Gefährliche Keime

Tödliche Keime

Jedes Jahr sterben in Deutschland tausende Menschen an Infektionen mit multiresistenten Erregern. Die Gründe: Zu viele Antibiotika, mangelnde Hygiene, politisches Zögern. Und die Zahlen steigen. Wissenschaftler warnen vor einem Tsunami, vor einer Katastrophe „größer als der Klimawandel“. Trotzdem schieben sich die Beteiligten die Verantwortung gegenseitig zu, kaum jemand geht voran und bekämpft die Keime mit voller Kraft. Wir zeigen, dass es schon jetzt viel mehr Fälle gibt, als offiziell verlautbart. Und gehen dieses Problem langfristig an, mit internationalen Recherchen. Dafür brauchen wir auch Eure Hilfe.

von Daniel Drepper

Andreas H. ist 49, als er mit Verdacht auf Krebs in die Helios-Klinik in Duisburg kommt. Die Ärzte nehmen einen Teil der Bauchspeicheldrüse weg, durchstechen dabei die Bauchwand. Sechs Wochen später hat Andreas zwölf Operationen hinter sich. Die Wunden schließen nicht mehr, sein Körper ist durchlöchert wie ein Sieb. Andreas H. stirbt mit den multiresistenten Keimen MRSA, VRE und ESBL im Blut. Antibiotika – doch eigentlich die Wunderwaffe gegen alles – hatten gegen diese Superkeime keine Chance.

Die 71-jährige Christel B. liegt im Oktober 2012 auf der Intensivstation des Philippusstiftes Essen-Borbeck. Diagnose: schwere Entzündung der Bauchspeicheldrüse, ausgelöst durch eine Gallensteinwanderung. Nach drei Eingriffen binnen drei Tagen hat sie sich mit MRSA infiziert. Zwei Wochen später ist Christel B. tot.

Rainer F. hat eine schwere Raucherlunge, bekommt kaum Luft. Im Krankenhaus machen die Ärzte einen Luftröhrenschnitt. „Komplikationslos“ sei der verlaufen, steht in den Akten. Doch Rainer F. infiziert sich mit MRSA, später kommt der Darmkeim VRE dazu. Wenige Tage später ein septischer Schock, Herzstillstand. Mit 57 Jahren.

Und dann wäre da noch Matthias Sammer. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere, 1997, lässt sich der Fußballprofi am linken Knie operieren, mal wieder. Diesmal nur eine kleine Falte, korrigiert, alles gut, sagte der Professor im Martin-Luther-Krankenhaus Berlin. Doch nur wenige Stunden später fing das Knie an zu schmerzen, wurde dick. Sammer, schon wieder zu Hause, bekam Fieber. Die Ärzte hatten keine Erklärung: Gibt’s doch nicht. Noch einmal reingeguckt ins Knie, und dann hieß es nur noch: Um Gottes willen, so was haben wir noch nie gesehen. Keine Erklärung, wo das herkommt.

Drei Wochen lang lag Sammer dann in einer Klinik in Dortmund. Es ging um sein Leben. „Die Ärzte haben schwierige Gespräche mit meiner Frau geführt. Erst viel später hat sie mir davon erzählt. Alle Alternativen waren grauenhaft. Dass es wieder richtig gut wird, war die allerkleinste Möglichkeit.“ Die Keime wüteten im Körper des Fußballers, und kein Antibiotikum wirkte. Dann kam die letzte Hoffnung, ein allerletztes Antibiotikum. Das hat gewirkt. Es hat ihm das Leben gerettet.

Das war 1997, und es war das Ende des Fußballers Matthias Sammer, mit 30 Jahren. Bis heute könne er nicht joggen, sagt Sammer, schon ein Job als Trainer wäre vermutlich schwierig, zwei Stunden am Tag draußen mit der Mannschaft, das könnte problematisch sein. Jetzt ist Sammer Sportvorstand des FC Bayern.

Warum Matthias Sammer über seine schreckliche Infektion spricht?

„Es war dieses allerletzte Antibiotikum, was mich gerettet hat. Ich will keine Schlagzeilen produzieren, das ist das Letzte, was ich will. Aber ich rede mit Ihnen, weil ich aufrütteln will. Vielleicht kann man damit anderen Menschen helfen.“

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7.500 bis 15.000 Menschen sterben laut Bundesgesundheitsministerium in Deutschland jedes Jahr an Infektionen im Krankenhaus. Das allein wäre schon eine Schreckensbotschaft, denn das sind so viele wie alle Alkohol- und Drogentote eines Jahres zusammen. Doch die Zahl dürfte noch viel höher liegen.

Die ZEIT, ZEITonline, die Funke-Mediengruppe und CORRECTIV haben die Abrechnungsdaten aller deutschen Krankenhäuser ausgewertet. Daraus geht hervor, dass Ärzte bei gestorbenen Patienten jedes Jahr häufiger als 30.000 Mal einen der drei meistverbreiteten multiresistenten Keime MRSA, ESBL oder VRE abrechnen. Ob all diese Menschen auch an den Keimen gestorben sind, lässt sich aus den Daten zwar nicht ablesen. Experten sind sich aber sicher, dass die Zahl der Infektionen deutlich höher liegt, als das Gesundheitsministerium angibt.

„Es sind mindestens eine Millionen Infektionen und mehr als 30.000 bis 40.000 Todesfälle, wahrscheinlich weit mehr“, sagt Professor Walter Popp, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene.

Im vergangenen Jahr hat Popp gemeinsam mit Kollegen die offizielle Version wissenschaftlich hinterfragt. Popp schreibt, die Zahlen des Gesundheitsministeriums seien viel zu niedrig und „basieren in wesentlichen Teilen auf Arbeiten, die vor nahezu 40 Jahren erstellt wurden.“

Ein Großteil der Keime wird in den Kliniken nicht nur nicht abgerechnet, er fällt erst gar nicht auf. Die Krankenhäuser sind nicht verpflichtet, jedes Auftreten von MRSA zu melden. Nach dem Infektionsschutzgesetz werden nur MRSA-Infektionen ans RKI gereicht, die in einem Labor in Blut oder Rückenmarksflüssigkeit festgestellt werden. Zudem werden nur bestimmte Risikogruppen bei der Aufnahme ins Krankenhaus auf die Keime getestet – so werden Besiedlungen oder Infektionen häufig überhaupt nicht erkannt.

  • Multiresistente Erreger sind Bakterien, die sich kaum oder gar nicht mehr mit Antibiotika behandeln lassen. Je mehr und je härtere Antibiotika genutzt werden, desto mehr Resistenzen entstehen. Man unterscheidet bei Personen zwischen Trägern und Infizierten. Träger sind mit Keimen besiedelt, auf der Haut oder an den Schleimhäuten. Wenn die Erreger in die Blutbahn gelangen, spricht man von einer Infektion. Die Folge: Entzündungen und Blutvergiftungen. Besonders gefährdet sind Personen, die häufig stationär behandelt werden, die pflegebedürftig sind, häufig Antibiotika nehmen, liegende Katheter, chronische Wunden oder Brandverletzungen haben.
  • Der wohl bekannteste multiresistente Erreger ist MRSA – ein Methicillin Resistenter Staphylococcus Aureus. Mittlerweile trägt etwa jeder fünfte Deutsche den Keim auf seiner Haut. Symptome sind Wundinfektionen und Entzündungen der Atemwege oder des Blutes. Man unterscheidet Keime aus der Tiermast (la-MRSA), aus dem Krankenhaus (ha-MRSA), oder aus der Öffentlichkeit (ca-MRSA). Bundesweit sind etwa zehn verschiedene Epidemienstämme bekannt.
  • VRE sind Vancomycin Resistente Enterokokken. Diese Keime gehören zur normalen Darmflora des Menschen. Wenn zu viel Antibiotika eingesetzt werden, überleben am Ende nur noch resistente Enterokokken. Dann kann es zu Wund- und Harnwegsinfektionen kommen, zu Abszessen oder schweren Infektionen. Diese Infektionen treten insbesondere bei immunschwachen Patienten auf.
  • Die Abkürzung ESBL steht für Extended-Spectrum-Betalaktamase. Dabei handelt es sich um Enzyme, die bestimmte Antibiotika durch Spaltung unwirksam machen. ESBL-bildende Bakterien sind gegen zahlreiche Antibiotika resistent. Heute werden diese vor allem als MRGN bezeichnet, als multiresistente gramnegative Erreger. [diese Beschreibung haben wir nach Rückmeldung eines Lesers etwas angepasst]
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Es gibt kaum Zahlen, auf die man sich verlassen kann. Jede Statistik sagt etwas anderes. Und angesichts der Vielzahl der besiedelten Menschen, macht sich auch bei den Verantwortlichen so etwas wie Ratlosigkeit breit. „Ich wüsste nicht, wie wir alle Keime erfassen könnten. Es sind so viele Menschen, die sie mit sich herumtragen“, sagt Susanne Glasmacher, die Sprecherin des Robert-Koch-Instituts.

Ein Anfang wäre es, wenn wenigstens alle Infektionen zentral erfasst würden. Doch selbst das passiert nur bei MRSA, „da immerhin haben wir eine Meldepflicht“, sagt Glasmacher. Bei den noch gefährlicheren Darmkeimen VRE und den Enzym-bildenden Bakterien ESBL gibt es diese nicht. Gegen diese Erreger wirken oft nur noch spezielle Reserve-Antibiotika. Vor allem sehr junge, alte und schwache Patienten sterben an diesen Keimen. Und sie verbreiten sich in Deutschland seit Jahren stärker und stärker.

Deutsche Krankenhäuser haben VRE im Jahr 2013 mehr als 33.000 mal abgerechnet. Dazu zählen sowohl Besiedelungen von Patienten als auch echte Infektionen. Seit 2010 ist die Zahl der VRE-Diagnosen damit um 40 Prozent gestiegen. Die Gruppe der ESBL-Keime rechneten die Krankenhäuser sogar fast 120.000 mal ab, mehr als 50 Prozent häufiger als vor vier Jahren. Am weitesten verbreitet ist in Deutschland immer noch der methicillinresistente Staphylococcus aureus (MRSA), er wird in deutschen Krankenhäusern jedes Jahr fast 140.000 mal registriert.

Für Experten wie Bernd Beyrle von der Techniker Krankenkasse steht jedoch fest, dass auch diese Zahlen noch viel zu niedrig sind. Beyrle leitet bei der TK den Fachbereich stationäre Versorgung. „Nicht jede Infektion ist für die Abrechnung relevant. Wir gehen deshalb davon aus, dass wir hier wahrscheinlich nur ein Drittel der Infektionen und Besiedlungen erkennen können.“

Ohne eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes durch das Bundesgesundheitsministerium wird sich an der schlechten Datenlage nichts ändern. Doch die scheint nicht in Sicht. Das Ministerium schreibt, dass „mehrere spezialisierte Instrumente zur Erfassung multiresistenter Erreger“ existierten und die Überprüfung dieser eine „Daueraufgabe“ sei. Mit anderen Worten: alles gut, vorerst wird nichts geschehen.

Das ist eine beispiellos chaotische Sachlage bei einem derart brisanten Thema.

Wer die Abrechnungszahlen der Krankenkassen Landkreis für Landkreis auswertet, sieht schnell, dass der bekannte MRSA-Keim vor allem im Nordwesten verbreitet ist, in Niedersachsen, dort wo auch die großen Mastställe der Tierindustrie stehen. Der Darmkeim VRE und die Keimgruppe ESBL verteilen sich etwas gleichmäßiger, mit Schwerpunkten in Mittel- und Ostdeutschland. Das entspricht auch – grob – den Beobachtungen der Wissenschaftler, die sich schon seit Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigen.

Aus den Abrechnungsdaten der Krankenkassen lassen sich keine Gründe für die Verteilung ableiten. Aber sie geben einen Blick frei auf die Größe und die Verteilung des Problems.

Multiresistente Erreger in Krankenhäusern

MRSA-Fragebogen

Was die Daten nicht zeigen: Die Leiden der Opfer und Ihrer Angehörigen. Deshalb wollen wir von Euch hören. Habt Ihr Erfahrungen mit Hygieneproblemen im Krankenhaus oder anderen Gesundheitseinrichtungen gemacht, mit Infektionen oder multiresistenten Keimen? Füllt unseren Fragebogen aus – je mehr Menschen mitmachen, desto stärker drängt das Thema an die Öffentlichkeit, desto eher werden die Probleme angegangen.

Mit dem Fragebogen sammeln wir zentral alle Erfahrungen. Bei der Veröffentlichung werden wir mit verschiedenen, auch lokalen Medien, kooperieren. Wir freuen uns über jeden, der den Fragebogen teilt.

Wenn Ihr mit anderen Betroffenen über dieses Thema sprechen wollt, könnt Ihr auch unserer Facebook-Gruppe beitreten. Dort diskutieren wir, teilen Informationen, Ansprechpartner und Ratschläge. Zur Anmeldung geht es hier entlang.

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Der Tote

Das erste Mal operieren die Ärzte Andreas H. am 30. November 2011. Verdacht auf Krebs, der Chefchirurg entfernt den linken Teil der Bauchspeicheldrüse. Bei der schwierigen Operation wird die Magenwand durchstochen. Eine Woche später erleidet Andreas einen Magendurchbruch. Der nächste Eingriff folgt, 48 Stunden später ein weiterer. Luftröhrenschnitt, künstliche Beatmung. Bauchfellentzündung.

Es ist Weihnachten und Andreas H. liegt alle zwei Tage auf dem OP-Tisch.
Teile des Magens werden herausgeschnitten, auch die Milz. Ein Problem: Die Ärzte bekommen die Wundverschlüsse nicht dicht. Nach den Eingriffen läuft Körpersekret in den Bauchraum.

Einmal sind es 0,3 Liter milchige Flüssigkeit. Und die Leckagen häufen sich. Immer wieder wird nachgenäht.

„Durch die Voroperationen gestaltet sich dieser OP-Schritt schwierig“, heißt es im Bericht über den Verlauf der vierten OP. Sieben weitere hat der Patient da noch vor sich. Bauch öffnen, Flüssigkeit absaugen, spülen, Bauch verschließen. Nach einer dreistündigen Prozedur notiert ein Oberarzt unter P.S.: „Aufgrund der zahlreichen Voroperationen erfolgte dieser Eingriff unter massiv erschwerten Bedingungen.“

Als sich die Wunde nicht mehr nähen lässt, wird mit Klebstoff gearbeitet.

Nach einem Dutzend Eingriffen in sechs Wochen ist der Magen von Andreas H. durchlässig wie ein Sieb. „Jeder Schluck, den er trank, lief direkt wieder aus ihm heraus und ins Bett“, erinnert sich die Mutter. Doch ihr Sohn will leben. Der schwache Körper kämpft. Langsam, sehr langsam, geht es aufwärts. Der Patient kommt aus dem Intensivbett auf eine Normalstation.

„In vier Wochen kann ich hier raus“, sagt Andreas H. am 17. März 2012. Es ist sein 50. Geburtstag. Was Angehörige und andere Besucher in den nächsten drei Monaten erleben – diese Bilder werden sie bis heute nicht los.

Einmal schlägt ihnen fäkaler Gestank entgegen, als sie das Zimmer betreten. Andreas H. liegt in einem Teerstuhl. Blut läuft aus seinem Mund. Er ist unfähig, sich bemerkbar zu machen.

Die Mutter und der Bruder sind „total schockiert“. Sie laufen zum Pflegepersonal und bitten um Hilfe. Ja, später, aber erst müsse sie das Abendessen auf der Station verteilen, sagt eine Schwester. Nach der Essensausgabe sammeln die Pfleger die Reste wieder ein. Anschließend kümmern sie sich um Andreas H. und säubern ihn.

Wenig später steht fest: Andreas H. hat sich mit Vancomycin-resistenten Enterokokken (VRE) infiziert. Die multiresistenten Darmbakterien, gegen die nur noch zwei Antibiotika wirken, werden in seinem Blut nachgewiesen.

Die Angehörigen schreiten häufig ein. Es ist die Mutter, früher selbst 26 Jahre lang Krankenschwester, die den Sohn bei einer aktuen Atemnot vor dem Ersticken bewahrt. Auch einer Lungenentzündung und einem drohenden Wundgeschwür wird erst auf Drängen der Familie nachgegangen. Die bei offenen Wunden gebotene Schutzkleidung trägt das Personal trotz entsprechender Hinweise selten. Der Bruder beschwert sich, bittet um „die Pflege und Beobachtung, die für eine Genesung erforderlich sind“, fordert „eine engmaschige Kontrolle durch einen Oberarzt“.

Die Mutter verliert langsam die Hoffnung. „Bei dieser Quälerei habe ich irgendwann Abschied genommen von Andreas“, sagt sie.

Am Morgen des 21. Juni 2012, als der Anruf mit der Todesnachricht kommt, „da war ich heilfroh, dass der liebe Gott ein Ende gemacht hat“.

Bei seinem Tod trägt Andreas H. die multiresistenten Keime MRSA, VRE und ESBL im Blut. Das ist bei immer mehr Menschen der Fall. Und daran sind auch die Krankenhäuser und Ärzte Schuld.

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Die Ärzte

Es gibt zwei Dinge, die es den Keimen überhaupt nur ermöglichen, sich einzunisten in unserer Mitte, sich zu verbreiten, immer mehr Menschen zu töten. Nummer eins: Zu viel Antibiotika. Nummer zwei: Mangelnde Hygiene.

Starten wir mit den Medikamenten. Der Mechanismus ist einfach. Von Natur aus trägt jedes Lebewesen bei einer Infektion auch einige resistente Krankheitserreger in sich. Sie entstehen zufällig, durch natürliche Mutationen. Werden Antibiotika verabreicht, sind diese resistenten Keime plötzlich gegenüber ihren nicht mutierten Verwandten im Vorteil. Je häufiger Antibiotika verabreicht, je sorgloser sie eingenommen werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass resistente Keime sich vermehren und verbreiten können. Dann sind die Medikamente wirkungslos.

Deshalb ist es so wichtig, dass Antibiotika nur extrem gezielt vergeben werden. Dass Ärzte verpflichtet werden, ein Antibiogramm zu machen, bevor sie die Medikamente verschreiben. Um zu testen, auf was der Patient reagiert. Dass überwacht und eingetragen wird, welcher Patient welches Antibiotikum für welches Problem bekommt. Ein Antibiotikapass, wie beim Impfen, nur halt für Antibiotika. Und dass zentral erfasst wird, wo wie viele Antibiotika für was verschrieben werden. Um den Einsatz zu optimieren, zu drosseln. All das gibt es bislang nicht.

Selbst Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, fordert restriktive Vorgaben für die Antibiotikatherapie, wie im Nachbarland Holland üblich, und ein Verordnungsverzeichnis.

Das alles soll verhindern, dass die Superkeime entstehen. Damit sie sich nicht weiter verbreiten, müssen sich Ärzte, Schwestern und Pfleger strikt an Hygieneregeln halten. Sie müssen sich zum Beispiel fachgerecht die Hände desinfizieren. Das passiert noch immer viel zu selten. Etwa zwei Drittel aller Patienten holt sich die Infektionen im Krankenhaus. Studien belegen, dass Ärzte und Schwestern sich nur halb so oft die Hände desinfizieren, wie es eigentlich nötig wäre. Das ist ein riesiges Problem. Nicht nur für den jeweiligen Patienten, sondern auch für alle anderen. Denn Keime verbreiten sich im Krankenhaus vor allem über das Personal selbst.

Wissenschaftler aus Lyon haben in einem nordfranzösischen Hospital rund 450 Patienten und 350 Pfleger mit Sensoren ausgestattet, die jede Annäherung an eine andere Person aufzeichneten. Über neun Monate erstellten die Wissenschaftler so ein Kontaktprofil des gesamten Hauses. Zeitgleich nahmen sie wöchentliche Proben aus der Nasenschleimhaut und ließen sie im Labor auf Bakterien untersuchen.

„Es gibt keinen geschützten Raum in einem Krankenhaus. Alle Bakterien können in nahezu alle Zimmer und Stationen wandern“, sagt der leitende Wissenschaftler Eric Fleury. Viele Patienten hatten nach einigen Tagen oder Wochen im Krankenhaus Bakterien im Blut oder in ihren Schleimhäuten, die eigentlich ein Patient einer ganz anderen Station angeschleppt hatte. 30 Prozent der Patienten waren am Ende ihres Aufenthaltes mit multiresistenten Bakterien kontaminiert. „Fast jeder Patient kommt über Krankenschwestern, Pfleger, Ärzte oder Ergotherapeuten in Kontakt zu Keimen von anderen Patienten im Haus.“

Die Bakterien werden über kontaminierte Kittel, unsaubere Hände und Servierwagen im gesamten Haus verteilt. Pfleger treffen sich in der Kantine und tauschen dort über gemeinsame Wasserkaraffen und Begrüßungsküsschen die Bakterien auf der Haut aus. In der Nacht müssen Schwestern und Ärzte häufig ohnehin mehrere Etagen gleichzeitig betreuen. „Fast jeder hat mit jedem Kontakt“, sagt Fleury. Eine Schwester kommt an einem Tag rund 100 Personen nahe.

So wird ausgerechnet das Personal in Krankenhäusern zum Sicherheitsrisiko für Patienten. Einige Epidemiologen wie der Pariser Forscher Didier Guillemot bezeichnen Ärzte und Pfleger gar als „superspreaders“ – als „größtmögliche Verbreiter“ der tödlichen Bakterien. Sie könnten ihre Patienten nur schützen, indem sie Hände und Materialien wie Blutdruckmesser oder Verbandswagen besser sterilisieren. Guillemot plädiert auch dafür, Patienten nur wenige Behandler zur Seite zu stellen – nicht das gesamte Team solle zur Visite kommen, sondern nur jeweils ein Arzt und möglichst wenige Krankenschwestern. Außerdem seien Einzelzimmer ein guter Schutz vor hohem Bakterien-Verkehr.

Um die Desinfektion zu verbessern, hängen zum Beispiel in Holland in manchen Krankenhäusern Videokameras über den Desinfektionsspendern. Das hält die Ärzte dazu an, diese auch wirklich zu benutzen. In Deutschland nehmen Krankenhäuser an Studien zur Häufigkeit von Desinfektionen freiwillig teil. Eine externe Kontrolle, zum Beispiel mit überraschenden Stichproben, gibt es nicht.

Wichtig ist, dass sich Ärzte direkt vor dem Kontakt mit dem Patienten die Hände desinfizieren. Nicht auf dem Flur, nicht nach der Behandlung, sondern direkt am Bett des Patienten. Das können Patienten auch selbst einfordern.

Keine Panik: Multiresistente Erreger sind keine unsichtbare Gefahr, sondern ein alltäglicher Begleiter. Es kommt auf sichtbaren Umgang mit dem Problem an. Darüber zu sprechen, ist kein Verbrechen.

Vor dem Aufenthalt: Schauen Sie vor einem stationären Aufenthalt bei anerkannten Experten nach den wichtigsten Hygienekriterien, zum Beispiel bei der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, bei der Aktion saubere Hände oder – für Expertenwissen – bei den KRINKO-Richtlinien des RKI

  • Zu Beginn des Aufenthalts: Informieren Sie sich gleich zu Beginn des stationären Aufenthaltes über Hygienemaßnahmen. Fragen Sie nach Flyern und Informationen zur korrekten Handdesinfektion. Machen Sie Ihre Besucher darauf aufmerksam.
  • Bekannt machen: Fragen Sie nach den Schwestern oder den Pflegern, die auf der Station hygienebeauftragt sind. Machen Sie sich bekannt.
  • Eigen-Desinfektion: Waschen Sie sich häufig die Hände. Desinfizieren Sie sich die Hände. Beachten Sie die Mindesteinwirkzeit von Desinfektionsmitteln. Zählen Sie langsam bis 30. Dann ist die maximale Wirkung von Desinfektionsmitteln gesichert.
  • Fremd-Desinfektion: Schauen Sie, ob es in Ihrer unmittelbaren Umgebung in Ihrem Zimmer Desinfektionsmittel gibt. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese Mittel auch verwendet werden.
  • Ärzte und Pfleger prüfen: Schauen Sie dem Pflegepersonal und den Ärzten auf die Finger. Unmittelbar bevor Sie berührt werden, sollte sich jegliches Personal die Hände desinfizieren. Besonders bei Eingriffen, die unter die Haut gehen, muss vorher und nachher Desinfektionsmittel verwendet werden.
  • Reinigung: Schauen Sie, ob die Reinigungskraft Putzgegenstände verwendet, die vorher nicht in isolierten Zimmern zum Einsatz gekommen sind.
  • Frisches Bett: Bestehen Sie auf ein mehrmals wöchentlich frisch bezogenes Bett und eine saubere Umgebung. Alles, was Sie vom Bett aus erreichen können, sollte täglich gereinigt werden.
  • Frische Luft: Sorgen Sie für frische Luft. Auch das kann gegen Keime helfen. Sogar die Weltgesundheitsorganisation WHO rät zur natürlichen Belüftung.
  • Richtige Antibiotika: Nehmen Sie Antibiotika nur zu sich, wenn es unbedingt erforderlich ist. Häufig werden Antibiotika unnötig verschrieben. Wenn Sie Antibiotika benötigen, brechen Sie die Therapie auf keinen Fall ab, sondern nehmen die Antibiotika wie angeleitet zu  Ende. Halb eingenommene Antibiotika züchten erst recht multiresistente Keime heran.
  • Eigene Isolation beachten: Sind Sie Träger von MRE oder infiziert? Fragen Sie nach den Flyern, die wichtige Informationen zum Umgang mit dem Keim geben. Beachten Sie die Desinfektion und die Regeln der Isolation. Machen Sie Ihre Besucher auf die Problematik aufmerksam.

Eine weitere Möglichkeit, die Superkeime einzudämmen: In Holland wird ausnahmslos jeder Patient bei der Aufnahme ins Krankenhaus auf multiresistente Erreger gescreent. Auch deshalb gibt es dort so gut wie keine MRSA-Patienten mehr.

Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, sagt: Gerne würden auch die deutschen Kliniken jeden neuen Patienten auf Keime screenen. Dafür müsste das Robert-Koch-Institut nur den Kreis der zu screenenden Patienten ausweiten. Und die Krankenkassen müssten es bezahlen. Baum sagt, das koste etwa eine Milliarde Euro.

“Teilweise haben wir immer noch Drei- und Vierbettzimmer, mit einer Toilette“, sagt Krankenhaus-Vertreter. Nicht einmal die Hälfte der „allgemein anerkannt“ notwendigen sechs Milliarden Euro bekämen seine Kliniken. Hilfreich, sagt Baum, wäre ein Investitionsprogramm Prophylaxe.

Baum bemängelt, dass Kliniken, ambulante Ärzte und Landwirtschaft bislang nicht zusammen gegen das Problem kämpfen. Stattdessen versuche einer dem anderen das Keimproblem in die Schuhe zu schieben.

Richtig ist: Nicht nur Krankenhäuser sind schuld an den vielen tödlichen Erregern. Auch die Tierärzte, der wahnsinnige Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung. Das hat Gerd-Ludwig Meyer in Nienburg im südlichen Niedersachsen zuletzt immer häufiger erlebt. Und es macht ihn von Jahr zu Jahr verzweifelter.

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Die Tiere

„Sie sehen zu, wie ein Mensch elend leidet. Und Sie können nichts tun, gar nichts.“ Gerd-Ludwig Meyer betreibt mit Ärztekollegen eine Dialysepraxis. Er erzählt von der alten Dame, deren Harnwegentzündung im Laufe der Behandlung nicht besser wurde, sondern schlimmer.

Meyer verschrieb das erste Antibiotikum – keine Wirkung. Er verordnete das zweite Antibiotikum, das dritte, das vierte, das fünfte: Gentamicin. Tetracyclin. Ciprofloxacin. Amoxicillin. Insgesamt waren es zwanzig. Keines half. Nach schrecklichen Tagen der Qual musste die alte Dame sterben.

Der Tod der alten Frau war kein Einzelfall. Allein in Meyers Praxis starben in den vergangenen Monaten vier weitere Patienten. Bei allen vieren hatten Antibiotika nichts mehr ausrichten können.

„Es ist ein beschissenes Gefühl, wenn du als Arzt hilflos bist“, sagt Meyer. Er drückt sich gern deutlich aus, er ist überhaupt ein Mann, der schnell Klarheit schafft. Zuerst war er Landwirt. Als ältester Sohn hatte er den Hof übernommen. Dann wurde ihm diese Welt zu eng. Es folgten Abitur und Medizinstudium.

Meyers Haare sind struppig, seinem Gesicht sieht man das Leben an. Er schildert, wie er in letzter Zeit bemerkte, dass immer mehr Patienten isoliert werden mussten, weil sie von Keimen befallen waren, die auf Antibiotika nicht mehr reagieren. Und dass Landwirte auf einmal nicht nur Ferkelzüchter und Putenmäster waren, sondern – Risikopatienten. „Wenn ein Landwirt in eine Klinik kommt, muss er im Prinzip sofort in Quarantäne.“

Vor vier, fünf Jahren ging es nach Meyers Wahrnehmung so richtig los. Und schnell begriff er, dass es unsichtbare Verbindungen gibt zwischen seinen beiden Berufen: dem des Landwirts und dem des Arztes. Und diese Verbindungen heißen Cephalosporine, Fluorchinolone, Colistin oder Carbapeneme. Das sind die Bezeichnungen für Reserveantibiotika, sozusagen die allerletzten Medikamente, mit denen die Menschen sich gegen multiresistente Bakterien in unseren Körpern zur Wehr setzen. Die letzten Medikamente, die diese Erreger töten können. Aber Humanmediziner und Landwirte setzen die identischen Wirkstoffklassen der Antibiotika ein: die einen beim Kranken, die anderen beim Schlachtvieh.

Was Meyer in Nienburg feststellt, passiert in ganz Deutschland immer häufiger. Ärzte der Uniklinik Münster haben gezeigt, dass in viehreichen Regionen fast 80 Prozent der Landwirte mit gefährlichen Keimen besiedelt sind. Sie tragen ihn auf der Haut, bei einer Wunde oder Operation kann er in die Blutbahn dringen.

Ärzte finden immer mehr Menschen, die sich mit einem MRSA-Stamm infizieren, der aus der Schweinemast stammt, dem CC398. Eine noch nicht öffentliche Studie zeigt: Mehr als 30 Prozent der Keim-Patienten an der Uni-Klinik Münster haben einen Schweine-Keim im Körper, deutlich mehr als in früheren Untersuchungen. Das Problem: Viele dieser Patienten haben überhaupt keinen direkten Kontakt mehr mit Tieren. Der Keim verbreitet sich demzufolge bereits in der Bevölkerung. Und die ersten Menschen sterben bereits daran.

Für eine Tagung im Oktober beschrieben die Münsteraner Forscher eine Patientin, die auf einem Schweinezuchtbetrieb lebte. Sie starb drei Wochen nach einer einfachen Injektion in die Schulter. Die resistenten CC398 hatten das Herz befallen. Eine andere Angehörige einer Schweinebauern-Familie hatte nach einer Lungen-Transplantation einen septischen Schock und starb an Organversagen. Die Ärzte vermuten, dass ein Verwandter den Schweinekeim ins Krankenzimmer eingeschleppt hat.

In Dänemark sind in den vergangenen Jahren mindestens fünf Menschen am Keim aus dem Schweinstall gestorben. In einem Gerichtsprozess bestätigten die Behörden vier Fälle, ein weiterer Fall kam in diesem Herbst dazu. Die Opfer: Eine 51-jährigen Patienten mit einer Blutvergiftung, ein 63-Jähriger Dialyse-Patient, eine 86-Jährige Diabetespatientin, ein 74-Jähriger mit Lungenentzündung in einem Pflegeheim.

Keines der Todesopfer in Dänemark hatte selbst eine Verbindung zu Schweinen.

Dasselbe beobachten die Experten in Deutschland: „Wir haben den Keim auch bei Personen entdeckt, die nicht im Kontakt mit der Landwirtschaft standen. Der resistente Erreger muss bereits in der Bevölkerung zirkulieren“, sagte Karsten Becker, Oberarzt am Uniklinikum Münster, in einem Gespräch mit dem Schweizer Sonntagsanzeiger.

In Deutschland sind europaweit die meisten Schweineställe mit dem resistenten Keim befallen. In manchen Regionen sind bereits bis zu 70 Prozent der Ställe verseucht, so neueste Untersuchungen. Im Europa-Vergleich nutzt Deutschland die fünftgrößte Menge an Antibiotika in der Fleischproduktion. Pro Kilo pumpen deutsche Bauern 60 mal so viel Antibiotika in ihre Tiere wie die Norweger. Ein Zuchtbecken für resistente Erreger.

Diese massenhafte Medikamentenvergabe wird provoziert von einer strukturellen Schwäche. In der Tiermedizin sind Ärzte nicht einfach nur Ärzte, sie sind gleichzeitig auch ihre eigenen Apotheker. Sie verdienen daran, wenn sie Tieren große Mengen an Antibiotika verschreiben. Die großen Praxen nennt die Szene auch Autobahn-Tierärzte – Sie fahren von Hof zu Hof und verkaufen Ware, anstatt Tiere zu untersuchen und zu heilen.

Während ökologisch bewirtschaftete Schweinebestände zu 26 Prozent mit MRSA besiedelt sind, fanden Forscher der TH Hannover bei 92 Prozent der konventionell gehaltenen Schweine Tier-MRSA in der Nase. Und die Entwicklung geht weiter. Die Zahl der Bauernhöfe ist in den vergangenen 25 Jahren von fast 700.000 auf unter 300.000 zurückgegangen. Die Zahl der von den Keimen besonders infizierten Mastschwein-Betriebe ist sogar um mehr als 80 Prozent geschrumpft, vermeldete vor wenigen Tagen das Bundeslandwirtschaftsministerium.

All das trägt dazu bei, dass sich immer mehr resistente Tierkeime entwickeln. Und die springen zurück auf den Menschen.

Untersuchungen zeigen, dass selbst auf dem Fleisch in der Tiefkühlpackung immer häufiger Erreger zu finden sind. Forscher, die täglich mit den Entwicklungen konfrontiert sind, fassen Ihre Hühnchenfilets in der Küche zum Teil nur noch mit Gummihandschuhen an, um sich nicht mit den Tier-Erregern zu infizieren.

„Der Eintrag von Tierkeimen in Krankenhäuser liegt in einigen Regionen mittlerweile bei mehr als zehn Prozent“, sagt Michael Kresken. Für Kresken ist die Entwicklung beunruhigend. Und er muss es wissen: Der Professor beobachtet resistente Keime schon sein halbes Leben lang.

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Die Zukunft

Als Michael Kresken mit seinem damaligen Chef vor mehr als drei Jahrzehnten sein Lebenswerk beginnt, lachen ihn die Kollegen aus. Die Resistenz von Bakterien gegen Antibiotika erforschen? Wofür solle das denn gut sein? Diese Zahlen, damals im Promillebereich, würden doch sowieso niemals steigen. Das Motto damals: Viel hilft viel. Antibiotika, die Wunderwaffe gegen alles.

Wenn Michael Kresken heute von der Zeit erzählt, als Antibiotika noch als Prophylaxe gegeben wurden, tut er das als einer der angesehensten Experten zum Thema multiresistente Erreger. In Rheinbach, an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, schreibt der Professor unter dem Titel „Germap“ alle zwei Jahre alles zusammen, was mit Resistenzen zu tun hat. In den vergangenen Jahren ging es vor allem bei den gefährlichen Erregern stetig nach oben. Für Kresken ist es höchste Zeit, endlich etwas zu tun.

“Antibiotika verbrauchen sich, wenn sie eingesetzt werden. Je mehr Antibiotika wir nutzen, desto mehr resistente Stämme selektieren wir und begünstigen deren Verbreitung“, sagt Kresken. „Diese Medikamente haben unsere Lebenserwartung extrem gesteigert. Sie sind ein Rohstoff, den wir schützen müssen.“

Vor allem die seltensten Rohstoffe, die Reserve-Antibiotika, machen den Experten Sorgen. „Hausärzte und Internisten verwenden überproportional viele Breitband-Antibiotika. Das ist vor allem im Vergleich zu anderen Ländern auffällig“, sagt Kresken. Breitband-Antibiotika putzen alles weg, sie machen es den Ärzten einfach – aber sie helfen auch den resistenten Erregern. Wenn die harten Antibiotika schon für kleine Infektionen eingesetzt werden, dann lässt das kaum noch etwas über, um die multiresistenten Keime zu bekämpfen, die sonst auf fast keine Antibiotika mehr reagieren.

Wolfgang Witte, 69, war lange Jahre Leiter des Nationalen Staphylokokken-Referenzzentrums des Robert Koch-Instituts und gilt als einer der führenden MRSA-Experten des Landes. Er ist Mikrobiologe, ein Wissenschaftler alter Schule, ein feingliedriger, vorsichtiger Mann. Ein Besuch bei ihm in der Außenstelle des Robert Koch-Instituts in Wernigerode wird rasch zur mikrobiologischen Lehrstunde, in der er von seinen großen Lehrern und Forschern erzählt. Einen davon zitiert er mit den Worten: „Das letzte Wort haben immer die Bakterien.“

Die Bedrohung durch antibiotikaresistente Keime sei ein enorm ernstes Thema, dem man nur mit wissenschaftlicher Vernunft begegnen könne, sagt er. Er halte auch nichts von gegenseitigen Schuldzuweisungen, etwa zwischen Humanmedizinern und Veterinären. Witte ist einer, der den Überblick behalten möchte, auch darüber, von wo die wirklichen Gefahren drohen. Man müsse beobachten, wie sich die Erreger veränderten. Wie sie zwischen Mensch und Tier hin- und herspringen. Die jetzt so gefährlichen Tierkeime zum Beispiel stammen ursprünglich vom Menschen.

Wenn es so weitergeht, mutieren die Keime weiter in den Tieren und bilden so neue Eigenschaften: Sie könnten sich schneller vermehren und ihre Infektionskraft verstärken. Gefährlicher denn je kämen sie dann zu den Menschen zurück. Daraus könne, so Witte, eine „mikrobiologische Apokalypse“ entstehen, die zuletzt Keime hervorbringt, gegen die gar kein Medikament mehr hilft. „Wenn das passiert, dann gnade uns Gott.“

Wenn Antibiotika nicht mehr wirken, steht uns eine mittelalterliche Zukunft bevor, in der Menschen an Zahninfektionen und Blasenentzündung sterben. Das Leid, wenn Antibiotika nicht mehr helfen, ist unvorstellbar, etwa bei einer Sepsis. Erst kommt das Fieber, dann der Schüttelfrost. Die Gefäße weiten sich, die Herzfrequenz steigt, oft marmoriert die Haut oder sie verfärbt sich blau, die Blutgerinnung setzt aus, zuletzt läuft das Blut aus allen Körperöffnungen. An den Extremitäten bilden sich Nekrosen, ein Organ nach dem anderen versagt.

So weit weg scheint diese mittelalterliche Zukunft nicht mehr zu sein. Im Januar 2014 meldete das Bundesamt für Risikobewertung, dass in drei deutschen Schweinemastanlagen und einer Hühneraufzucht erstmalig E.-coli-Bakterien nachgewiesen wurden, die sogar gegen die Reserveantibiotika aus der Wirkstoffgruppe der Carbapeneme resistent sind. Die Carbapeneme galten stets als die letzte Hoffnung. Dass neuerdings Keime existieren, gegen die selbst Carbapeneme machtlos sind, ist eine schlimme Neuigkeit.

Und wer ist jetzt schuld?

Alle.

Die Fleischindustrie zeigt auf die Krankenhäuser, die schimpfen über Krankenkassen, den Gesetzgeber und die ambulanten Ärzte bis das Problem wieder bei der Fleischindustrie vor der Tür liegt. Kliniken vernachlässigen Hygiene, Krankenkassen zahlen nicht, Gesetze sind zu lasch, ambulante Ärzte sind zu ahnungslos und die Massentierhalter geben ihren Masttieren tonnenweise Antibiotika. Das sind die Vorwürfe. Trotzdem bewegt sich wenig.

Keime entwickeln sich, wenn es gemutlich und dunkel ist. In Deutschland braucht derzeit kaum ein Keim fürchten, dass es ungemütlich wird.

Viele der gefährlichen Keime werden überhaupt nicht auf nationaler Ebene erfasst. Es gibt kein zentrales Register für multiresistente Erreger. Während sich die Keime über Ländergrenzen international verbreiten, ist die Bekämpfung in Deutschland zu großen Teilen föderal organisiert. Bei Studien, auf die das Bundesgesundheitsministerium verweist, machen Krankenhäuser freiwillig mit.

Und auch wer Licht ins Dunkel bringen will, hat schlechte Karten. Niemand darf wissen, in welchen Krankenhäusern es wie viele Infektionen gibt. Die Krankenhäuser wehren sich mit Händen und Füßen gegen eine zu genaue Aufsicht. Für die Keime bleibt es, wie es ist: gemütlich und dunkel.

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Was tun?

Ein Blick über die Grenze.

Beispiel Holland: Jeder Patient wird vor der Aufnahme ins Krankenhaus auf multiresistente Keime gescreent, im Zweifel isoliert und saniert, bevor die Behandlung startet. MRSA ist in Holland deshalb quasi nicht existent.

Beispiel Dänemark: Bald soll ein Gesetz verabschiedet werden, das Kinderausflüge auf Schweinefarmen verbietet. Und das, obwohl die MRSA-Zahlen in Dänemark im Vergleich zu Deutschland niedrig sind.

Beispiel USA: Im September hat Präsident Barack Obama eine Verfügung unterzeichnet, in der er eine ganze Reihe von Maßnahmen befiehlt. Von stärkerer nationaler Überwachung des Problems bis hin zu einem 20-Millionen-Dollar Preisgeld zur Entwicklung von Erreger-Schnelltests.

Beispiel Frankreich: Jedes Krankenhaus bekommt ein Mal im Jahr Besuch von einer zehn Personen starken Einsatztruppe, um die Klinik 14 Tage lang auf den Kopf zu stellen. Am Ende gibt es – frei zugänglich im Internet – einen oft 500 Seiten langen Report mit Noten für einzelne Bereiche, von A bis F. Bei schlechten Ergebnissen droht den Häusern die Schließung.

In Deutschland sind die Qualitätsberichte der Krankenhäuser so gut wie wertlos. Die Kliniken füllen diese selbst aus, nahezu alle Kliniken stellen sich ein makelloses Zeugnis aus.

Die auch von uns für diese Recherche analysierten Abrechnungsdaten der Krankenkassen könnten helfen, die Qualität im Gesundheitssystem zu verbessern. „Ziel muss sein, dass diese Daten bis auf die Krankenhausebene öffentlich werden“, sagt Bernd Beyrle, Leiter stationäre Versorgung bei der Techniker Krankenkasse.

“Immerhin ist die Analyse dieser Daten schonmal ein Ansatz, um überhaupt einmal eine Vorstellung des Ausmaßes zu bekommen“, sagt Beyrle. Genau darauf wird auch das neue Institut für Gesundheitsqualität setzen, das die Bundesregierung gerade plant.

In Deutschland bräuchte man laut Beyrle „eine echte Überprüfung der Krankenhäuser, wie es in Frankreich geschieht. Und wer seine Leistung nicht bringt, der bekommt einen Warnschuss oder kann sogar ganz aus dem Markt genommen werden.“

Es heißt, Menschen im Krankenhaus können sterben. So sei das eben. Aber das sagte man auch zu Frauen im Kindbett. Bis Ignaz Philipp Semmelweis auf die Idee kam, dass sich Ärzte die Hände waschen müssen, bevor sie zur nächsten Patientin gehen.

Hygiene ist der Schlüssel im Kampf gegen ansteckende Krankheiten. Und ein reduzierter Einsatz von Antibiotika. Würden alle Beteiligten sich voll für die Bekämpfung der tödlichen Keime einsetzen, vielleicht würden Patienten wie Andreas H., Christel B., und Rainer F. heute noch leben.

CORRECTIV schlägt vor:

Die Überwachung und Bekämpfung von Infektionen sollte zentral bei der Bundesregierung in einer Infektionsschutz-Behörde organisiert werden. Keime machen nicht an Landesgrenzen Halt. Die zentrale Behörde sollte nicht nur MRSA-Infektionen überwachen, sie sollte sich auch um VRE, ESBL und andere gefährliche Erreger kümmern.

Außerdem sollten Krankenhäuser – wie in Frankreich – unabhängig kontrolliert werden. Jede Abteilung sollte separat bewertet werden, zum Beispiel auf einer Schulnoten-Skala. Die Prüfer sollten ihre Ergebnisse ins Internet stellen. Wenn nötig, müssen schlampige Häuser einen Warnschuss bekommen oder Abteilungen geschlossen werden.

Diese Prüfergebnisse, inklusive der entsprechenden Daten und Dokumente, sollten für jedes einzelne Krankenhaus zeitnah ins Internet gestellt werden und für die Öffentlichkeit transparent sein. Wenn ein Krankenhaus ernsthafte Problem mit Infektionen hat und bei der Hygiene eine 5 oder 6 kassiert, dann sollten das die Bürger wissen.


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Verantwortlich: David Schraven

Redaktion: Annika Joeres, Benedict Wermter und Daniel Drepper, in Kooperation mit ZEIT, ZEITonline und FUNKE-Mediengruppe

Entwicklung der Karte: Stefan Wehrmeyer

Umsetzung des Fragebogens: OpenDataCity

Titel-Animation: Ivo Mayr

Art Direction: Thorsten Franke / mediaPolis

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