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Die Inklusions-Falle

Die Theorie klingt gut: Förderschulen sollen abgeschafft werden, damit alle Kinder gemeinsam lernen. Damit die benachteiligten, behinderten und aggressiven Schüler von den leistungsstärkeren, ausgeglicheneren Kindern lernen – und umgekehrt. Die Praxis sieht anders aus: Weil es an Geld und gut ausgebildeten Lehrern fehlt, entstehen durch das ungleiche Miteinander starke Reibungen. Eine Undercover-Recherche an zwei Schulen im Ruhrgebiet.

von Karen Grass

Kaum was los auf dem Pausenhof – auch diese Förderschule im Ruhrgebiet wird abgewickelt.© Karen Grass

Diese Reportage erscheint parallel in der Regionalausgabe NRW der „Welt am Sonntag“.

*Die Autorin hat über mehrere Monate im Ruhrgebiet recherchiert. Je zwei Wochen nahm sie, als vermeintliche Praktikantin, am Unterricht teil: zuerst an einer Förderschule für lernbehinderte Kinder, dann an einer „inklusiven“ Hauptschule, die auch von lernbehinderten Kinder besucht wird. Die Namen der Schulen, der Lehrer, der Kinder wurden geändert.*

Es ist kalt an diesem Morgen. Auf den Wiesen liegt Raureif. Ausgelassen rennen die Kinder der 5a zur Turnhalle. Nur ein Junge geht gebückt hinter den Lehrern her. Er wirkt niedergeschlagen.

Anina Schmidt beugt sich zu ihm: „Was ist, Kolan?“ –„Stress.“ – „Mit Calvin?“ – „Ja. Gestern hat er gemeint, wenn ich noch einmal was zu ihm sage, ruft er wieder seine Mutter“, sagt Kolan.

Calvin hat „emotional-soziale Entwicklungsstörungen“, wie es im Pädagogensprech heißt. Anders gesagt: Er ist aggressiv, beleidigend, einschüchternd. Er lacht und jauchzt nicht wie die anderen Kinder, wirkt stattdessen hart und unnachgiebig. Im Unterricht flüstert er seinen Sitznachbarn häufig gemeine Kommentaren zu, weshalb niemand lange neben ihm sitzen will. Auf dem Schulhof gerät er oft in Streit, dann steht er mit wutverzerrtem Gesicht da und schreit: „Halt’s Maul, du Wichser!“ Um sich wenig später vor dem Lehrerzimmer zu beklagen, man habe seine Mutter beleidigt. Seine Mutter, sein wunder Punkt. Seine Mutter ist tatsächlich schon mehrfach auf dem Schulhof aufgetaucht und hat andere Kinder ausgeschimpft.

Aus pädagogischer Sicht ist Calvins Problem eine Behinderung. Damit er nicht auf eine Förderschule muss, ist Sonderpädagogin Anina Schmidt für ihn da. Aber jede Woche nur für einige Stunden. In der Zwischenzeit schwelen die Konflikte. Haben die anderen Kinder Angst vor Calvin, stört er den Unterricht. Ist es gut, für ihn und die anderen, dass er die reguläre Hauptschule besucht?

Förderschule als Ausnahme

2014 wurde im Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen als Grundsatz festgeschrieben: Behinderte und verhaltensauffällige Kinder sollen in das normale Schulsystem eingegliedert werden. So, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention vorschreibt, der Deutschland 2009 beigetreten ist. Experten nennen diese gemeinsame Beschulung „Inklusion“

Egal, ob ein Kind andere piesackt, nicht bis zehn rechnen kann oder so schwer behindert ist, dass es nicht klar sprechen kann – in NRW, genau wie in vielen anderen Bundesländern, sollen Kinder künftig nur dann auf eine Förderschule geschickt werden, wenn die Eltern das explizit wollen.

Seit Jahren steigt der Anteil von Kindern mit Handicap an regulären Schulen. Deutschlandweit liegt er zurzeit bei gut 30 Prozent. In NRW sogar bei knapp 40 Prozent – und ist damit rund vier mal so hoch wie noch zur Jahrtausendwende. In absoluten Zahlen: Im vergangenen Schuljahr lernten in Nordrhein-Westfalen rund 41.500 Kinder „inklusiv“.

Funktioniert es? Nein, sagen zumindest die Lehrer in NRW. Soeben hat das Forschungsinstitut Forsa eine repräsentative Umfrage unter 501 Lehrern veröffentlicht. Sie geben dem jetzigen Modell durchweg schlechte Noten — weil die Lerngruppen zu groß sind, die sonderpädagogische Unterstützung zu gering ist und die Zeit zur Vorbereitung nicht ausreicht. 66 Prozent der Befragten bewerteten die personelle Ausstattung mit mangelhaft oder sogar ungenügend. Und fast alle Pädagogen fordern, dass zwei Lehrer eine Klasse mit Handicap-Kindern unterrichten. Bislang wird die Extra-Unterstützung meist nur wenige Stunden die Woche gewährt.

Ein Autist, von dem niemand wissen soll

Die gleiche Hauptschule, eine andere Klasse: Erdkundeunterricht in der 8a. Hochwasser und damit verbundene Schäden stehen an diesem Tag auf dem Stundenplan. Peter, ein dünner, braunhaariger Junge mit schwarzer Brille, erledigt seine Aufgaben schnell. Dazwischen wippt er auf seinem Stuhl nach vorne und nach hinten, zieht seine Lippe über die Zähne und starrt kurz in den Raum.

Peter ist Autist mit Asperger-Syndrom. Hinter ihm steht Irmgard Brötz, seine Integrationshelferin. Sie soll ihm helfen, wie ein ganz normaler Schüler am Unterricht teilzunehmen. Aber: Die anderen Schüler sollen nicht wissen, warum sie hier ist. Peters Eltern wollen Peters Behinderung vor den Mitschülern geheim halten, damit er nicht ausgegrenzt wird.

Einige Tagen zuvor behauptete Peter, „dreidimensional“ sei etwas nur, wenn man es durch eine 3-D-Brille sieht. „Er hat rumgezetert und sich nicht mehr eingekriegt, wollte nichts mehr mitmachen. Vor allem in Mathe ist es oft schlimm“, erzählt Brötz.

Inklusion: eine Gratwanderung

Kürzlich hat ein Mitschüler gefragt, ob Peter Autist sei. „Die anderen Kinder sind ja nicht blöd und googeln mal“, sagt Brötz achselzuckend. Sie antwortet dann nicht. Es ist nicht ihre Entscheidung, wie in der Klasse mit Handicaps umgegangen wird, und die Klassenlehrerin hat entschieden, sie nicht zu thematisieren.

Für Sonderpädagogin Anina Schmidt ist das eine Gratwanderung. Einerseits erwarten die Kollegen von ihr, dass sie Kinder mit Förderbedarf in den „Differenzierungsraum“ mitnimmt, damit sie dort gezielt mit ihnen arbeitet. Gleichzeitig, so die Theorie, soll diese Trennung „nicht stigmatisierend“ sein. Deshalb holt Schmidt immer noch ein paar weitere Kinder aus der Klasse.

Auch an diesem Morgen hat die Erdkundelehrerin vor der Stunde gefragt: „Wen nimmst du heute mit?“ Doch diesmal belässt Schmidt die Kinder in der Klasse und läuft umher, um mal hier, mal dort zu helfen. Auch für sie ist Inklusion ein tägliches Austesten neuer Strategien.

Förderschüler, unbeachtet

Wieder ganz anders läuft es in der Klasse 9a der Hauptschule. An einem gesonderten Tisch vorn links sitzen Udo, Julian und Ahmet, drei Schüler mit Förderbedarf. Die Mitschüler wissen, dass die Jungen Probleme haben. Der Preis für die Transparenz: Sie werden nicht beachtet. An diesem Morgen blickt der Mathelehrer einfach über die Jungs hinweg, wenn er Fragen an die Klasse stellt. Er hält die Förderung der Jungs für die Aufgabe des Sonderpädagogen Simon Weimer, der einige Stunden pro Woche bei den Schülern am Tisch sitzt und mit ihnen die Themen des Unterrichts stark heruntergebrochen behandelt. Mit dem sonstigen Unterricht haben die Jungen eigentlich nichts zu tun. Sonderpädagoge Weimer glaubt, dass es anders nicht gehe: „Man kann zu ihnen nicht einfach sagen: Hier ist die Formel, lernt die mal.“

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Mathestunde in einer Förderschule. Forscher sagen: Es nützt den schwachen Schülern sehr, wenn sie auf eine reguläre Schule gehen.

Karen Grass

Die Neuntklässler errechnen an diesem Morgen Preise für Tapetenrollen und Kleister. Julian versucht gerade, 28 minus 27 zu rechnen. Er braucht einen Rechenschieber dafür: Erst schiebt er 28 Kugeln zur Seite, dann 27 zurück.

In manchen Unterrichtsstunden, Englisch etwa, ist die Kluft zwischen den Schülern mit Förderbedarf und dem Rest der Klasse noch extremer. Dann gehen die drei Schüler mit Weimer in den Differenzierungsraum, um dort die Aussprache der Wörter üben zu können. Auf dem Niveau der anderen würden sie kein Wort verstehen. Der soziale Effekt, dass die anderen Schüler Rücksichtnahme lernen und die Schüler mit Förderbedarf mitgezogen werden, verpufft.

Lernen im „Differenzierungsraum“

In manchen Fächern lernen Udo, Julian und Ahmet aus der 9a aber auch mit den anderen Schülern gemeinsam, etwa in Hauswirtschaft oder in Erdkunde – oder in Kunst. Gerade nimmt die Klasse dort in Gruppenarbeit Leonardo da Vinci durch. Udo, ein rundlicher Junge mit schmierigen braunen Haaren und dicker Brille, wollte ohne die anderen ein eigenes Plakat machen. Nun grummelt er vor sich hin.

Doch am Ende der Stunde hält er einen der besten Vorträge über das Leben da Vincis. Dafür bekommt er tobenden Applaus. Was ihn lächeln und durch seine dicken Brillengläser verschämt zu Boden schauen lässt. Er scheint unsicher, ob das Lob ernst gemeint ist. Sonderpädagoge Simon will ihn bestärken und ruft: „Das war ja schon fast ein Highlight, Udo!“

In der Pause ist Udo aber dann doch wieder allein, ebenso wie Julian.

Die Jungen und Mädchen der 9a sind freundlich, sie grenzen Udo und Julian nicht direkt aus. Doch in gemeinsamen Stunden wie Hauswirtschaft stellen sie stets sicher, dass sie nicht mit den beiden Förderschülern zusammen arbeiten müssen. Ein Miteinander auf Augenhöhe? Eher nicht.

Förderschulen werden abgewickelt

Wie geht es derweil an den Förderschulen zu? Den einstigen „Sonderschulen“, auf denen die lernbehinderten und die schwierigen Schülern zusammengefasst, dort „ghettoisiert“ wurden, so die Kritiker?

Während es auf dem Schulhof der Hauptschule laut und hektisch zugeht, ist es auf dem Pausenhof der Förderschule ziemlich ruhig. Natürlich wird auch hier gebolzt und gerangelt. Aber die Schule – auch sie im Herzen des Ruhrgebiets – hat nur noch 72 Schüler, die sich auf dem Schulhof verteilen. Die Förderschule für Lernbehinderung wird binnen zwei Jahren abgewickelt.

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Gemeinsam lernen? Klingt gut. Doch in den Pausen stehen die Förderschüler meist abseits, unbeachtet von den Hauptschülern

Karen Grass

Den Schülern der Stufe 10 ist das egal, sie sind hier im Sommer ohnehin fertig. Den Jungs der Klasse scheint ohnehin das meiste im Leben ziemlich egal zu sein scheint. Unentwegt blödeln sie herum. Als sich nach dem Frühstück drei Jungen mit Trinkbechern bewerfen, ruft ein Mädchen: „Warum bin ich nur an dieser Schule?“

Forscherin: Inklusion stärkt die Schwachen

Es ist kein leichtes Los, auf eine Förderschule zu gehen. „Wenn Kinder mit schwierigem Verhalten auf engstem Raum zusammengebracht werden, kann das zur Eskalation führen“, sagt Birgit Lütje-Klose, Professorin für Sonderpädagogik an der Uni Bielefeld.

Gemeinsam mit ihren Forscherkollegen hat sie herausgefunden, dass lernschwache Kinder durch die Inklusion deutlich mehr erreichen. Sie können besser lesen und schreiben und haben einen markanten Wissensvorsprung gegenüber Kindern auf der Förderschule. Ihre Prognose: Wird die Inklusion konsequent umgesetzt, dann können mehr Schüler mit Förderbedarf einen Hauptschulabschluss schaffen. Auch deshalb, weil „die Mitschüler stark disziplinierend und motivierend wirken.“

Ein unterfordertes Mädchen

Gianna, ein schlankes Mädchen mit dunkler Lockenmähne, erträgt ihre lärmenden Klassenkameraden mit stoischer Geduld. In der Mathestunde geht es an diesem Morgen um Bruchrechnung. Wieviel ist 5/4 minus 6/8? Giannas Arm schießt nach oben, wie so oft, mühelos wandelt sie die Brüche um.

Auf dieser Förderschule kann sie keinen Hauptschulabschluss machen; ohne Hauptschlussabschluss findet man so gut wie keinen Job. Darum wird Gianna am Ende des Schuljahres auf ein Berufskolleg gehen – und ein weiteres Jahr verlieren.

Überhaupt macht sie vieles anders als ihre Mitschüler, von denen viele nach der Schule nur „zocken“, am Computer spielen. Gianna geht zwei Mal die Woche zum Gesangsunterricht und hat große Pläne. „Ich habe überlegt, ob ich in Düsseldorf oder Essen Musik studieren könnte“, sagt sie. Doch dazu bräuchte sie das Abitur. „Ich glaube nicht, dass ich das durchhalten könnte.“ Ihr Selbstvertrauen ist kleiner als es ihre Träume sind.  

Das ist eines der großen Argumente der Inklusions-Befürworter: Dass Schüler wie Gianna, die aus irgendwelchen Gründen auf der Förderschule gelandet sind, benachteiligt werden. Dass ihnen das unflexible Parallelsystem Lern- und Lebenschancen raubt.

6 minus 3 = Anstrengung

Lalon geht in die 5. Klasse der Förderschule. Die Anforderungen an den Elfjährigen sind sehr gering. Meist kümmern sich zwei Lehrerinnen um die zehn Kinder seiner Gruppe. Dennoch wirkt Lalon oft angespannt, gestresst, überfordert.

An diesem Vormittag soll Lalon aus der Klasse genommen werden, eine der Lehrerinnen will mit ihm Rechnen üben. „Nein, ich will nicht, nein, nein, warum ich?“, schreit der dickliche, blonde Junge und hält sich an seinem Tisch fest. Er will vor den anderen Kindern nicht als schwach, als anders dastehen. Erst als ein anderer Junge mitgeschickt wird, Marlon, lässt er sich versöhnen.

Doch während Marlon mit dem Übungsheft für die zweite Klasse schon halbwegs gut zurecht kommt, nimmt Lalon noch die Finger zu Hilfe. Gerade rechnet er 6 minus 3. Er atmet schwer, die Aufgabe strengt ihn an. Er braucht drei Anläufe, sie zu lösen.

Das Schulsystem müsste sich ändern

Experten warnen: Um Kinder wie Lalon zu „inkludieren“, müsste ein enormer Betreuungsaufwand mit einem Schulsystem zusammengebracht werden, das bislang vor allem auf Leistung ausgerichtet ist. Verbindliche, unbedingt einzuhaltende Lehrplaninhalte, Prüfungen und Klausuren können bei inklusiver Beschulung nicht mehr im Mittelpunkt stehen.

Stattdessen müssten die Inhalte flexibler gestaltet werden, müssten Rücksichtnahme und individuelle Förderung statt benotete Leistung das übergeordnete Ziel sein. Schulen müssten viel mehr als Lebensort begriffen werden, an denen es auch Räume für Pflege und Entspannung gibt und an denen Schüler auch mal Auszeiten nehmen können. Solche Auszeiten könnten den Raum dafür schaffen, sich den Mitschülern mit Handicap zu widmen – ohne Zeitdruck, ohne das Gefühl, dass die Beeinträchtigungen mancher Kinder den Unterricht ausbremsen.

Lehrer, allein gelassen

Von dieser Flexibilität und Offenheit sind Deutschlands Schulen noch weit entfernt. Dennoch werden nun reihenweise Förderschulen aufgelöst: 216 von 625 Förderschulen fielen in NRW 2014 unter die vorgeschriebene Mindestgröße. Darunter waren 187 Schulen für Lernbehinderung. Aber auch viele Schulen für Sprachbehinderte und Verhaltensstörungen dürften in den kommenden Jahren verschwinden.

Dabei sehen sich viele Lehrer an allgemeinen Schulen nicht in der Lage, auf Kinder wie Lalon einzeln einzugehen. „Die Lehrer sind unzufrieden und unsicher mit der Situation, weil die Doppelbesetzung mit Sonderpädagogen in der Regel nicht gegeben ist“, sagt Udo Beckmann, Vorsitzender des Lehrerverbandes VBE NRW. „Die meiste Zeit fühlen sie sich allein gelassen.“

„Politik und alle Beteiligten investieren viel in das Gelingen der Inklusion. Es braucht Zeit, bis das greift“, entgegnet Birgit Lütje-Klose von der Universität Bielefeld. „Bis dahin kann diese Übergangsphase tatsächlich viele sehr schwierige Situationen mit sich bringen. Ich hoffe, dass Kinder dabei keinen Schaden nehmen.“

Auch die Eltern streiten   

Doch das scheint mit der derzeitigen Strategie fast unvermeidbar. Noch nicht einmal die Vorsitzenden der Elternvereine sind sich einig.

Regine Schwarzhoff, Vorsitzende des Elternvereins NRW, sagt etwa: „In der Fläche ist die Inklusion eine Mogelpackung, es gibt nur ein paar Vorzeigestandorte, durch die gesund gelogen wird.“ An den meisten Schulen reichten die Einsatzstunden der Sonderpädagogen in keinster Weise aus, die anderen Lehrer seien komplett überfordert. Das störe den gesamten Unterricht. Und: „Das schadet allen, auch den behinderten Kindern, die nicht angemessen gefördert und häufig noch dazu gemobbt werden“, sagt Schwarzhoff.

Auf dem Weg zu Turnunterricht Förderschule Stufe 3.jpg

Die Stufe 2 einer Förderschule auf dem Weg ins Schwimmbad. Stillsitzen fällt schwer, Bewegungseinheiten füllen meist den halben Tag aus.

Karen Grass

Eva-Maria Thoms, Vorsitzende des Kölner Elternvereins mittendrin e.V., sagt hingegen: Es ist das Recht aller Kinder, an eine allgemeine Schule zu gehen – eben weil sie das Menschenrecht auf Teilhabe an der Gesellschaft haben. Thoms begrüßt es, dass Förderschulen aufgelöst werden. „Inklusiven Schulen fehlen auch deshalb Sonderpädagogen, weil viel Personal in zu kleinen Förderschulen gebunden ist“, kritisiert sie.

Allerdings hat sich die Politik entschieden, das Parallelsystem weder aufzugeben, noch die Ressourcen ausreichend aufzustocken. Engpässe sind programmiert.

Können alle Kinder an die Regelschule?

Frederik schert sich wenig um seine Mitschüler. Es stört ihn nicht, dass die Kinder neben ihm die Gesichter verziehen, wenn er aus voller Kehle losschreit. „Frederik, du bist viel zu laut!“, klagt etwa Nils – ohne Gehör zu finden. Frederik steht immer wieder auf, läuft in der Klasse herum, bis ihn irgendwer wieder hinsetzt. Nach einer Minute ist er wieder auf den Beinen. Die Bitten seiner Mitschüler und Betreuer scheint der kleine, kräftig gebaute Junge überhaupt nicht zu hören. Frederik ist Autist mit Kanner-Syndrom und besucht die Unterstufe der Förderschule am Tetraeder in Bottrop. Gerade erarbeiten die zehn Kinder hier das Kalenderdatum, dann bestellen sie ihr Mittagessen – beides Übungen für das weitere Leben, die für die Schüler sehr wichtig sind. Manche Kinder wie Frederik können aber auch dabei nicht mitmachen.

Danach steht Sport auf dem Programm, doch Frederik muss in die motorische Sonderbetreuung – gemeinsam mit Mohammed und Anna, die in Sitzen festgeschnallt sind. Die drei können nicht mit den anderen Fängen spielen. Während der Sachkundestunde, in der das Thema Auge behandelt wird, läuft Frederik immer wieder aus dem Klassenraum. Sein neuer Integrationshelfer hat heute einen Probetag an der Schule. Er kommt nicht zur Ruhe. Nur beim Mittagessen bleibt Frederik vor seinem Teller sitzen, denn er hat Hunger und möchte am liebsten aus allen Töpfen so viel wie möglich essen. Damit die anderen auch was abbekommen, müssen die Töpfe aus seiner Reichweite entfernt werden.

Nach dem Essen geht der kleine Junge zum PC im Klassenraum. Frederik will sich Autos ansehen, das ist eine der wenigen Beschäftigungen, die ihn fasziniert. Doch auch da warten Tücken auf seinen neuen Integrationshelfer. Nicht alle Autos findet Frederik gut.  Wenn ihm ein Modell nicht gefällt, schreit er laut auf. Nach einigen Minuten hat der Integrationshelfer die Kombination gefunden, die Frederik beruhigt – zumindest für diesen Nachmittag: Dicke, weiße BMW will der junge Autist sehen.

Auch auf Anna muss man in der Schule am Tetraeder gut aufpassen. Das zierliche, blonde Mädchen kann weder sprechen noch allein gehen. Anna muss Handschuhe tragen, damit sie sich die Finger nicht blutig beißt. Wenn Anna zu spät Essen bekommt, kriegt sie Bauchkrämpfe und beginnt, zu weinen und wild um sich zu treten.

Umfassende Inklusion würde bedeuten: Nicht nur Kinder mit Lernbehinderung oder Verhaltensauffälligkeiten, sondern auch Kinder wie Frederik oder Anna müssen in eine Regelschule. Ist das sinnvoll und wünschenswert? In dieser Frage treffen fast nur extreme Haltungen aufeinander – die meist wenig mit den wirklichen Interessen verschiedener Kinder zu tun haben.

Viele Sonderpädagogen, die momentan an Förderschulen arbeiten, sagen: Es ist vollkommen utopisch, dass Kinder mit so schweren Beeinträchtigungen an der Regelschule gut betreut werden könnten.

Inklusionsbefürworter wie Eva-Maria Thoms aus Köln wischt Bedenken, dass es einigen Kindern in der Inklusion eventuell schlechter gehen könnte, weg. Wenn genügend Lehrer an den Regelschulen seien, könnten auch diese Kinder integriert werden, sagt Thoms.

Was Förderschüler wie Frederik und Anna aus Bottrop lernen könnten, wenn sie an eine Regelschule gingen, das kann niemand genau sagen. Klar ist aber: Um Kinder wie sie zu einzubinden, müsste ein enormer Betreuungsaufwand mit einem Schulsystem zusammengebracht werden, das bislang vor allem auf Leistung ausgerichtet ist. Verbindliche, unbedingt einzuhaltende Lehrplaninhalte, Prüfungen und Klausuren könnten nicht mehr im Mittelpunkt stehen.

Stattdessen müssen die Inhalte flexibel gestaltet werden, Rücksichtnahme und individuelle Förderung statt Leistung müsste die Haltung bestimmen. Schulen müssten als Lebensort begriffen werden, an denen es auch Räume für Pflege und Entspannung gibt und an denen Schüler Auszeiten nehmen können. Das würde Raum schaffen, sich mit Mitschülern mit Handicap auseinandersetzen. Und zwar ohne Zeitdruck, ohne das Gefühl, dass die Beeinträchtigungen mancher Kinder den Unterricht ausbremsen.

Das ist heute jedoch nicht die Regel an den Schulen in Deutschland und auch nicht in NRW. Kinder wie Frederik, die schreien oder permanent herumrennen, werden an vielen Schulen am ehesten als Störfaktor wahrgenommen. Deshalb werden sie von dem Großprojekt Inklusion momentan noch ausgeschlossen. Die Inklusionsquote für Kinder mit geistigen Entwicklungsstörungen im Schuljahr 2013/2014 bundesweit bei gerade einmal 7,9 Prozent. Am Beispiel NRW zeigt sich: Für die meisten Kinder mit solchen Beeinträchtigungen endet die Inklusion immer noch früh. Während in NRW 2015 immerhin 18,4 Prozent der Kinder mit geistigen Entwicklungsstörungen eine normale Grundschule besuchten, lag der Anteil an weiterführenden Schule nur bei 3,6 Prozent.

„Im Moment fallen unsere Schüler noch komplett durchs Raster – weil sich die Schulen nicht an die Bedürfnisse von Schülern mit geistigem Handicap anpassen“, sagt Irmgard Bohrer, Schulleiterin der Förderschule am Tetraeder in Bottrop. Das normale Schulprogramm sei zu starr, für schwer beeinträchtigte Kinder. „Wir haben anders als Regelschulen einen erweiterten Lernbegriff. Hier lernen die Kinder nicht für Noten in bestimmten Fächern, sondern bedarfsorientiert, etwa Einkaufen, mit Geld umgehen, den ÖPNV zu benutzen“, sagt Bohrer. Am Ende der Ausbildung an Bohrers Förderschule können nicht alle Kinder richtig lesen oder mit großen Zahlen rechnen. Dafür sind sie in praktischen Tätigkeiten an der Herdplatte oder in der Waschküche geschult. „Weil die Regelschulen auf so etwas noch zu wenig achten, müssen die Eltern sich entscheiden, was sie wollen. Wollen sie, dass ihr Kind Matheformeln lernt oder wollen sie, dass ihr Kind im Leben klar kommt?“, sagt Bohrer.

Eine Sternstunde

Aber es gibt auch Augenblicke, die Mut machen. In der Klasse 9a der Hauptschule steht in der Deutschstunde eine Textanalyse auf dem Stundenplan. Die Kurzgeschichte „Spaghetti für zwei“ von Frederica de Cesco soll interpretiert werden. Bei den ersten Diskussionen über die Geschichte konnten sich Udo, Julian und Ahmet – die drei Schüler mit Förderbedarf, vorn an ihrem Extratisch – nicht beteiligen, weil sie zum Lesen so lange brauchten.

Jetzt sieht sich die ganze Klasse ein Filmprojekt zu der Kurzgeschichte an, in der ein weißer Junge einen dunkelhäutigen Jungen zu Unrecht verdächtigt, seine Spaghetti geklaut zu haben. Was steckt hinter der Geschichte? Ahmet hat als erster die Idee, dass es um die Vorurteile des weißen Jungen gegenüber dem schwarzen Protagonisten geht. Alle sind überrascht. Die Mitschüler, der Lehrer. Und Ahmet ist mächtig stolz. Zufrieden lächelt er vor sich hin, die ganze Deutschstunde über.


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