Gefährliche Keime

Wenn Antibiotika Ärzte beruhigen

Rund die Hälfte der weltweit in Krankenhäusern verabreichten Antibiotika wird nicht gemäß der wissenschaftlichen Leitlinien verschrieben. Das zeigt jetzt eine Meta-Analyse, die alle verfügbaren Studien zum Thema durchforstet hat. Die Analyse zeigt auch, wie man Ärzte dazu bringen kann, weniger Medikamente einzusetzen.

von Hristio Boytchev , Victoria Parsons

© Ivo Mayr

Die Meta-Analyse läuft seit 15 Jahren, jetzt wurde eine grundlegende Aktualisierung veröffentlicht, die sich auf insgesamt 221 wissenschaftliche Publikationen weltweit stützt.

Das beunruhigende Resultat: In Krankenhäusern werden Antibiotika nur zu 43 Prozent im Einklang mit den Leitlinien verschrieben – den medizinischen Handlungsempfehlungen für den klinischen Alltag. Anders gesagt: In mehr als der Hälfte der Fälle weichen die Krankenhausärzte von den Regeln ab. Werden zu viele Antibiotika eingesetzt, kann das die Entwicklung von resistenten Keimen befördern. Man schätzt, dass in deutschen Krankenhäusern pro Jahr zwischen 1000 und 4000 Menschen wegen Antibiotikaresistenzen sterben.  

Warum weichen so viele Ärzte von den medizinischen Leitlinien ab?

„Das Valium für Chirurgen“

Etwa, weil Chirurgen bei Operationen vorsorgend Antibiotika verabreichen. Das sagt Hajo Grundmann, Leiter der Krankenhaushygiene am Uniklinikum Freiburg. Eigentlich sollten höchstens ein paar Stunden vor einer OP Antibiotika verabreicht werden. Doch für viele Chirurgen sei es eine große Beruhigung, sie auch noch Tage danach zu verabreichen. Damit ja keine Infektion auftrete. „Antibiotika sind das Valium für Chirurgen“, sagt Grundmann.

Und das liege auch daran, ergänzt Hajo Grundmann, weil viele Krankenhäuser heute profitorientierte Unternehmen seien; das setze die Ärzte unter immer größeren Druck. Alles werde in Kennzahlen gemessen, für einen Chirurgen sei entscheidend, ob er oder sie erfolgreich operiere und dem Krankenhaus Geld verdiene. Antibiotika sparsam einzusetzen? Ist dagegen keine so relevante Größe.

Dass es möglich ist, das Verschreibungsverhalten der Ärzte zu ändern – auch das zeigt die neue Meta-Analyse. Dann nämlich, wenn die Krankenhäuser ihre Mediziner fortwährend kontrollieren, fortbilden und betreuen. Dann würden Antibiotika – laut Studie – um durchschnittlich 15 Prozentpunkte häufiger gemäß der Leitlinien eingesetzt.

Die korrekte Verschreibungsquote steigt damit von 43 auf 58 Prozent. Das klingt auf den ersten Blick nicht nach viel, aber: „Das ist schon toll“, sagt Grundmann. Zeige sich doch, dass eine Verhaltensänderung bei den Ärzten möglich ist, die dem Patienten keinen medizinischen Nachteil bringt. Und darüber hinaus den Krankenhausaufenthalt um einen Tag reduzieren kann.

So sieht das auch Winfried Kern, Professor für Infektiologie an der Uniklinik Freiburg. Es sei nicht realistisch, auf 100 Prozent korrektes Verschreibungsverhalten zu schielen, auch, weil es viele Situationen gibt, für die es keine eigene Leitlinie gibt. Oder es ist medizinisch sinnvoll, von der Leitlinie abzuweichen, wenn etwa ein Patient besonders anfällig ist. „Leitlinien haben überdies nicht immer die hohe Qualität, die sie haben müssten“, gibt der Mediziner zu bedenken.

Die Meta-Analyse wurde veröffentlicht von einem Team um Peter Davey von der schottischen University of Dundee. Die Forscher haben auch untersucht, welche Maßnahmen die Ärzte wirksam dazu anhalten, weniger Antibiotika zu verschreiben. Studienleiter Davey kritisiert, dass viele dieser Maßnahmen zu vage und unkonkret seien – und keine präzisen Ziele formulieren. Das Ziel sei häufig nur: „öfter den Leitlinien zu folgen“. Und nicht etwa: „mindestens in 80 Prozent der Fälle den Leitlinien zu folgen“. Was dann auch dazu führt, dass ein möglicher Erfolg nicht beziffert werden kann.

Überschätzte Fortbildungen

Was gar nicht wirkt, laut Davey: Die Ärzte zum Ausfüllen eines Formulars zu zwingen, um Antibiotika verabreichen zu können. Dann fühlten sie sich bevormundet – und würden lügen beim Ausfüllen der Formulare. Ebenfalls uneffektiv: Fortbildungsveranstaltungen.

Gerade in Deutschland setzte man aber stark auf Fortbildung. „Wenn irgendwas nicht läuft, gibt es eine Nachschulung“, sagt Petra Gastmeier, leitende Hygienikerin an der Berliner Charité. Dabei mangele es nicht an Kenntnissen. Die Ärzte wüssten in der Theorie, was zu tun ist.

Im angelsächsischen Raum, so Gastmeier, sei man besser aufgestellt: Dort nähmen Infektionsspezialisten und Hygieniker Chirurgen und andere behandelnde Ärzte öfter an die Hand, betreuten sie, gäben ihnen Feedback über deren Verschreibungsverhalten.

Nach diesen Prinzipien führt Gastmeier nun in Deutschland ein Projekt durch, das auch ambulante Ärzte zu einem sinnvolleren Antibiotikaeinsatz bewegen soll. Nach ihrer Einschätzung ist die Lage bei Hausärzten vergleichbar mit der in Krankenhäusern.