Neue Rechte

Mit dem Supermarkt übers frustrierte Land

Unser Reporter Raphael Thelen reist durch MeckPomm vor der Landtagswahl. Bei Schwerin und Anklam fährt er mit dem mobilen Supermarkt über die Dörfer. Während in Schwerin immer mehr Leute Arbeit finden, wächst auf dem Land die Frustration. Dort wird häufiger rechts gewählt.

von Raphael Thelen

Kaufmann Stefan Pötschke in seinem rollenden Supermarkt. Für einige Kunden ist er auch Seelsorger.© Thomas Victor

Diese Serie erscheint parallel auf Zeit Online.


Stefan Pötschke zieht seinen Kaufmannskittel an und fährt los. Im Heck seines Lieferwagens transportiert er Einmachgummis, Geleebananen, Sauer-Fleisch – und im Kopf eine kleine Chronik der Menschen rund um Schwerin. Seit der Wende schaukelt der Kaufmann mit seinem fahrenden Supermarkt über die Dörfer der Gegend und dabei ist Reden mindestens so wichtig wie Rechnen.

Sein erster Kunde sitzt mit Gehstock und Stoffbeutel in der Hand vor seinem Haus und wartet schon auf Pötschke, der aussteigt und ihn begrüßt. „Guten Morgen Herr Werselin*, wie geht es Ihnen?“ Werselin nimmt das gleiche wie immer: ein paar Lebensmittel, zwei Flaschen Schnaps und ein Weltkrieg-Heftchen voller Heldenstories über die Wehrmacht. Als Pötschke uns Journalisten vorstellt, regt Werselin sich auf: „Mit dem Stock sollte man Journalisten vom Hof treiben.“ Und: „Diesen Grünen-Politikern sollten man den Kopf rasieren und sie erschießen.“

Pötschke hält freundlich dagegen, beruhigt den alten Mann. Später, zurück am Wagen, sagt er: „Im Zweiten Weltkrieg kämpfte Werselin gegen jugoslawische Partisanen und hat so einiges mitgemacht. Und seit seine Frau vor zehn Jahren gestorben ist, hat er außer seinem Sohn nur noch mich.“ Pötschke weiß das, weil er gerne eine Weile bei seinen Kunden bleibt und mit ihnen spricht. „Das hier wird immer mehr auch ein sozialer Dienst“, sagt er. An Werselins Geburtstag stellte er ihm eine Flasche Likör vor die Tür.

Zwei Tage rollen wir über das Land

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Pötschke fährt zum nächsten Ort. Nach der Wende war er vielerorts die einzige Einkaufsmöglichkeit.

Thomas Victor

Man sieht ein Bundesland, das verödet, wenn man sich die Zahlen zu Mecklenburg-Vorpommern anguckt. Die Einwohner können sich ein Viertel weniger leisten als zum Beispiel die Bayern. Die Arbeitslosigkeit liegt ein Drittel höher als im Bundesdurchschnitt. Nach der Wende lebten zwei Millionen Menschen zwischen Schwerin und polnischer Grenze, heute sind es nur noch 1,6 Millionen.

Die schlimmsten Zustände herrschen auf dem platten Land, dort, wo auch mehr rechts gewählt wird, als in den Städten. Ähnlich wie in Österreich, Frankreich und Großbritannien.

Wir fahren zwei Tage mit fliegenden Händlern in Mecklenburg und Vorpommern übers Land, um hinter die Zahlen zu gucken und entdecken eine gesellschaftliche Spaltung, die Gesamtdeutschland widerspiegelt.

Der Zusammenbruch schafft Möglichkeiten

„Nach der Wende ist hier alles kaputt gegangen“, sagt Pötschke und öffnet in seinem Lieferwagen die silberne Thermoabdeckung des Kühlregals für die nächste Kundin. „In den ersten fünf Jahren brach die gesamte Nahversorgung zusammen.“

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Stefan Pötschke vor seinem Wohnhaus. Bis vor fünf Jahren verkaufte er auch noch hier Lebensmittel.

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In der DDR arbeitete er als Chemieingenieur und als Bürgermeister einer kleinen Gemeinde, wollte nach der Wende aber raus aus der Politik. Als die ersten Einkaufsläden schlossen, kaufte er den Wagen.

„Wenn ich damals Urlaub gemacht habe“, sagt er „herrschte Hunger auf den Dörfern.“ Die Kundin, die gerade Obst in ihren Einkaufskorb legt, lebte schon damals in der Straße. „Hier war noch nicht mal asphaltiert und wenn er nicht kam, haben wir ihn schon sehr vermisst.“ Immer mehr Menschen baten Pötschke, auch bei ihnen vorbeizuschauen. Und obwohl noch weitere Wagen über die Dörfer tourten, arbeitete er bis zu hundert Stunden die Woche. Doch irgendwann gingen die Stunden zurück.

Plaudern an der Registrierkasse

„Seit 1995 kamen eigentlich keine neuen Kunden dazu“, sagt er. Spätestens zu der Zeit begriffen die Menschen, dass die Ostwirtschaft noch lange kranken würde und die Jungen zogen in den Westen. Die Dörfer verfielen und Pötschke wurde mehr als ein Kaufmann: Die Menschen erzählten ihm von ihren Berufsjahren auf fernen Kontinenten, über ihr Leben als Donauschwaben in Persien, das Überleben auf der sinkenden Gustloff. „Einer Frau sagte ich zweimal, dass der schwarze Fleck in ihrem Gesicht Hautkrebs sein könnte“, sagt Pötschke. Sie ging zum Arzt und die Diagnose stimmte. Die Frau wurde gerettet.

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Zwei Frauen kaufen in Pötschkes fahrendem Supermarkt ein. Viele erzählen ihm ihre Lebensgeschichten und Pötschke hört gerne zu.

Thomas Victor

Über die Jahre verlor der 62-jährige immer mehr Kunden an den Tod oder das Pflegeheim. Heute arbeitet er nur noch 35 Stunden die Woche, die Einkäufe werden kleiner und so verdient er nur noch rund fünf Euro die Stunde. Dabei gäbe es wieder Kunden, die neuen Autos vor den Häusern zeugen davon.

Andreas Bärle nimmt ein Paket Butter und eine Milch aus dem Kühlregal und plaudert kurz mit Pötschke. Er mag ihn und hält ihm die Stange. Brauchen tut er ihn nicht.

Boom

„Seit der Bundesgartenschau vor sieben Jahren geht es in Schwerin wieder bergauf“, sagt der Kleinunternehmer Bärle. Vor allem Hightech-Unternehmen treiben das neue Wachstum – Luftfahrt-, Biotech- und Medizintechnikunternehmen siedeln sich an.

2015 wurde in Mecklenburg-Vorpommern das historisch höchste Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet, die Exporte stiegen im Vergleich zum Vorjahr um zwölf Prozent. Die Unternehmen schaffen vor allem Jobs für Hochqualifizierte, viele Unternehmen suchen geeignete Fachkräfte. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern rund 20 Prozent niedriger als vor vier Jahren. Viele im Westen des Bundeslandes arbeiten im reichen Hamburg.

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Andreas Bärle in seiner Straße. Seit einigen Jahren ziehen immer mehr Familien aus Schwerin aufs Land.

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Um mit seiner Ehefrau Kinder zu kriegen, zog Bärle vor einigen Jahren aus Schwerin ins Dorf Schossin. Das Bauland war billig, die beiden betreiben eine Wäscherei und ein Naturkosmetikgeschäft in Schwerin.

Sie bauten ein baubiologisches Haus, mit Garten und Feldsteinmauer. Ein befreundetes Pärchen kaufte das Haus einer verstorbenen Frau nebenan, andere junge Familien sanieren die umliegenden Siedlungshöfe. „Ich schätze, dass wir ein Viertel Kinder im Dorf haben“, sagt Bärlin. Seine Einkäufe erledigt er auf dem Heimweg, in den Discountern ist es billiger.

Alle sterben weg

Auch Pötschke wollte am Aufschwung teilhaben, obwohl er seine Alten liebt, bewarb er sich als Filialleiter in einem Supermarkt und scheiterte. Zu alt. Und damit spiegeln Bärle und Pötschke ein bisschen die deutsche Wirtschaftsentwicklung. Die Gutqualifizierten starten durch, weniger glückliche und ältere werden abgehängt oder in Arbeitsprogrammen geparkt. Auch deshalb sehen die Arbeitslosenzahlen so gut aus.

Morgens um sechs drückt Anja Dau ihre Zigarette aus, verabschiedet die Kolleginnen und steigt in ihren mobilen Bäckereitruck. Den ganzen Tag wird sie Menschen in den Dörfern rund um Anklam beliefern. Anklam, das ist Schwerins kleine harte Schwester. Arbeitslosigkeit: 14,8 Prozent. NPD: 9,2 Prozent. Größte Arbeitgeber: Molkerei, Türenwerk, Bettenfabrik. Mobile Bäckereien und Supermärkte gibt es viele.

„Ich habe Angst, dass ich meinen Job wieder verliere, weil die Alten auf der Route alle wegsterben“, sagt die 39-jährige Dau. Angst passt eigentlich nicht zu ihr. Sie liebt ihren Job, begrüßt jeden Kunden mit lauten, überschwänglichen Worten, steht nie still.

Der Terror treibt die Deutschen an die Ostseeküste

Vor acht Wochen ergatterte sie den Bäckerinnen-Job. Lächelnd sagt sie: „Und schon haben mir einige Kunden das Du angeboten.“ Eine davon ist die 56-jährige Beate Döring im kleinen Ort Medow, die gerade vom Sportplatz kommt. Gemeinsam mit ihren Hartz IV-Kollegen hat sie Rasen gemäht, wofür sie von der Gemeinde ein paar Euro bekommen.

Ein Fußballverein spielt auf dem Platz nicht mehr. Vor zwei Jahren schloss der Kindergarten. Die alte Schule wurde abgerissen, weil sie drohte, auf ein Nachbarhaus zu stürzen. Ins Clubheim der Kaninchenzüchter regnet es rein.

Döring arbeitete in der DDR als Rinderzüchterin in der örtlichen LPG. Nach der Wende sortierte sie noch einige Jahre Kartoffeln und räumte Steine von den Feldern. Dann war Schluss, Hartz IV. Ihre Arbeitsvermittlerin sagte, sie solle sich einen Job in der boomenden Tourismusbranche auf der nahegelegenen Urlaubsinsel Usedom suchen. Knapp 30 Millionen Übernachtungen verbuchte Mecklenburg-Vorpommern vergangenes Jahr, die Terrorangst treibt die Deutschen an die Ostseeküste. „Aber wie soll ich dahin kommen, ohne Auto und Führerschein?“, sagt Döring. Auch Einkaufen ist ein Problem, der nächste Supermarkt ist im 20 Kilometer entfernten Anklam. Der Bus fährt alle paar Stunden. Dörings ganzer Stolz ist die Freiwillige Feuerwehr im Ort, mit der sie an Wettkämpfen teilnimmt. Beim letzten Mal streikte die Pumpe.

Kanzler Kohl kam nicht, schickte aber ein signiertes Porträt

Bäckerin Dau rumpelt weiter über die Landstraßen. Viele wölben sich in der Mitte, weil sie noch aus Feldsteinen gebaut sind. Links und rechts überwuchert Unkraut die alten Landmaschinen. Schwalben schießen aus leerstehenden Siedlungshöfen in die Luft. „Die jungen Leute gehen in die Städte“, sagt die Bäckerin. „Auch ich war einige Jahre weg.“ Plötzlich ist hinter einer Kurve Bewegung, einige LKW rangieren vor und zurück. Es ist die örtliche Mülldeponie.

Am Türgriff des Restaurants Zur Linde in Neuendorf B hängt eine Stofftüte. Dau bremst, denn das heißt: Inhaberin Henni Rost will etwas kaufen. Leicht humpelnd, aber mit durchgedrücktem Rücken kommt die 78-Jährige an den Wagen. Später, im Schankraum ihres Restaurants, sinkt sie in sich zusammen.

Seit 1974 führt sie den Familienbetrieb, an der Wand über dem Tresen hängt eine Ehrenurkunde zum 100-jähigen Betriebsbestehen, Schlagerstars aßen hier, genau wie ein sowjetischer Vize-Konsul und Landesminister. Eine Greifswalder Schriftstellerin nahm die Wirtsleute zum Vorbild für ihre Romane. Bundeskanzler Helmut Kohl kündigte seinen Besuch an, war dann jedoch verhindert, schickte stattdessen ein signiertes Porträt. Es hängt immer noch an der Wand. „Ich öffne jeden Tag, außer wenn ich zum Arzt muss“, sagt Rost. „Aber außer ein paar Fahrradfahrern und Usedom-Reisenden auf der Suche nach einer Toilette kommt hier kaum noch jemand vorbei.“

Es wird nicht mehr getanzt

Sie kennt jeden einzelnen im Dorf, geht sie im Kopf durch: „Hier wohnen noch 13 – 25 – 35, ungefähr 40 Leute. Vor der Wende waren es doppelt so viele. Und wir zählen alle zwischen 50 und 80 Jahre.“

Früher kamen täglich die Arbeiter der umliegenden Betriebe, um sich ein Bier in die Kehle zu schütten, Karten wurden gedroschen und zu Silvester aßen, tranken, tanzten die Gäste. Kurz vor Mitternacht tischte Rost immer nochmal Pfannekuchen und Kaffee auf. Doch irgendwann kamen immer mehr Gäste, die vom Buffet nahmen aber nur noch Geld für ein Wasser hatten. Vor zehn Jahren kamen sie gar nicht mehr.

Deutlicher Fingerzeig

In Rosts altmodischer Schankstube wirken die sanierten Kaiserbäder auf Usedom und der staatlich geförderte Schweriner Industriepark weit weg. Von dort aus mag es schwerfallen, die Frustration der Menschen im Land zu verstehen, die der Alternative für Deutschland bei den Landtagswahlen am 4. September den Wahlsieg bescheren könnte.

Doch die abgebrochenen Balken der einstürzenden Dachstühle in Rosts Dorf geben einen deutlichen Fingerzeig. Oder wie ein 65-jähriger Bekannter mir mal sagte: „Uns kleinen Leuten wurde immer gesagt, es muss gespart werden. Und auf einmal ist Geld für die Flüchtlinge da.“

Rost schöpfte trotz allem vor ein paar Jahren nochmal Hoffnung, als zwei Ärzte aus Hannover das Schloss des Orts kauften und alle dachten, dass sie eine kleine Reha-Klinik eröffnen würden. Doch die Ärzte missachteten die Vorgaben des Denkmalschutzes. Seitdem steht die Baustelle still. „Ich habe das hier mitaufgebaut, ich will das nicht verlassen“, sagt Frau Rost. Aber wenn sie stirbt, wird die Linde nach über hundert Jahren wohl schließen. Und wenn sich nichts ändert, bald nach ihr der Ort.

Zurück im Schweriner Umland fährt Kaufmann Pötschke mittags zurück zu seinem Haus, um einen Kaffee zu trinken und die nächste Tour vorzubereiten. Nur 200 Euro Umsatz hat er am Morgen gemacht. „Das macht nichts, ich liebe meinen Job und man darf nicht zu viel vom Leben erwarten“, sagt er. „Und auch wenn es kriechend langsam ist, geht es bergauf.“

*Wir haben den Namen von Herrn Welserin geändert, weil wir den Eindruck hatten, dass er im Umgang mit Medien unerfahren ist und wir ihn hier an dieser Stelle schützen wollen.

Die Recherche in Kooperation mit „Zeitenspiegel Reportagen“ wurde von Raphael Thelen über die Plattform crowdfunding.correctiv.org finanziert. Wir bedanken uns bei der Rudolf Augstein Stiftung und mehr als 100 Einzelspendern für die Unterstützung.

Sofern die Spender einer Namensnennung zugestimmt haben, werden sie hier aufgeführt: Bert Rothkugel, Andres Eberhard, Jonas Aust, Philipp Lienhard, Wiebke Buth, Laura Sundermann, Felix Kamella, Diana Di Maria, Sven Brose, Kai Schächtele, Hannes Opel, Volker Vienken, Friedrich Dimmling, Ulrike Kahl, Felix Weykenat, Constanze Günther, Carolin Wilms, Maria Schmidt-Lorenz, Heiko Hilken, Petra Sorge, Lien Pham-Dao, Elisabeth Ferrari, Wolfgang Weidtmann, Gerhard Dimmling-Jung, Hanfried Victor, Michael Vogel, Tina Friedrich, Stefan Z, Nicole Graaf, Alexander Surowiec, Michael Rasenberger, David Weyand, Christian Mair, Christian Vey, Jörn Barkemeyer, Katharina Müller-Güldmeister, Pia Schauerte, Sybille Förster, Heiko Mielke, Marcus Windus, Christiane Specht, Sebastian Cunitz, Felix Schmitt, Khazer Alizadeh, Tobias Brabanski, Veronika Wulf, Christian Frey, Linda Salicka, Anna Kaleri, Lutz Wallhorn, Edith Luschmann, Thomas Stroh, Christoph Gemaßmer, Matthias Kneis, Gunnar Findeiß, Christiane R, Friedemann Huse, Werner Thelen, Lukas Ladig, Stephan Thiel, Tobias Hill, Florian Berger, Marcus Anhäuser