Der Prozess

Der Prozess, Tag 10

Am zehnten Prozesstag in einem der größten Medizinskandale der Nachkriegszeit wird die Vernehmung der Whistleblowerin Marie Klein fortgesetzt. Sie beschreibt, wie man sich in der Alten Apotheke auf eine angekündigte Kontrolle der Amtsapothekerin vorbereitete. CORRECTIV berichtet aus dem Gerichtssaal.

von Cristina Helberg , Marcus Bensmann , Cem Bozdoğan

Zweite Vernehmung von Whistleblowerin Marie Klein im Landgericht Essen© correctiv.ruhr

Der Prozess findet wieder im großen Saal 101 statt. Die Zuschauertribüne ist mäßig besetzt, ungefähr 16 Personen sind bei der zweiten Vernehmung von Marie Klein anwesend. Ein Kamerateam ist ebenfalls vor Ort.

Welchen Eindruck macht Peter Stadtmann?

Vor dem Beginn des heutigen Verhandlungstages versammeln sich Peter Stadtmann und seine Anwälte im Kreis und sprechen sich ab. Bei der Vernehmung hört Stadtmann genau zu und macht sich zwischendurch Notizen. Währenddessen runzelt er immer wieder die Stirn – zum Beispiel, als Klein über die Herstellungsprotokolle berichtet.

Welchen Eindruck machen die Betroffenen?

Wie an den letzten Prozesstagen sind auch heute viele der Betroffenen im Gericht anwesend – die Mehrheit von ihnen durchgehend seit dem ersten Prozesstag. Eine Gruppe von Nebenklägerinnen wird von einem Kamerateam begleitet und gibt nach Verhandlungsschluss Interviews. Marie Klein und einige der Betroffenen halten vor der Vernehmung Blickkontakt und lächeln sich zu.

Die wichtigsten Ereignisse des Tages:

  • Kontrollen ohne Wirkung: Offenbar bereitete man sich in der Alten Apotheke Ende des Jahres 2015 ausgiebig auf eine angekündigte Kontrolle der zuständigen Amtsapothekerin vor. Bevor in dem neuen Labor der Alten Apotheke Therapien hergestellt werden konnten, musste die Amtsapothekerin eine Betriebsgenehmigung erteilen. Dafür war eine Kontrolle vor Ort vorgesehen. Klein sagt, dass deshalb im November 2015 fehlende Herstellungsprotokolle von zwei Mitarbeitern nachproduziert wurden. „Auf einmal waren da Unmengen von Papier, die bedruckt wurden.“ Diese seien in Wannen des Pharmagroßhändlers Noweda hinter einer Tür gestapelt worden. Auch in dem Raum, den die Ermittler bei der Razzia vergaßen und erst neun Monate später inspizierten, fanden sich 18 solcher Wannen mit Dokumenten. Die Kontrolle der Amtsapothekerin im Januar 2016 verlief für Peter Stadtmann problemlos. Noch am Tag der Überprüfung konnte die Produktion starten. CORRECTIV liegt das Fragment eines Begehungsprotokolls vor. Ernst nahm man die behördlichen Kontrollen in der Alten Apotheke offenbar nicht. „Sie kann dich am Arsch lecken“ ist als handschriftlicher Vermerk darauf zu lesen.

  • Protokolle mit „blindem Vertrauen“: Mit dem Umzug in das neue Labor der Alten Apotheke änderte sich laut Marie Klein auch die Dokumentation im Labor. Vorher habe immer ein Mitarbeiter produziert und ein Mitarbeiter parallel an einem Laptop dokumentiert. Im neuen Labor gab es laut Klein jedoch keinen Laptop mehr. Deshalb sei die Dokumentation im Nachhinein im Büro gemacht worden, auch von Mitarbeitern, die selbst nicht hergestellt hatten. „Das war blindes Vertrauen“, sagt Klein.

  • Mögliche Schwarzkäufe und Lagerbestände: Die Verteidigung befragt Marie Klein detailliert zur möglichen Verwendung von illegal gekauften Wirkstoffen in der Alten Apotheke. Klein hatte bei der Polizei ausgesagt, dass sie Schwarzkäufe eher ausschließe. „Diese Wirkstoffe hätte ich an den ausländischen Etiketten erkannt“, sagt Marie Klein auf Nachfrage der Verteidigung. Stadtmanns Anwälte verweisen auf mögliche Schwarzkäufe aus Deutschland. „Das wäre für mich dann nicht erkennbar“, antwortet Klein. Der Vorsitzende Richter kommt auf das Thema der Lagerbestände zurück. Stadtmanns Anwälte hatten neben Schwarzkäufen auch große Lager von Wirkstoffen als mögliche Erklärung für die Differenz zwischen eingekauften und verkauften Wirkstoffmengen ins Spiel gebracht. „In der Apotheke war immer ausreichend von allem da. Auch viele Antikörper“, sagt Klein. Diese Aussage könnte für die Verteidigung nützlich sein, sagt ein Anwalt der Nebenklage. Einen Überblick über die Warenlage insgesamt habe sie aber nicht gehabt. Nach Recherchen von CORRECTIV macht die Lagerung großer Mengen in einem Zytolabor eigentlich wenig Sinn. Denn je länger die Krebsmittel auf dem Markt sind, desto billiger werden sie. Läuft das Patent ab, kann jedes Unternehmen sie herstellen. Das schafft Konkurrenz und drückt den Preis. Außerdem müssen die Therapien durchgehend gekühlt werden. Eine lange Lagerung ist daher wirtschaftlich unsinnig. Das bestätigt auch der Düsseldorfer Apotheker Gregor Müller. „Zytostatika werden in der Regel just-in-time geliefert“, sagt Müller, die maximale Vorhaltung für Krebsmedikamente sei ein Monat. Wir haben ausführlich zu den Nebelkerzen der Verteidigung berichtet.

  • Forderten die Ermittler Beweise von den Whistleblowern?: Die Verteidigung möchte von Marie Klein wissen, ob sie von der Polizei aufgefordert wurde, einen Infusionsbeutel als Beweis zu liefern. Klein verneint das. Sie habe sich auch nicht mit Porwoll abgesprochen. Sie sei entsetzt gewesen, als man ihr den Infusionsbeutel wegnahm und zur Analyse ins Labor schickte. Den Beutel habe sie nur bei der Polizei vorzeigen und später in die Alte Apotheke zurückbringen wollen. Die Idee dazu sei ihr unabhängig von der Polizei gekommen.

  • Kein Geld für Whistleblowerin Klein: Marie Klein wird – wie auch schon bei ihrer letzten Vernehmung – gefragt, ob sie für ihre Medienauftritte im Zusammenhang mit dem Prozess der Alten Apotheke von irgendeiner Stelle vergütet wurde. Klein verneint dies. Die Verteidiger Stadtmanns beziehen sich auf das von CORRECTIV durchgeführte Crowdfunding für den juristischen Schutz der Whistleblower. Klein betont erneut, sie habe kein Geld von Medien für ihre Tätigkeit erhalten. Lediglich das Preisgeld des Whistleblower-Preises habe sie bekommen, aber auch hier fügt Marie Klein hinzu: „Ich habe einfach nur das getan, was ich für richtig hielt. Ich brauche keinen Preis dafür.“

  • Der „Judaslohn“ als Abfindung: Auf Nachfrage eines Anwaltes der Nebenklage bestätigt Marie Klein, dass während des Arbeitsprozesses nach ihrer Kündigung von Stadtmanns Anwälten das Wort „Judaslohn“ für die Abfindung fiel.

Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag:

Am nächsten Verhandlungstag am Donnerstag, den 14.12.2017, sind sechs Mitarbeiter des Zyto-Labors der Alten Apotheke geladen. Fünf davon haben bereits bei der Polizei die Aussage verweigert. Der Vorsitzende Richter geht davon aus, dass sie auch vor Gericht schweigen werden. Es wird der letzte Verhandlungstag in diesem Jahr sein. Nach der Weihnachtspause geht es dann erst am 08.01.2018 weiter.

Die nächsten Verhandlungstage im Überblick (Beginn jeweils 09:30 Uhr): 14.12., 08.01., 11.01., 15.01., 18.01., 24.01., 29.01., 31.01., 01.02., 05.02., 08.02., 14.02., 16.02., 20.02., 22.02., 13.03.