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Tote Kinder bei der Ernte

Immer wieder sterben in der Türkei Kinder bei der Arbeit. Ein Problem, das alle Branchen betrifft. Und das nicht entschlossen genug bekämpft wird.

von Zeynep Şentek , Craig Shaw , David Schraven , Mina Eroğlu

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Die Fakten:

  • Immer wieder sterben in der Türkei Kinder und Jugendliche bei der Arbeit.
  • Allein in den vergangenen zwei Jahren sind 145 Kinder und Jugendliche verunglückt.
  • Die türkische Organisation für Arbeitssicherheit ISIG und die Organisation für Kinderschutz Gündem Çocuk haben die Daten gesammelt.
  • Deutsche Konsumenten profitieren von der Kinderarbeit. Sie kaufen etwa Früchte und Obst, das Kinder geerntet haben.

Çetin Akdoğan war zehn Jahre alt, als er auf einer Farm im ländlichen Adana im Süden der Türkei in einen Bewässerungskanal stolperte. Çetins Bruder Türkan versuchte den Kleinen zu retten. Türkan sprang hinterher in den Wassergraben. Türkan war 13 Jahre alt. Beide ertranken. Sie waren auf dem Weg zu ihrer Arbeit, auf einem Feld. 

Arbeitende Kinder sind in der Türkei nicht ungewöhnlich. Drei Viertel der weltweiten Haselnussernte stammt aus Kleinasien — und wird weitgehend von Kindern eingebracht, berichtete im vergangenen Herbst die ZEIT. Allerdings ist die Lebensgefahr recht oft unbekannt, in die sich Kinder und Jugendliche begeben, wenn sie in der Türkei arbeiten müssen. 

Nach einer Recherche des Centre for Investigative Journalism (CIJ) in Kooperation mit CORRECTIV und theblacksea.eu ist der Tod von Çetin Akdoğan und der seines Bruder Türkan kein Einzellfall.

Über 140 Kinder und Jugendliche sind in den vergangenen Jahren in der Türkei bei Arbeitsunfällen oder Unglücken auf ihrem Arbeitweg gestorben; während sie Haselnüsse ernteten, Schuhe putzen, in Fabriken schufteten oder Häuser strichen.

Über 60 Kinder und Jugendliche starben in der Landwirtschaft. Weil sie billig sind, weil sie sich nicht wehren können, weil sie ausgebeutet werden. Sie müssen Aprikosen und Erdbeeren pflücken. Die in deutsche Supermärkte geliefert werden. Um Konsumenten mit billiger Ware zu versorgen. 

Die türkische Organisation für Arbeitssicherheit ISIG und die Organisation für Kinderschutz Gündem Çocuk haben die Daten von 145 toten Kindern und Jugendlichen gesammelt, die in den vergangenen zwei Jahren verunglückt sind. CORRECTIV veröffentlicht die Daten.


Todesfälle in der türkischen Kinderarbeit

Die Daten zu 145 Todesfällen in der Kinder- und Jugendarbeit allein in den vergangen zwei Jahren wurden von Nichtregierungsorganisationen gesammelt. Offizielle Stellen in der Türkei haben die Angaben nicht bestätigt.


Die Angaben über die Unglücke vermitteln einen Eindruck von der Reichweite des Problems. Überall in der Türkei sterben Kinder und Jugendliche: an der Küste, im Hochland, in Städten, in Dörfern, auf Feldern, in Fabriken. 

Türkische Minister reden bei offiziellen Anlässen nur von einigen wenigen Unglücksfällen, in die Kinder bei ihrer Arbeit verwickelt wurden. Es gibt keine offizielle Statistik der Regierung unter der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP. 

Tatsächlich scheint die Zahl der auf ihrer Arbeit verunglückten Kinder noch wesentlich höher zu sein. 

Die Schwestern Şifa und Esma Bağcı (sieben und neun Jahre alt) zum Beispiel wurden in der Zentral-Türkei von einem Wagen überfahren, als sie am Rand eines Feldes in der Nähe von Konya etwas essen wollten. Sie mussten auf dem Feld arbeiten.

Jahrelang ging die Kinderarbeit in der Türkei zurück. Nach 2006 allerdings stieg sie wieder an. Heute arbeiten über 14.000 Kinder und Jugendliche in der Türkei, in allen Branchen: in der Metallverarbeitung, auf dem Bau, in Bergwerken und in der Landwirtschaft. Der Grund: die regierende AKP hatte Gesetze eingeführt, die es Unternehmern heute leichter machen, Kinder in der Wirtschaft einzusetzen.

Iraz Öykü Soyalp ist Sozialpolitikerin der Kinderschutzorganisation UNICEF. Sie sagt, vor allem Kinder unter 14 Jahren würden kaum in den Todes-Statistiken auftauchen. Sie seien vor allem in der Landwirtschaft tätig oder im Straßenhandel, als Schuhputzer, als Verkäufer. In Gewerben also, in denen es in der Türkei kaum Kontrollen gibt. „Wenn dann ein Kind stirbt, weil es über die Straße von einem Feld zum anderen geht, dann wird dieser Tod nicht mit Kinderarbeit in Verbindung gebracht“, sagt Soyalp. Offiziell ist es nur ein tragischer Verkehrsunfall. Wie er überall passieren kann. Mehr nicht. Niemand fragt, warum das Kind zwischen den Feldern umherlief.

Birol Aydemir leitet das Statistische Institut der Türkei. Er schätzt, dass es in Kleinasien über 1 Millionen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft gibt. 95 Prozent von ihnen sind nirgendwo registriert, 75 Prozent verdienen weniger als den garantierten Mindestlohn. Familienmitglieder und Kinder werden nicht einmal mitgerechnet. 

Unter den dokumentierten 145 Todesfällen finden sich 38 Fälle, in denen Kinder unter 14 Jahren umkamen. 107 Fälle betreffen Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. 

Auch in Deutschland ist Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren Arbeit erlaubt. Allerdings unter strengen Auflagen. Sie dürfen nur leichte Arbeiten verrichten, nicht nachts eingesetzt werden und die Tätigkeit darf ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung nicht schaden. Es handelt sich um erlaubte Kinder- und Jugendarbeit. In den dokumentierten Fällen, in denen Jugendliche in der Türkei zu Tode kamen, fanden sich diese aber in einer Welt wieder, die für Erwachsene geschaffen war. Nicht für Kinder und Jugendliche.

Der sechzehnjährige Bayram Yıldız fiel in eine Rupfmaschine auf einer Geflügelfarm in Manisa in der Nähe von Izmir an der türkischen Westküste. Er brach sich das Genick und starb an einem Stromschlag. 

Das Kontrollsystem in der Türkei versagt. Saisonarbeiter und mit ihnen die arbeitenden Kinder und Jugendlichen, werden über Makler in Betriebe in der ganzen Türkei vermittelt. Die Makler sollen eigentlich die Arbeiter registrieren und an die türkische Arbeitsagentur melden – doch das tun sie nicht. 

Nach der UN-Kinderrechtscharta sind Kinder und Jugendliche im Alter bis 18 Jahren vor Ausbeutung und gefährlicher Arbeit besonders geschützt. Doch das ändert nichts in der Türkei.

Iraz Öykü Soyalp von UNICEF sagt: „Die Mehrheit der Arbeits-Makler in der Landwirtschaft meldet niemanden an“. Das Geschäft mit der Arbeitskraft der sozial schwächsten, von dem die reichsten Menschen der Welt profitieren, boomt weiter.

Denn es geht um Geld, viel Geld. Geld, das deutsche Bürger, Bürger der ganzen EU in ihren Supermärkten einsparen, wenn sie billige Lebensmittel kaufen. 

Die Türkei exportiert Haselnüsse, Weintrauben und Auberginen vor allem in die Europäische Union. Deutschland ist der zweitgrößte Kunde für türkisches Gemüse, für türkisches Obst, für türkische Früchte.  

Nur ein Beispiel: In den Regionen Malatya und Elazığ werden Aprikosen für den Export angebaut. Eine süße Frucht. Türkische Exporteure aus dieser Region zählen vor allem Deutschland, Großbritannien und Frankreich zu ihren Zielmärkten. 90 Prozent der weltweit gehandelten getrockneten Aprikosen stammen aus der Türkei. Ein Monstermarkt, mit saftigen Gewinnspannen.

In Deutschland sind die Aprikosen aus Malatya und Elazığ etwa bei der Metro zu finden, dem billigen Großhändler für jeden Bedarf — zum Weiterverkauf in der Gastronomie oder im Einzelhandel oder zum Naschen. Billig vor allem für den deutschen Konsumenten.

In den Jahren 2013 und 2014 starben vier Kinder — Kader Yalçın (15 Jahre), Oya Korkan (14 Jahre), Yakup Kartal (14 Jahre) und Nezir Akgül (15 Jahre) — in Malatya und Elazığ bei der Aprikosen-Ernte. Sie wurden vom Traktor überfahren oder ertranken im einem See, in dem sie sich in einer Arbeits-Pause erfrischen wollten.

In der Türkei wurde vor wenigen Wochen eine Kommission gegründet, die nach Wegen suchen soll, das Leben und die Arbeitsbedingungen von Saisonarbeiter zu verbessern. Besonders auf die Rechte von Kindern und Jugendlichen soll diese Kommission achten. Die Kinderschutzorganisation UNICEF unterstützt die Arbeit der Kommission. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Aber sie beschäftigt sich nur mit dem halben Problem. Denn wie aus den Daten der türkischen Organisation für Arbeitssicherheit ISIG und die Organisation für Kindersicherheit hervorgeht, starben nur die Hälfe der Kinder und Jugendlichen bei Unfällen in der Saisonarbeit auf den Feldern.

Die anderen Kinder kamen in Fabriken und im Straßenhandel ums Leben. 

Ahmet Yildiz wurde dreizehn Jahre alt. Er fiel in eine Plastikpresse, an seinem Arbeitsplatz in der Türkei, in der Stadt Adana. Ahmet Yildiz sollte Plastikgeschirr produzieren. Einfaches Besteck, das man billig verkaufen kann.

Im vergangenen Jahr blockierte die türkische Regierungspartei AKP im Türkischen Parlament eine Kommission, die nach den Ursachen für die toten Kinder in den türkischen Fabriken und Geschäften suchen sollte. 

Warum? Die Suche nach den Gründen führt ins Bildungssystem der Türkei. Und hier offenbart sich ein möglicher Grund, warum die AKP nicht so genau hinschauen will. 

Die Mutter von Oguzhan Çalışkan trauert im Klassenzimmer ihres Sohnes.

Die Mutter von Oguzhan Çalışkan trauert im Klassenzimmer ihres Sohnes.

Vor wenigen Jahren, 2012, führte die AKP ein neues Gesetz ein. Das so genannte 4+4+4-Programm. Demnach sollen Schüler zwölf Jahre zur Schule gehen und sich nebenher mit Praktika fit machen für die Maloche auf dem Bau, in der Werkstatt oder in der Fabrik. Die Zwangspraktika werden von den Schulen ausgesucht und gelten für alle Schüler ab dem Alter von 14 Jahren.

Auch in Deutschland gilt ein Mindestalter für Arbeit von Jugendlichen. Unter 15 Jahren darf grundsätzlich niemand arbeiten — nur in wenigen, eng definierten Ausnahmefällen. Über 15 ist die Arbeit im Rahmen von Schulpraktika erlaubt – allerdings mit strengen Auflagen und Sicherheitsmaßnahmen, die im Jugendarbeitsschutzgesetz geregelt sind. Die Ruhezeiten sind ausgiebig und Schichtarbeitszeiten strikt begrenzt.

In der Türkei ist der Arbeitsschutz für Kinder und Jugendliche nicht so ergiebig. Im Rahmen des 4+4+4-Programm kam zum Beispiel der 17-Jährige Oguzhan Çalışkan um Leben. Er war Schüler an der STFA Technischen Schule in Gebze, etwa zwei Stunden von Istanbul entfernt am Marmara Meer. Çalışkan wurde von seiner Schule zu einem einmonatigen Praktikum in eine Fabrik geschickt. Er sollte lernen, was ein Elektriker zu tun hat. Çalışkan starb im Juli 2014 an einem Stromschlag. Seine Mutter sagte, er wurde als billige Arbeitskraft missbraucht; er musste stundenlang fast ohne Pause schuften; seine Arme waren vollen Narben und Kratzer. 

Immer wieder kommt es zu Todesfällen im Rahmen des  4+4+4-Programms. Wenige Wochen nach Çalışkans Tod, starb der 15-Jährige Enes Alkan in Istanbul. Er musste in einer Autowerkstatt arbeiten. Ein Wagen leckte Benzin und geriet in Brand. Enes Alkan verbrannte. Er war Schüler der Kurtköy Schule.

Der türkische Aufschwung mit Wachstumsraten von bis zu 10 Prozent in den vergangen Jahren wird vor allem von billiger Arbeitskraft befeuert. Arbeitsrechtler befürchten, dass er mit den billigen Kinderarbeitern aus dem des  4+4+4-Programm weiter angeheizt werden soll. Und dass dafür erhebliche Risiken in Kauf genommen werden.

Mehmet Onur Yilmaz von der Kinderschutzorganisation Gündem Çocuk sagt, das 4+4+4 Programm fördere nicht nur Kinderarbeit, sondern sei besonders für benachteiligte Jugendliche schädlich. Die Kinder würden von Bildungsangeboten ausgeschlossen und früh auf eine handwerkliche Tätigkeit festgelegt. „Den Kindern werden Chancen genommen“, sagt Yilmaz. Sie seien für den Rest ihres Lebens an Jobs gefesselt, die ihnen „wenig Geld einbringen“ würden. Und wenn es schlecht läuft würden sie sterben.

Das türkische Bildungsministerium antworte nicht auf eine Bitte um Stellungnahme zu den verunglückten Kinderarbeitern.