Alte Apotheke

Razzia im Zyto-Labor: der vergessene Raum

Bei der Razzia in den Laborräumen der Alten Apotheke vor genau einem Jahr haben Ermittler einen Raum übersehen. Erst neun Monate später wurde dieser entdeckt. Darin Kisten mit Herstellungsprotokollen. Auf die Ermittlungen gegen den Bottroper Pansch-Apotheker Peter Stadtmann hatte der Fund keinen Einfluss, sagt die Staatsanwaltschaft.

von Cristina Helberg , Cem Bozdoğan , Bastian Schlange

Um 6 Uhr begann am 29. November 2016 die Razzia gegen Peter Stadtmann.© Correctiv.Ruhr

Mit der Razzia am 29. November 2016 wurden die letzten Beweise gegen den Bottroper Apotheker Peter Stadtmann gesichert. Seit genau einem Jahr rollen Behörden aber auch Betroffene und Medien die skandalösen Ereignisse um die gepanschten Krebsmedikamente aus Bottrop auf. Dabei läuft nicht immer alles rund. Besonders peinlich ist ein kompletter Raum, der bei der Razzia übersehen wurde. Darin: wichtige Dokumente zur Herstellung von Zytostatika.

Die Razzia

Es ist kalt am Morgen der Razzia, keine vier Grad, als sich Ende November vergangenen Jahres Beamte der Polizei, Vertreter der Staatsanwaltschaft und Gesundheitsbehörden vor den drei Lebensmittelpunkten von Peter Stadtmann versammeln: an seiner Privatvilla etwas außerhalb der Stadt, vor der Alten Apotheke in der Bottroper City und am Zyto-Labor, das direkt gegenüber der Apotheke im Keller eines Reihenhauses liegt.

Als um 6 Uhr in der Früh die Razzia beginnt, ist Peter Stadtmann noch nicht da. Ein leitender Mitarbeiter des Zyto-Bereichs öffnet den Beamten das elektronische Sicherheitsschloss zum Laborkeller. Ein halbes Dutzend blauer Transportwannen des Apothekengroßhändlers Noweda steht im Vorraum zum Büro. Darin Blätterberge aus Herstellungsprotokollen. Eigentlich wichtige Dokumente, die jeder Zyto-Apotheker für mindestens fünf Jahre archivieren und bei Bedarf vorzeigen muss.

Das Büro, der Lager- und auch der Laborraum – sie alle sind durch Nummernblöcke und Fingerscans gesichert. Der Mitarbeiter gewährt den Beamten Zugang. Insgesamt acht Polizeibeamte durchsuchen den Laborbereich, beschlagnahmen Zytostatika-Zubereitungen aus dem Reinraum, finden ungekühlte Zubereitungen in offenen Transportboxen, sichern Computerdaten und Unterlagen.

Der vergessene Raum

Doch in den acht Stunden, die die Ermittler im Keller der Hochstraße verbringen, übersehen sie eine Tür. Auf ihr steht Technikraum. Vielleicht kommen sie auch nicht auf die Idee, sich den Schlüssel geben zu lassen. Hinter der Tür stehen 18 weitere Noweda-Wannen. In diesen Wannen Bestellungen von Onkologen aus dem Zeitraum Dezember 2015 bis Juli 2016  und Herstellungsprotokolle von Zytostatika, die zwischen Januar und Mai 2016 zubereitet wurden. Auf den Herstellungsprotokollen fehlen die vorgeschriebenen Unterschriften.

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Die Dokumente lagerten im Technikraum des Kellers an der Hochstraße.

Correctiv.Ruhr

Bis die Wannen mit diesen Dokumenten gefunden werden, vergehen neun Monate. Neun Monate, in denen Peter Stadtmann in Untersuchungshaft sitzt und am Landgericht Essen der Prozess gegen ihn vorbereitet wird. Neun Monate, in denen in der Hochstraße in Bottrop weiter gearbeitet wird. Seit der Razzia dürfen dort keine Zytostatika mehr hergestellt werden. Aber sonst läuft der Betrieb im Haus normal. In der ersten Etage des Reihenhauses behandeln die Onkologen Christian Tirier und Dirk Pott. Sie gehören zu den größten Abnehmern der gepanschten Krebsmedikamente von Peter Stadtmann.

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Diese 18 Kisten wurden neun Monate vergessen. Die Fotos wurden CORRECTIV anonym zugespielt.

Correctiv.Ruhr

Ende August 2017 entdeckt ein Mitarbeiter des Hauses durch Zufall die Kisten in der Brandmeldezentrale. Per Telefon meldet er seinen Fund der Staatsanwaltschaft. Die Brandmeldezentrale ist keine kleine Kammer, die man so einfach übersehen könnte. Sie ist als Technikraum gekennzeichnet. Hinter der ersten Tür führen ein paar Stufen runter in einen geräumigen Vorraum. Von dort gehen zwei abschließbare Räume ab. Im linken stehen die 18 gestapelten Transportwannen. Voll mit Dokumenten. Auf einer klebt ein Zettel. „Alte Apotheke“ hat jemand mit Filzstift darauf geschrieben.

Keinen Beweiswert

Warum so wichtige Dokumente in einem verschlossenen Technikraum gelagert wurden, haben die Ermittler nicht geklärt. Auf CORRECTIV-Anfrage, ob zumindest ermittelt wurde, welche Personen Zugang zu dem verschlossenen Raum hatten, antwortete die Staatsanwaltschaft Essen nur: „Wir haben dazu keine Ermittlungen durchgeführt, da die Papiere keinen Beweiswert besaßen.“ Sie seien bereits elektronisch erfasst gewesen.

Die Beweise gegen Peter Stadtmann

Im November 2016 stellten die Ermittler bei der Razzia im Zyto-Labor der Alten Apotheke insgesamt 117 fertige Therapiebeutel und Spritzen sicher. Keines der aufgefundenen Präparate war ordnungsgemäß beschriftet. Bei 36 Zubereitungen konnten sich die Herstellungsprotokolle bis heute nicht finden; Dokumentationen, die Paragraph 7 der Apothekenbetriebsordnung vorschreibt und sich bei Stadtmann im Kunstoffwannen stapelten. Das Herstellungsdatum auf den sichergestellten Therapiebeuteln fehlte sogar durchweg. Was ein Problem ist, denn Krebsmedikamente sind nur kurz haltbar und müssen schnell nach der Zubereitung verabreicht werden. All diese Zustände sind Hinweise darauf, wie inkorrekt es Peter Stadtmann mit der Herstellung und Dokumentation seiner Medikamente nahm.

Auch die Untersuchungsergebnisse, die später folgen, sind eindeutig: Über die Hälfte der Anmischungen ist unterdosiert. Manche enthalten den falschen Wirkstoff. Und nicht nur Krebsmedikamente sind betroffen. Bei der Razzia wurde auch sogenannte Begleitmedikation sichergestellt, wie zum Beispiel Dexamethason, ein Mittel gegen Übelkeit während der Chemotherapie. Bei diesem hat Peter S. ebenfalls gepanscht.

Die Beamten haben bei der Razzia die Computer der Alten Apotheke beschlagnahmt, auf denen die Buchhaltung gespeichert war. Und auch Zenzy, ein Programm, das zur Organisation und Dokumentation der Zytostatika-Herstellung in vielen Apotheken verwendet wird. Hier seien auch die Herstellungs-Protokolle aus dem vergessenen Raum erfasst, heißt es in Unterlagen aus Ermittlerkreisen, deswegen hatte man sie nicht extra beschlagnahmt. Die fehlenden Protokolle zu den 36 Anmischungen, die bei der Razzia sichergestellt wurden, seien aber weder in der Datenbank noch in den Dokumentenstapeln aus dem Technikraum gefunden worden. Auf Basis der Berechnung aus den Ein- und Verkaufsmengen der Buchhaltung und des Untersuchungsergebnisses der sichergestellten Infusionen hat die Staatsanwaltschaft schließlich ihre Anklage gegen Peter Stadtmann erhoben. Der Prozess wird seit dem 13. November 2017 vor dem Landgericht Essen verhandelt. Hier geht es zu unserem Prozess-Tagebuch.