Faktencheck

Nein – HIV-Rate in Schweden nicht wegen nordafrikanischer Flüchtlinge gestiegen

Die Webseite „Unser Mitteleuropa“ schreibt, die Rate der mit HIV infizierten Personen in Schweden sei um 300 Prozent gestiegen – wegen Flüchtlingen. Doch Statistiken des schwedischen Gesundheitsministeriums widerlegen diese Behauptungen.

von Jacques Pezet

Medizinisches Personal überprüft den Finger eines Freiwilligen, der an einem HIV-Test in Casablanca (Marokko) teilnimmt.© ABDELHAK SENNA / AFP

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Falsch. Laut dem schwedischen Gesundheitsministerium ist die Anzahl der mit HIV-Infizierten zwischen 2006 und 2016 um 75 Prozent gestiegen. Menschen aus Syrien, Irak, Afghanistan oder Iran sind eine kleine Minderheit unter den HIV-Infizierten.

Im Moment wird wieder ein Artikel des Blogs „Unser Mitteleuropa“ auf Facebook geteilt, der im Dezember 2017 erschien. Darin steht, dass die Rate der mit HIV infizierten Personen in Schweden in zehn Jahren um 300 Prozent gestiegen sei, „von 1.684 (2006) auf 6.273 (2016)“.

In dem Text nutzt „Unser Mitteleuropa“ die Begriffe „AIDS-Rate“ und „HIV-Rate“ synonym. Das ist falsch, da AIDS (Erworbenes Abwehrschwäche-Syndrom) und HIV (Humanes Immundefizienz-Virus) nicht dasselbe sind, wie die AIDS-Hilfe auf ihrer Webseite erklärt: „Gegen HIV gibt es heute sehr wirkungsvolle Medikamente. Sie verhindern die Vermehrung des Virus im Blut, können es aber nicht wieder aus dem Körper entfernen. Dank dieser Medikamente können die meisten HIV-infizierten Menschen heute lange Zeit mit dem Virus leben, ohne an Aids zu erkranken.“

Laut „Unser Mitteleuropa“ sollen Flüchtlinge verantwortlich für den großen Zuwachs der HIV-Rate in Schweden sein. Die Webseite schreibt: „Trotz des Faktums, dass es sich bei den meisten infizierten Personen um Flüchtlinge aus dem Raum Nordafrika handelt, lautet die offizielle Erklärung: ‘Durch die bessere Behandlung leben mehr Menschen mit AIDS gleichzeitig.’ Die AIDS Rate Schwedens war seit 1980 konstant geblieben, bis die große Flüchtlingswelle Schweden überrollte.“

Als Quelle für diese Information nennt „Unser Mitteleuropa“ einen Artikel der rechtskonservativen Webseite „Samhällsnytt“, die sich auf einen Text der lokalen Nachrichtenseite „24Malmö“ beruft.

CORRECTIV hat das schwedische Gesundheitsministerium und die von „24Malmö“ zitierten Quellen kontaktiert. Wir wollten wissen, ob die Zahlen stimmen und ob man anerkannte Flüchtlinge, also Menschen mit Asylstatus, für das Wachstum verantwortlich machen kann.

Auf unsere Fragen antworteten Torsten Berglund und Anders Tegnell, die für das schwedische Gesundheitsministerium arbeiten.

Woher kommen die zitierten Zahlen?

Zuerst zu den Zahlen. „Unser Mitteleuropa“ schreibt, im Jahr 2016 hätten 6.273 „mit HIV infizierte Personen“ in Schweden gelebt. 2006 seien es nur 1.684 gewesen.

Als wir diese Zahlen an das schwedische Gesundheitsministerium schickten, antwortete uns der Epidemiologe Torsten Berglund: „Laut dem Nachrichtenartikel, auf den Sie sich beziehen (Samhällsnytt 2017-12-01), gab es eine Zunahme von Patienten, die in Schweden wegen HIV betreut und behandelt wurden, von 1 684 Personen im Jahr 2006 auf 6 273 Personen im Jahr 2016. Das ist nicht korrekt und ich weiß nicht, woher die Zahlen kommen, aber 1 684 entspricht in etwa der Anzahl von Menschen, die 1988 in Schweden mit einer bekannten HIV-Diagnose oder AIDS lebten (geschätzt waren das circa 1.600).“

Nach eigenen Recherchen haben wir herausgefunden, dass die schwedische Zeitung „Samhällsnytt“ sich in ihrem Artikel offenbar auf Zahlen des schwedischen Zentralamts für Gesundheits- und Sozialwesen (Socialstyrelsen) beruft. In der folgenden Tabelle kann man die Anzahl der Besuche (antal besök) und die Anzahl der Patienten (antal patienter) ablesen.

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Screenshot aus der Tabelle des schwedischen Zentralamts für Gesundheits- und Sozialwesen

Was sagen diese Daten aus? Auf eine Presseanfrage von CORRECTIV antwortete die Statistikerin des Zentralamts für Gesundheits- und Sozialwesen, Clara Larsson, dass die Anzahl der Patienten angegeben wird, die sich mit HIV als Hauptdiagnose in Schweden in Behandlung befinden.

Das heißt, die Zahlen entsprechen der Anzahl HIV-infizierter Patienten, die regelmäßig für Check-Ups eine schwedische Klinik besuchen. Diese Zahl ist tatsächlich um fast 300 Prozent (genau 273 Prozent) zwischen 2006 und 2016 gewachsen.

Gegenüber der Nachrichtenagentur „Nyhetsbyrån Siren“ erklärte Anders Tegnell vom schwedischen Gesundheitsministerium im November 2017: Die Steigerung sei normal, da HIV-Infizierte heute Zugang zu medizinischer Behandlung haben und mit HIV leben können. Da sie gut behandelt werden, sterben sie nicht. Aber sie gehen weiter zum Arzt.

Das kann man in der Statistik des schwedischen Zentralamts für Gesundheits- und Sozialwesen sehen.

Wie viele Menschen leben mit HIV in Schweden?

Jetzt wissen wir, wie viele mit HIV-infizierte Menschen in den letzten Jahren in Schweden in Behandlung waren. Aber wie viele Menschen leben in Schweden mit HIV?

Der schwedische Epidemiologe Torsten Berglund antwortet: „Die korrekte Anzahl von Menschen, die mit einer bekannten HIV-Diagnose leben und in Schweden mit dem Gesundheitswesen in Kontakt gekommen sind, lag 2006 bei 4 000 Personen. Im Jahr 2016 war die Zahl auf 7 000 Personen gestiegen (die InfCareHIV-Datenbank umfasste 6 983 Patienten, die 2016 Kontakt mit dem Gesundheitswesen hatten, siehe Jahresbericht 2016 von InfCareHIV). Das ist eine Steigerung von 75 Prozent.“

Auch auf der Webseite des schwedischen Gesundheitsministeriums findet man Informationen, die den Behauptungen von „Unser Mitteleuropa“ widersprechen. Die folgende Tabelle zeigt die jährliche Anzahl der neu gemeldeten HIV-Fälle in Schweden.

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Anzahl der registrierten HIV-Infektionsfälle 2008-2017. Quelle: Schwedisches Gesundheitsministerium

Demnach wurden seit 2008 pro Jahr zwischen 400 und 500 Fälle neu gemeldet. Es gibt demnach keinen Anstieg der Neumeldungen seit 2015, als viele Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Europa kamen.

HIV-registrierte Ausländer kommen oft aus Eritrea, Thailand, Somalia

In seinem Artikel wirft der Blog „Unser Mitteleuropa“ Flüchtlingen „aus dem Raum Nordafrika“ vor, verantwortlich für die Steigerung der HIV-Rate zu sein. In seiner Antwort an CORRECTIV erklärte der schwedische Epidemiologe, dass das Gesundheitsministerium nur Informationen über den Geburtsort der registrierten HIV-Infizierten habe, aber keine Informationen über die Staatsbürgerschaft, oder über den Aufenthaltsstatus (Tourist, Asyl, Asylbewerber, Arbeitsvisum). Das heißt, man weiß nicht, ob die HIV-Infzierten, die vom Gesundheitsministerium gezählt werden, Asylbewerber, anerkannte Flüchtlinge, in Schweden lebende Ausländer oder auch im Ausland geborene Schweden sind.

Laut den aktuellsten Daten des Gesundheitsministeriums wurden im Jahr 2017 „77 Fälle (18 Prozent der gesamten Neumeldungen) gemeldet, bei denen die Übertragung der Infektion in Schweden stattfand. Dies ist weniger als der Durchschnitt der Fälle mit Schweden als Infektionsland in den letzten zehn Jahren (102 Fälle). In 342 Fällen wurden andere Länder als Ort der Infektion gemeldet. In 15 Fällen wurden keine Angaben gemacht. Außerhalb von Schweden waren Thailand und Eritrea die Länder, in denen sich die Menschen am häufigsten infiziert haben“.

Da nur zwei Länder (Thailand und Eritrea) von den schwedischen Behörden genannt wurden, wollten wir wissen, ob nordafrikanische Länder auch zu der Liste der Länder gehören, in denen sich die meisten Menschen infiziert haben. Torsten Berglund schickte uns daraufhin die folgende Tabelle. Sie zeigt, in welchen Ländern die in Schweden registrierten Menschen mit HIV-Infektionen geboren wurden, in den Jahren 1996, 2006, 2016 und für die gesamte Periode 1983–2016. Man kann sehen, dass kein nordafrikanisches Land (Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen oder Ägypten) auf dieser Liste steht.

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Geburtsorte der mit HIV-infizierten Menschen, die in Schweden leben.

In seiner Antwort schrieb Torsten Berglund über Fälle aus dem Irak, Iran, Syrien und Afghanistan, die in der Liste nicht auftauchen: „Menschen, die in Ländern wie dem Irak, dem Iran, Syrien und Afghanistan geboren wurden, von denen viele Flüchtlinge und Asylbewerber in den letzten Jahren nach Schweden gekommen sind, stechen in der Zahl der gemeldeten HIV-Fälle nicht hervor. Insgesamt wurden in 33 Jahren zwischen 1983 und 2016 Betroffene nur in etwa 35 Fällen in Syrien, 45 im Iran, 55 im Irak und in weniger als 10 Fällen in Afghanistan geboren. Im Jahr 2016 waren nur 11 der 429 gemeldeten HIV-Fälle in Syrien, Iran, Irak oder Afghanistan geboren.“

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Screenshot aus der Antwort von Torsten Berglund