganten grauen Anzug fällt auf. Er schreibt detailliert mit. In der Verhandlungspause gesellt er sich zu Stadtmanns Anwälten. Welche Funktion er für die Verteidigung hat, ist unklar. Der Vorsitzende Richter setzt zwölf weitere Verhandlungstage an. Der Prozess wird mindestens bis März 2018 laufen.

Welchen Eindruck machte Peter Stadtmann?

Bei der Befragung des Sachverständigen und Apothekers Christoph Luchte geht es um pharmazeutische Details. Peter Stadtmann fixiert den Gutachter vom Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen mit düsterem Blick und runzelt immer wieder die Stirn. Während des souveränen Auftritts von Luchte verdunkeln sich auch die Mienen der Verteidiger.

Der Auftritt des starken Zeugen Luchte beruhigt die Nebenkläger- und klägerinnen. In den ersten Tagen wirkte die Nebenklage teilweise gespalten. Jetzt rücken die Anwälte der Nebenkläger zusammen. Die Betroffenen wollen die Ablehnung des Sachverständigen Christoph Luchte  verhindern. Ihre Anwälte verfassen dazu eine gemeinsame Erklärung. Es gilt, was viele Betroffene schon in ihrem Kampf gegen den Krebs erlebt haben: Gemeinsam ist man stärker.

Die wichtigsten Ereignisse des Tages:

  • Fortsetzung ohne Ergänzungsschöffen: Die Kammer weist den Antrag der Nebenkläger auf Aussetzung des Prozesses zurück. Die Verhandlung geht wie geplant weiter. Allerdings mit einem Risiko. Es steht kein Ersatzschöffe bereit. Sollte einer der zwei aktuellen Schöffen ausfallen, würde der Prozess platzen. Die Entscheidung begründet der Vorsitzende Richter Johannes Hidding mit dem Grundsatz der Beschleunigung und dem Recht auf den gesetzlichen Richter. Damit gemeint sind zwei Dinge: Eine Neuansetzung würde die Verhandlung verzögern. Das ist aus Sicht der Richter nicht vertretbar. Hinzu kommt das Recht auf den gesetzlichen Richter. Der Richter und die Schöffen werden nach einem gesetzlich bestimmten Verfahren bestimmt. Nachträglich berufene Ersatzschöffen lehnt Hidding deshalb ab. Die eventuelle Gefahr eines Scheitern des Prozess reicht nicht aus, um die Kammer neu zu besetzen.

  • Verteidiger wollen Sachverständigen verhindern: Am vierten Verhandlungstag soll der Zeuge und Sachverständige Christoph Luchte aussagen. Luchte ist Apotheker und einer der Laborleiter im Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen (LZG). Er hatte die Razzia im Zyto-Labor der Alten Apotheke begleitet und später ein Gutachten zu den Therapien geschrieben. Das LZG hat zusammen mit dem Paul-Ehrlich-Institut die beschlagnahmten Krebstherapien auf Wirkstoffe geprüft. Die Anwälte Stadtmanns wollen verhindern, dass der Laborleiter Luchte zum Sachverständigen ernannt wird. Sie verweisen in ihrem Ablehnungsgesuch auf drei zentrale Gründe. Demnach habe Christoph Luchte seine Kompetenzen überschritten, als er in seinem Gutachten auf Paragraphen im Pharmagesetz verwies. Als Sachverständiger sei es ihm nicht erlaubt, sich zu rechtlichen Aspekten der Untersuchung zu äußern. Als zweiten Punkt werfen sie der Staatsanwaltschaft vor, der Laborleiter sei in die Ermittlungsarbeit eingebunden worden. Für diese Argumentation nutzen die Anwälte Stadtmanns ein Zitat des Kriminialhauptkommissars Ulrich Herold. Er hatte am zweiten Verhandlungstag ausgesagt, dass Luchte bei der Untersuchung des Reinraumlabors im Zuge der Razzia „freie Hand gehabt habe“. Die Verteidiger nutzen unbedarfte Aussagen der Zeugen vor Gericht. Das dritte Argument der Verteidigung ist der angeblich „unsachliche Stil im Gutachten“. Christoph Luchte hatte im Gutachten hinter die Feststellung, dass die beschlagnahmten Zubereitungen unterdosiert waren, ein Ausrufezeichen gesetzt. Dieses Ausrufezeichen interpretieren die Verteidiger als Wertung. Generell habe Luchte „einen sehr hohen Belastungseifer offenbart“. Das widerspreche der Neutralitätspflicht eines Sachverständigen.

  • Staatsanwalt kommt in Fahrt: Der Staatsanwalt wirkte bisher oft defensiv. Heute entkräftet er alle Kritikpunkte der Verteidigung in seiner Stellungnahme. Sachverständiger müssten immer juristische Einordnungen vornehmen, argumentiert der Staatsanwalt. Denn seine Aufgabe sei es ja allen Prozessbeteiligten klar zu machen, wie die Ergebnisse einzuordnen sind.  Polizeibeamte hätten während der Razzia im Zytolabor den Gutachter Luchte ununterbrochen begleitet und die Medikamente mitgesichert. Damit sei klar, dass Luchte nie Ermittlungen selbst geführt habe, sondern die Kriminalpolizei. Auch auf den Punkt der Ausrufezeichen im Gutachten geht der Staatsanwalt ein. „Völlige Spekulation“ sei die Deutung der Verteidiger. Wofür die Ausrufezeichen stehen, könne letztendlich nur Luchte wissen.

  • „Stadtmann klammert sich an Ausrufezeichen“: Die Nebenkläger gehen auf die Unterstellungen der Verteidigung in einer gemeinsamen Erklärung ein. „Herr Stadtmann klammert sich nicht an einen Strohhalm, sondern an ein Ausrufezeichen“, sagt der Nebenklage Anwalt Khubaib-Ali Mohammed. Inhaltlich argumentieren sie wie der Staatsanwalt.

  • Erfolg für die Anklage: Stadtmanns Anwälte scheitern mit ihrem Ablehnungsgesuch gegen den Sachverständigen Christoph Luchte. Der Apotheker und Laborleiter des LZG kann nach stundenlangem Warten den Saal betreten und als Zeuge und Sachverständiger aussagen. Luchte sagt, dass das LZG bei der Prüfung von Zytostatika Expertise habe, und verweist auf das Projekt ZYTOK von 2012. Der wichtigste Zeuge der Anklage berichtet detailliert und kompetent von den Analysemethoden der beschlagnahmten Krebsmedikamente. Er wirkt deutlich sicherer als die vorherigen Zeugen der Kriminalpolizei. Immer wieder erfragt der Vorsitzende Richter Johannes Hidding Details zu den komplexen Untersuchungen. Luchte kann alle Fragen souverän beantworten. Er soll am nächsten Verhandlungstag weiter berichten.

Video:

Berichterstattung:

Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag:

Am nächsten Verhandlungstag am Mittwoch, den 22.11.2017, wird die Aussage des Sachverständigen und Zeugen Christoph Luchte fortgesetzt. Dann haben auch Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung die Möglichkeit Fragen zu stellen. Der eigentlich für Mittwoch geladene Zeuge Dr. Siegfried Giess vom Paul-Ehrlich- Institut wird für einen anderen Tag geladen.