Pflege

Tod und Leben

Marcus Jogerst hat ein Altenheim gebaut, mit dem er beweisen will, dass pflegedürftige Menschen in Würde leben können. Er ist ein Visionär und ein Vordenker. Ein Dickschädel und ein Kämpfer. Sein Leben soll hier geschildert werden. Eine kostenlose Leseprobe.

von Daniel Drepper

© Ivo Mayr

Dies ist das erste Kapitel unseres seit heute erhältlichen Buches „Jeder pflegt allein: Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht“. Das Buch könnt Ihr in unserem Shop bestellen.


Wer Marcus Jogerst begleitet, gerät mitten hinein in ein krank machendes System. Erlebt, wie in einem Brennglas gebündelt, die Probleme der deutschen Altenpflege. Jogerst kämpft mit verkrusteten Strukturen, mit knappem Geld, fehlendem Personal und einer Bürokratie, die ihm die Luft zum Pflegen nimmt. Er kämpft gegen dubiose Vermittlungsfirmen und gegen illegale Pflegekräfte. Er erlebt 25 Jahre lang hautnah, wie das deutsche Pflegesystem unter der Last einer immer älter werdenden Bevölkerung knarzt und ächzt und fast zusammenbricht. Bis er schließlich in Berlin mit denen an einem Tisch sitzt, die unsere Pflege in Deutschland gestalten.

Als Jogerst 13 Jahre alt ist, trennen sich seine Eltern. Mutter Christa zieht aus, nimmt Marcus mit und redet schlecht über Lorenz, den Vater. Der bleibt mit Haus und Schulden zurück und bekommt eine chronische Darmentzündung. Es dauert ein halbes Jahrzehnt, bis sich Vater und Sohn wieder annähern.

Anfang Oktober 2003. Jogerst ist 28 Jahre alt und führt seit vier Jahren eine von ihm gegründete Unternehmensberatung für Pflegeheime. Nun will er sein eigenes Heim bauen. Aber er hat fast nichts gespart. Und ohne Eigenkapital gibt ihm die Bank keinen Kredit.

Er weiß, wie sparsam sein Vater ist. In welch bitterer Armut er in den Nachkriegsjahren aufgewachsen ist. Wie verbissen er sein Leben lang um finanzielle Sicherheit, um seine Altersvorsorge gekämpft hat. Er will ihn trotzdem fragen.

Vater und Sohn sitzen im elterlichen Wohnzimmer.

Papa. Ich frage Dich. Und ich bitte Dich. Du musst es nicht tun. Ich werde nicht böse sein, wenn Du Nein sagst. Kannst du dir vorstellen, deine Altersvorsorge in ein Pflegeheim zu investieren, das ich bauen will?

Der Vater bittet um Bedenkzeit. Er bespricht die Angelegenheit mit Iris, seiner neuen Frau.

Probier es doch, ermuntert ihn Iris. Ich brauche dein Geld nicht, sagt sie. Sorg lieber für deine Kinder. Und wenn etwas schief geht, dann muss der Marcus es halt zurückzahlen.

Lorenz Jogerst stimmt zu.

Vater und Sohn unterschreiben einen Vertrag. 

Zwei Jahre vergehen.

Die Grundsteinlegung in der Stadtmitte von Renchen. 7000 Einwohner im zufriedenen Baden, zwischen Freiburg und Karlsruhe. Alle sind da: der Bürgermeister, dessen Stellvertreter, beide Ortsvorsteher, ehemalige Kollegen, Freunde und Verwandte. Familie Jogerst lässt sich fotografieren. Marcus posiert im Rohbau, in grauem Anzug, mit weißem Hemd, rotem Schlips und roter Baskenmütze.

Jahrelang hat Jogerst für dieses Heim gekämpft. Erst lässt ihm seine Bank fast den Kredit platzen, dann gibt es Ärger mit den Nachbarn, schließlich schickt ihm der Bauunternehmer so gut wie jede Woche irgendwelche Nachforderungen. Jetzt kommt Jogerst seinem Ziel Tag für Tag näher. Endlich will er die Pflege möglich machen, die er sonst nirgendwo durchsetzen konnte. Endlich will er alte Menschen in Ruhe leben lassen – wie in einer großen Familie, ohne die sonst üblichen starren Regeln und Hierarchien. Ende Juni soll sein Heim eröffnen.

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Freitag, 9. Juni 2006.

Der Sommer beginnt, blauer Himmel, seidige 20 Grad. Jogerst hat sich den Tag frei genommen und fährt mit einem Freund an den Korker Baggersee bei Odelshofen.

Währenddessen holt Stiefmutter Iris seinen Vater Lorenz von der Arbeit ab. Lorenz setzt sich ans Steuer. Sie fahren über die Landstraße, passieren den Baggersee, an dem Marcus gerade in der Sonne liegt. Lorenz Jogerst fährt vorsichtig, wie immer, langsamer als die erlaubten 70 Stundenkilometer.

Ein Auto kommt ihnen entgegen, wird langsamer, will nach rechts abbiegen, da ist ein Erdbeerfeld zum Selbstpflücken.

Dahinter ein zweites Auto. Plötzlich beschleunigt es und schert zum Überholen aus. Das reicht nicht, schreit Iris. Dann krachen die Wagen frontal ineinander.

Auf der Rückfahrt vom Baggersee sieht Marcus einen Helikopter aufsteigen.

Wieder daheim, sind die Eltern nicht da. Er wartet. Warum kommen sie nicht? Die sind doch sonst immer pünktlich. Jogerst starrt auf sein Handy. Als das Telefon endlich klingelt, ist seine Stiefschwester dran.

Du, Marcus, bei Kork hat ein silberner Opel Zafira einen Unfall gehabt. Sind die Eltern zu Hause?

Der Schwager fährt Jogerst zur Unfallstelle. Stiefmutter Iris ist mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht worden. Vater Lorenz mit dem Helikopter unterwegs in die Uniklinik Freiburg.

Jogerst fährt sofort los. Als er ankommt, schieben die Ärzte gerade seinen Vater durch die Operationsschleuse. „Passen sie mir auf seinen Kopf auf „, sagt Jogerst zum Anästhesisten. Warum er das sagt, weiß er bis heute nicht. Dann verschwindet der Vater.

Samstag, 10. Juni.

Jogerst packt Wäsche zusammen, fährt nach Freiburg und läuft mit der Tasche auf die Intensivstation. Beim Betreten eilen Ärzte mit dem Bett des Vaters an ihm vorbei. Um Gottes Willen, was ist denn? Eine halbe Stunde später kommt der Arzt zurück. Alle Karten auf den Tisch, sagt Jogerst. Ich bin vom Fach. Was ist los? Der Vater habe einen Schlaganfall gehabt. In einer Not-OP setzen ihm die Ärzte zwei Stents, die seine Gefäße offen halten.

Als Jogerst den Raum betritt, ist er ganz Pfleger. Papa, du brauchst keine Angst haben. Wir schaffen das. Ich sorge für alles. Sein Vater schaut ihn an – und erbricht sich auf ihn und den behandelnden Arzt.

Jogerst ruft in Norddeutschland an, bei seiner ehemaligen Kollegin und Freundin Manuela Vallendor-Wedermann. Er sagt: Wenn ich jetzt nicht bei meinem Vater bleibe, kann ich mein Leben lang nicht mehr in den Spiegel schauen. Sie steigt ins Auto und übernimmt die Hoheit über die Baustelle.

Jogerst bleibt in Freiburg. Es geht auf und ab. Mal sagt der Anästhesist: Es sieht gut aus, die Schwellung geht zurück. Dann wird der Druck zu stark. Die Ärzte schneiden die Schädeldecke auf. Wieder bessert sich der Zustand.

Dienstag, 13. Juni.

Jogerst fährt aus Freiburg zurück. Zu Hause angekommen, fällt ihm auf, dass sein Handy nicht funktioniert. Vom Festnetz aus ruft er auf der Station seines Vaters an.

Ah, Sie wollten wir sowieso gerade anrufen. Ja? Wieso?

Können Sie vorbeikommen?

Warum soll ich kommen?

Sie müssen hier eine Entscheidung treffen.

Jogerst fliegt die Treppen hinunter, rennt über die Straße und wird fast von einem Auto überfahren. Hämmert auf die Motorhaube. Weiß nicht, warum er dort steht. Seine Tante fährt ihn so rasch wie möglich nach Freiburg.

Dort ist das Stammhirn des Vaters wieder unter Druck geraten. Stiefmutter Iris sitzt im Rollstuhl neben dem Bett. Alle Brüder und Schwestern sind gekommen. Sie weinen. Soll ihr Vater ein Pflegefall werden, mit Magensonde und Beatmungsgerät? Sollen sie die Apparate ausstellen und den Vater gehen lassen?

Lorenz Jogerst hat immer betont, dass er kein Pflegefall werden will. Und so entscheiden sie es. Die Ärzte setzen die Medikamente ab. Die Familie bleibt über Nacht. Marcus Jogerst liest eine Geschichte über das Loslassen vor. „Illusionen“ von Richard Bach. Er legt die Hände des Vaters auf seinen eigenen Kopf. Der fühlt sich an, als schrumpfe er auf Kindergröße. Jogerst verabschie- det sich. Dann hört der Vater auf zu atmen.

Donnerstag, 15. Juni.

Bis zur Eröffnung des Pflegeheims sind es noch 15 Tage.


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