Pflege

Daheim statt Heim ist die falsche Strategie

Das deutsche Pflegesystem funktioniert nicht. Es braucht eine grundlegende Reform, damit die Gesellschaft künftig würdig altern kann. Die Lösung könnte eine Vollversicherung sein.

von Daniel Drepper

© Ivo Mayr

Über die Pflege berichten wir ausführlich in unserem neuen Buch „Jeder pflegt allein: Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht“. Das Buch gibt es im CORRECTIV-Shop. Der Text erscheint parallel auf Zeit Online.


Meine Eltern sind 55 Jahre alt, fit und leben glücklich in unserem Heimatstädtchen im Münsterland. Trotzdem machen sie sich Gedanken über das Alter. Unser Einfamilienhaus hat zwei Etagen und keinen Aufzug. Seit einiger Zeit suchen sie daher nach einer altengerechten Wohnung, um vorbereitet zu sein.

Ich hingegen habe das Thema Altenpflege verdrängt, solange ich konnte. Es ist unangenehm, es macht mich traurig. Doch zuletzt habe ich mich immer häufiger gefragt: Wie werden meine Eltern alt? Wie kann ich sie unterstützen, wenn ich in Berlin lebe, mit dem Zug vier Stunden entfernt? Und falls ich nicht genug tun kann: Wer wird sich um sie kümmern?

Die Suche nach Antworten hat mich beunruhigt. Ich weiß nun: Unser Pflegesystem funktioniert nicht. Es scheint, als wären „Pflege“ und „Skandal“ untrennbar verbunden. Wir hören Geschichten von Horror-Heimen, in denen Einmal-Windeln auf der Heizung getrocknet werden, damit ein Bewohner sie doch nochmal tragen kann. Oder Berichte von Einrichtungen, in denen alle Bewohner am selben Tag Abführmittel bekommen, damit Pfleger sie direkt nacheinander reinigen können, um Zeit und damit Geld zu sparen. Oder von einem Heim, in dem ein alter Mann im Winter unbemerkt in den Gartenteich fällt und nahezu erfriert. Dieser Mann war mein Großvater.

Interesse an billig, nicht an Qualität

Das darf nicht sein. Daher haben meine Kollegen von CORRECTIV und ich für unser Buch Jeder pflegt allein mehr als ein Jahr lang mit Hunderten Menschen gesprochen, mit Politikern und Behörden, mit Heimbetreibern und Pflegern, mit Angehörigen, Aktivisten, Wissenschaftlern und Mitarbeitern von Pflegekassen. Wir sind mit versteckter Kamera in zwei verschiedene Heime eingezogen. Wir haben Daten aller deutschen Pflegeheime ausgewertet und uns bislang geheime Untersuchungsberichte besorgt. Wir haben die Geschichten von Pflegern aufgeschrieben, die um gute Pflege kämpfen. Die scheitern. Und weiterkämpfen. Denn es muss sich etwas ändern.

Noch nie habe ich in einer Branche recherchiert, in der so viel Geld verteilt wird und die gleichzeitig so intransparent ist. In der so viele Menschen mitreden und sich die Entscheider gegenseitig so sehr blockieren. In der fast alle ein größeres Interesse an billig haben als an Qualität. In der es derart gewaltige Probleme gibt – und in der sich trotzdem kaum etwas bewegt.

Kein Plan für die Zukunft

Wenn ich alt bin und gepflegt werden muss, in 40 oder 50 Jahren, wird es doppelt so viele pflegebedürftige Menschen geben wie heute. Es wird Hunderttausende zusätzliche Pfleger brauchen. Wo sollen die herkommen? Wer soll die bezahlen? Die Politik hat keinen überzeugenden Plan für die Zukunft der Pflege in Deutschland.

Gute Pflege für alle ist nur mithilfe einer großen Reform der Pflegeversicherung möglich, die sich auf die demografischen Entwicklungen der nächsten Jahrzehnte stützt. An ihr müssten Pflegekassen, Städte, Länder und die Bundesregierung gemeinsam arbeiten. Kein Stückwerk, bei dem sich auf Landesebene alle gegenseitig behindern und am Ende niemand weiß, wo das Geld der letzten Reform eigentlich geblieben ist.

Die Politik vertritt seit Jahren die Devise: Daheim statt Heim. Angehörige pflegen ihre Alten, unterstützt von ambulanten Diensten. Entsprechend gibt es für die ambulante Versorgung – die Pflege daheim – immer mehr Geld. 

Daheim statt Heim? Schwierig

Doch diese Rechnung geht aus drei Gründen nicht auf:

Erstens: Schon jetzt gibt es nicht genügend Pfleger. Menschen ambulant zu versorgen aber, kostet noch mehr Arbeitskraft, als in Altenheimen. Wie in der Schule. Auf einem großen, rechteckigen Schulhof ohne Bäume können vier Lehrer ziemlich gut auf 1.000 Kinder aufpassen. Wäre dieselbe Zahl Schüler auf fünf verwinkelte Gärten verteilt, bräuchte es bedeutend mehr Aufsichtspersonen. Klar, Gärten sind schöner. Aber woher die zusätzlichen Lehrer nehmen, wenn schon für den rechteckigen Hof nicht genug Personal da ist?

Zweitens: Die klassische Familienpflege funktioniert nur noch selten. Zumeist wohnen Familien nicht mehr an einem Ort und selbst wenn Angehörige in der Nähe leben, heißt das nicht, dass diese ihre Eltern auch pflegen wollen. Pflege ist anstrengend für den Körper und für die Seele. Nicht umsonst gibt es professionelle Pflegekräfte, die wissen, wie man pflegt und die auch lernen, mit den psychischen Belastungen umzugehen.

Drittens: Deutschland schrumpft. Gut ausgebildete Menschen fehlen in fast allen Berufen. Berufstätige mit Kindern versucht der Staat möglichst schnell wieder in ihre Jobs zu bringen, damit sie nicht so lange fehlen. Dafür gibt es Ganztagskitas. Warum soll es in der Altenpflege genau umgekehrt sein? Warum sollen Menschen für die Betreuung der Senioren daheim bleiben müssen, statt zu arbeiten? Oft sind pflegende Töchter und Söhne zwischen 50 und 60 Jahre alt. Sie sind in einer Phase des Berufslebens, in der sie mit Erfahrung glänzen, einige in Führungspositionen, gut bezahlt, mit Verantwortung. Diese Menschen sollen ihre Jobs verlassen, um daheim Laienpflege zu machen? Eine Laienpflege, deren Zeitraum anders als bei der Kinderbetreuung nicht abzuschätzen ist, die drei Monate, aber auch acht Jahre dauern kann?

Wir brauchen gute Altenheim

Wer Vertreter der Bundesregierung fragt, warum sie so sehr auf ambulante Pflege setzen, hört: weil die Leute es so wollen. Tatsächlich wollen drei Viertel aller Deutschen das, wie eine repräsentative Umfrage der R+V-Versicherung zeigt. Gleichzeitig aber will laut einer Umfrage der DAK Gesundheit nur weniger als jeder Dritte selbst jemanden zu Hause pflegen.

Eine Regierung muss für diese Differenz eine Lösung finden. Diese Lösung kann aber nicht sein, stationäre Heime finanziell austrocknen zu lassen und damit Angehörige zur ambulanten Pflege zu zwingen. Im Gegenteil: Die stationäre Pflege muss so gut werden, dass die Menschen keine Angst mehr davor haben, ins Heim zu gehen. Erst dann können sie frei entscheiden, was für sie die beste Pflege ist.

Wie also können wir bessere Pflege möglich machen? Eine Vollversicherung wäre eine Möglichkeit. Das bedeutet: Alle zahlen mehr in die Pflegeversicherung ein, dafür muss am Ende niemand privat dazu zahlen. Professor Markus Lüngen von der Hochschule Osnabrück hat berechnet, dass eine Vollversicherung insgesamt gut sieben Milliarden Euro zusätzlich kosten würde, damit alle Pflegekosten abgedeckt sind. Das klingt, als wäre das Modell teurer. Doch bislang zahlen Pflegebedürftige diese Summe schlicht privat. Eine Vollversicherung wäre also eine soziale Umlage.

Eine mögliche Lösung: Vollversicherung

Die Variante ist zudem gerechter, als das bisherige Modell. Derzeit wird bestraft, wer sein Leben lang fürs Alter oder die Erben spart, weil er alles für die Pflege aufbrauchen muss, bevor der Staat unterstützt. Der Nachbar hingegen, der sich Urlaub, Auto, Party gönnt und keine Rücklagen hat, bekommt seine Pflege vom ersten Tag an zu 100 Prozent bezahlt. 

Ein Argument der Bundesregierung für die Teilversicherung: dadurch wird Vermögen sozial gerecht umverteilt. Die Reichen zahlen für ihre Pflege am Lebensende selbst. Die Armen bekommen es von der Sozialhilfe bezahlt. Doch um Vermögen gerecht zu verteilen, braucht die Bundesregierung nicht den Umweg über eine Teilversicherung in der Pflege zu wählen. Sie könnte auch den Spitzensteuersatz, die Kapitalertrags- oder die Erbschaftssteuer erhöhen. So wäre die Umverteilung nicht zufällig und von der Pflegebedürftigkeit abhängig, sondern geplant und gerecht.

Der Fachkräftemangel ist neben der mangelnden Finanzierung das größte Problem. Bedeutend mehr Personal aber ist so schnell nicht zu erwarten. Welcher Pfleger will sich schon für 12 Euro die Stunde kaputt machen lassen, mit Nacht- und Feiertagsarbeit, Überstunden, ohne Zeit für Freunde?

Mehr Hilfe für die Pfleger

Ich bewundere Pfleger für ihre Ausdauer. Ich könnte diesen Job nicht machen. Und unter den jetzigen Verhältnissen wollte ich ihn auch nicht machen. Das geht immer mehr Menschen so. Deshalb brauchen wir einen einheitlichen Personalschlüssel für alle Bundesländer, der deutlich höher liegt als derzeit – und der hart kontrolliert wird. Pfleger in Deutschland brauchen einen allgemeingültigen Tarifvertrag. Dafür müssen sich Pfleger organisieren. In der Gewerkschaft. In Pflegekammern. 

Wir brauchen mehr Transparenz in der Pflege, damit Bürger die Möglichkeit haben, zwischen guten und schlechten Heimen zu unterscheiden. Das Verhältnis von Pflegern zu Pflegebedürftigen sollte für jedes Heim und jeden Pflegedienst öffentlich sein. Das gleiche gilt für die Prüfberichte der Aufsichtsbehörden. Das Interesse der Bürger an guter Pflege sollte rechtlich schwerer wiegen als das Interesse der Heimbetreiber, ihre Geschäfte geheim zu halten.

Wenn keiner mehr privat für Pflege zahlen muss und die Einrichtungen transparenter werden, könnten Heime endlich nicht mehr über den Preis konkurrieren, sondern nur noch über Qualität. Dann wird gute Pflege Alltag.


Unser Reporter Daniel Drepper hat ein Buch über den Kampf um gute Pflege geschrieben. „Jeder pflegt allein: Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht“ ist im Sommer 2016 erschienen. Das Buch gibt es im CORRECTIV-Shop. Informationen über alle 13.000 deutschen Pflegeheime und weitere Recherchen zum Thema gibt es auf unserer Themenseite unter correctiv.org/pflege.