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Unterwegs im Land des „Nein“

Im Osten der Türkei kämpfen kurdische Aktivisten gegen die Verfassungsänderung von Präsident Erdogan. Sie werden bedroht, verfolgt, verhaftet. Eine Reise.

von Johanna Bröse

Das kurdische Neujahrsfest in Van© Johanna Bröse

Das Gelände ist mit Polizeigittern abgeriegelt. Wer es betreten möchte, muss drei Checkpoints passieren, geht vorbei an Wasserwerfern und gepanzerten Transportern – und ist dann mit tausenden Menschen von den hochgerüsteten Sicherheitskräften eingekesselt.

Kein Wunder, dass in diesem Jahr weniger Menschen als sonst gekommen sind, um das kurdische Neujahrsfest in der Stadt Van zu feiern. Über dem Gelände fliegen Hubschrauber und billige Drohnen, die von Polizisten ungelenk mit dem IPad gesteuert werden. Eine davon bleibt drei Meter über uns stehen. Und dort bleibt sie eine ganze Weile lang.

Vier Stunden lang werden Reden gehalten, Menschen schwenken Fahnen, tanzen. Aber die Stimmung ist verhalten. Alle haben Angst vor polizeilicher Willkür. Kaum wird von der Bühne das Ende des Festes verkündet, packen die Menschen ihre Sachen zusammen und versuchen, durch die Polizeischleusen zum Ausgang zu gelangen.

Nachrichten von den anderen Newroz-Feiern haben die Runde gemacht: In Diyarbakır haben Polizisten einen jungen Kurden erschossen, sie hielten ihn für einen Selbstmordattentäter. In Yüksekova hat eine Polizeibrigade den Festplatz gestürmt und Gasbomben in die Menge geworfen. 16 Menschen wurden verhaftet, zahlreiche Menschen verletzt.

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Newroz-Feuer in Van.

Johanna Bröse

84 Bürgermeister verhaftet

Auch im Kurdengebiet ist die „Nein“-Kampagne gegen das von Präsident Recep Erdogan ausgerufene Referendum angelaufen. Die Zentrale der prokurdischen Partei HDP brummt wie ein Bienenstock. Bis spätabends arbeiten Freiwillige dort an der Kampagne. Die AKP, die Partei Erdogans, „will uns durch das Referendum 100 Jahre in die Vergangenheit versetzen“, sagt Lezgin Botan, ein HDP-Abgeordneter im Stadtparlament. „Aber die Demokratie wird sich nicht durch Repression zum Schweigen bringen lassen.“

Die türkischen Behörden werfen den Aktivisten Knüppel zwischen die Beine, wo sie nur können: Zivilpolizisten observieren die HDP-Zentrale, ein Lautsprecherwagen wurde tagelang beschlagnahmt, Plakate werden entfernt, weil sie „farblich nicht zum Stadtbild passen“, immer wieder werden Kämpfer für das „Nein“ verhaftet.

Von den Strukturen einer kurdischen Selbstverwaltung, vor drei Jahren etabliert, ist kaum etwas übrig. Nach aktuellen Zahlen wurden in den kurdischen Provinzen insgesamt 84 Co-Bürgermeister der Demokratischen Partei sowie türkeiweit 13 Abgeordnete der HDP inhaftiert. Ungezählte Politiker, Journalisten, Anwälte, Richter, Akademiker wurden nach dem gescheiterten Putsch vom 16. Juli 2016 und dem danach ausgerufenen Ausnahmezustand verhaftet. Manchen wird die „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ vorgeworfen. Das kann in eine jahrzehntelange Haftstrafe münden.

„Ausnahmezustand? Den haben wir hier seit Jahrzehnten“

Nishan ist eine energische Frau mit kräftiger Stimme, die 14 Jahre lang für die kurdische Nachrichtenagentur DİHA gearbeitet hat. Auch die wurde verboten, die Räume versiegelt. Doch die Agentur nannte sich in DIHABER um und setzte ihre Arbeit fort, gemeinsam mit anderen Agenturen. Vor dem Ausnahmezustand nutzten prokurdische Medien – wie „Özgür Gündem“, „Azadiya Welat“ oder die Frauennachrichtenagentur „Jin Haber Ajansı“ – gemeinsame Büros. Mittlerweile wurden sie alle verboten.

Wir hören immer wieder: „Ausnahmezustand? Den haben wir hier seit Jahrzehnten“. Gleichwohl sei die staatliche Repression aber umfassender als bisher: „Es ist sehr schwierig geworden. Mitarbeiter der Auslieferfirmen werden festgenommen oder die Zeitungen auf dem Weg vom Druck festgesetzt, so dass sie zu spät ankommen und nicht mehr verkauft werden können“, sagt Nishan.

Ihr Kollege, ein älterer Mann mit müden Augen, ergänzt: „Bei den Auslieferern der Zeitungen finden Hausdurchsuchungen statt, um an die Namen der Abonnenten zu kommen“. Einige Zusteller seien festgenommen und verhört worden, um die Adressen der Abonnenten zu erhalten. Selbst Zeitungshändler werden schikaniert.

Klima des Misstrauens

Auch die Arbeit als investigativer Journalist sei sehr schwer geworden: Kaum jemand traue sich noch, Informationen an die Presse weiterzugeben. Bespitzelung und Denunziation auch untereinander führten zu einem Klima des Misstrauens. Dieses System aus Denunziation und Angst sei schlimmer als zuvor, schätzen unsere Gesprächspartner. Trotz der massiven Einschränkungen ihrer Arbeit wollen die Journalisten aber weiter versuchen, die Erfahrungen des alltäglichen Terrors in den Städten und Dörfern und die Berichte von Willkür und Grausamkeit nach außen zu tragen.

Sie begreifen die Angriffe des Staates als Angriffe auf die kurdische Identität: „Wir werden nicht verfolgt wegen unserer Meinung oder weil wir Journalisten sind, sondern weil wir Kurden sind“, sagt Nishan. Allein die Zugehörigkeit zur kurdischen Minderheit berge für die Staatsgewalt eine Unsicherheit, die sie mit allen Mitteln eindämmen wolle.

Fristlose Kündigung

Seitdem er in Van lebt, hat Serdar das Gefühl, dass seine Schritte überwacht werden. Mehrmals wurde der junge Mann schon absichtlich angehalten. Kürzlich habe er einen Freund vom Flughafen abgeholt. Wenige Stunden später stand die Polizei vor seiner Haustür und wollte wissen, warum er Besuch erhalte. „Ich muss eben ein spannender Mensch sein, nicht wahr?“, sagt er. Serdars Familiengeschichte fängt in einem Dorf in der Nähe von Yüksekova (kurdisch: Gever) an und ist gekennzeichnet von Unterdrückung, Polizeigewalt und Vertreibung.

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In einer Teestube über den Dächern von Van traf Johanna Bröse den jungen Serdar.

Johanna Bröse

Ende der 1990er Jahre wurde das Familienhaus zusammen mit großen Teilen des Dorfes vollkommen durch das türkische Militär zerstört. Die einzige Möglichkeit für Serdar, weiterhin zur Schule gehen zu können, war der Umzug des Minderjährigen nach Ankara. Seine Familie flüchtete hingegen nach Yüksekova. Letztes Jahr wurde sie erneut vertrieben und kam anschließend in Van unter. Um seine Familie zu unterstützen, kehrte Serdar in die Region zurück.

Nun ist er nach neun Monaten Arbeit in der Städtebauabteilung in der Stadtverwaltung ohne Angaben von Gründen entlassen worden. Natürlich hat Serdar eine Vermutung, weshalb ihn die fristlose Kündigung ereilte: „Das kommt sicherlich daher, dass ich davor bei der HDP in Istanbul aktiv war.“

Fünf Tage ohne Anwalt

Und wohl auch, weil sein kleiner Bruder seit über einem Jahr im Gefängnis in Van sitzt. Serdar kann ihn dort alle paar Wochen besuchen, dann können sie hinter dicken Scheiben kurz miteinander telefonieren. Er erzählt, dass der inzwischen 21-jährige Naif seit über einem Jahr im Haft ist – ohne Anklageverfahren.

Seit dem Ausnahmezustand gilt: Wenn die Gendarmerie jemanden festnimmt, dauert es mindestens fünf Tage, bis diese Person einen Anwalt sehen kann. Währenddessen werden jedoch schon die Aussagen aufgenommen.

Mahmut Kaçan, ein Menschenrechtsanwalt in Van, beschreibt eine Praxis, die aus seiner Sicht systematisch stattfindet: „Die Polizei behauptet in manchen Fällen, die betroffene Person wolle keinen Anwalt haben.“ Im Falle einer solchen Behauptung liege der Verdacht nahe, dass die Betroffenen während dieser Zeit gefoltert wurden. Kaçan berichtet auch, dass auf dem „Prison Campus“ in Van im vergangenen Jahr zwei von vier Gefängnissen ganz neu gebaut wurden, jeweils eine „T-Typ“ und eine „F-Typ“ – Hochsicherheitsstrafvollzugsanstalt, in denen nur politische Gefangene inhaftiert sind.

Türkeiweit, erzählt Kaçan, sollen aktuell 174 neue Gefängnisse gebaut werden. Laut der Zeitung Hürriyet soll damit in den nächsten fünf Jahren Platz für rund 100.000 neue Gefangene geschaffen werden. In den vergangenen Monaten wurden in der Türkei zudem über 36.000 verurteilte Inhaftierte freigelassen – um, wie Kaçan erklärt, Platz für politische Gefangene zu schaffen: „Es wurden alle freigelassen, die eine Haftstrafe von unter fünf Jahren schon zu mehr als 10 Prozent abgesessen haben und die nicht zu den folgenden drei Gruppen gehören: Drogendealer, Organisiertes Verbrechen – und politische Gefangene.“

Reise in die Berge

Die Reise ist offiziell zu Ende, erste Teilnehmer sind schon auf dem Weg nach Deutschland. Eine kleine Gruppe von Leuten hat sich dennoch in den Kopf gesetzt, die Reise in das knapp drei Stunden entfernte Yüksekova anzutreten. In der Region hatte die HDP bei den Wahlen 2015 über 93 Prozent der Stimmen erhalten – bei einer Wahlbeteiligung von über 90 Prozent.

Als 2015 die Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der verbotenen Kurdische Arbeiterpartei PKK abrupt endeten, spitzte sich die Lage im Südosten der Türkei zu: Das Militär errichtete Überwachungstürme und Checkpoints, die Guerilla-Kämpfer bauten Schutzwälle und riefen in manchen Städten autonome Zonen aus.

97 Tage lang, vom März bis Mai 2016, wurde in der Stadt Yüksekova eine Ausgangssperre verhängt. Grund seien die „zunehmenden terroristischen Vorfälle“ gewesen. Bereits nach 20 Tagen heftiger Kämpfe zwischen den Volksverteidigungseinheiten YPS, der militanten Jugendorganisation der PKK, und dem türkischen Militär, verließen die meisten Einwohner die Stadt.

Unsere kurdischen Freunde warnen uns

Der Weg nach Yüksekova führt aus Van heraus auf einer gut ausgebauten Straße immer weiter und höher in die Berge hinein. Der Blick nach draußen blendet, hier ist der Winter noch lange nicht vorbei, und er ist auch länger und unerbittlicher als sonst. Wir rechnen damit, schon bei der ersten Militärsperre von den türkischen Soldaten abgewiesen zu werden. Die Regierung lässt kaum internationale Journalisten oder Abgeordnete in die Stadt. Unsere kurdischen Freunde aus Van warnen uns eindrücklich davor, die Reise überhaupt anzutreten.

Wir reisen dennoch mit einem regulären Dolmuş, einer Art Sammeltaxi, um nicht zusätzliche Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Schon am Ortsausgang von Van treffen wir auf den ersten Checkpoint – wir werden aber nicht angehalten. Rund eine Stunde später passieren wir den kleinen Ort Başkale. Eine Struktur windet sich wie ein Drachenschwanz den Bergkamm entlang: „Dorfbewohner haben einen Schutzwall errichtet, um sich gegen Beschuss zu schützen“, erzählt eine Frau, die nicht zum ersten Mal in der Region unterwegs ist.

Kurz vor der Abzweigung Richtung Hakkarı treffen wir auf den bisher größten Checkpoint. Er liegt im Tal. Oben, auf den steilen Bergkämmen, sind Wachtürme und Geschütze sichtbar. Die schwerbewaffneten Militärs überprüfen unsere Pässe und durchsuchen den Bus. Dann geben sie den Weg frei.

Ganze Stadtteile zerstört

Yüksekova liegt auf 1950 Metern, aber nicht nur die Höhenluft erschwert das Atmen in der Stadt. Es ist das erdrückende Gefühl, inmitten einer Tragödie zu stehen, die schwer fassbar und zugleich umfassend ist. Man erblickt das Ausmaß der Zerstörung, die erst nach der Lockerung der Ausgangssperre im Juni festgestellt werden konnte: Ganze Stadtteile, in denen die Kämpfe besonders erbittert geführt wurden, wurden zerstört. Offizielle Zahlen sprechen von rund 6.000 zerstörten Gebäuden, aber die Bewohner der Stadt gehen von bis zu 16.000 unbewohnbaren Häusern aus.

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Die Zerstörungen in Yüksekova im März 2017. Viele der Gebäude sind seit einem Jahr unverändert.

Johanna Bröse

„Man kann die Zerstörung noch immer in der Luft spüren“, kommentiert Serdar. Er selbst war im September da, zur Dokumentation der Schäden an den Häusern. Zusammen mit anderen Kollegen leitete er die Befunde an die UN weiter. In einem Haus fanden er und seine Freunde noch den Körper eines Mannes, da waren die Kämpfe schon monatelang vorbei.

Die Stadt ist in zwei Teile getrennt: In einen kurdischen und einen türkischen. Türkisch deshalb, weil ein riesiges Kasernenareal mit kompletter Infrastruktur, mit Sicherungsanlagen und einer großen Anzahl an türkischen Flaggen, von Soldaten bewohnt wird. 80.000 Personen sollen dort aktuell sein, sagt unser Kontakt Gelawej. Richtig nachprüfen lässt sich das aber nicht, da es darüber keine zugänglichen Statistiken gibt. Es sei aber in jedem Fall die größte Basis in der Türkei. Zahllose Wachposten und Einsatzorte im Umkreis werden von hier ausgestattet. Das türkische Militär wird von Gendarmerie und Spezialeinheiten der Polizei unterstützt, zusätzliche Hilfe erhalten sie durch die noch immer bestehenden Feudalstrukturen der korucus, der sogenannten „Dorfschützer“.

Sexistische Parolen

Von den vielen Gesprächen am Nachmittag bleibt eines besonders im Kopf: Wir sprechen mit zwei jungen Frauen, die uns eindrücklich davon berichten, gegen wen die Angriffe des türkischen Militärs in Yüksekova sich im Besonderen richteten: „Die zerstörten Häuser wurden von den Soldaten betreten und gezielt verwüstet. Die Soldaten haben hauptsächlich Frauenunterwäsche und Spielsachen von Mädchen zerstört. Sie hinterließen sexistische Parolen an den Wänden, die an die Frauen gerichtet waren: ‚Der Staat ist überall, Junge Frauen wir sind hier um euch zu prostituieren!‘“

Auf eindrückliche Art und Weise bekommen wir die Zerstörung mit, als wir durch die drei am stärksten betroffenen Stadtteile Cumhuriyet, Güngör und Orman fahren, um uns selbst ein Bild des Ausmaßes der Zerstörung machen zu können. Es steht vielerorts kein Stein auf dem anderen.

Praktisch jedes zweite Haus trägt massive Spuren des Kriegs: zerbombte Mauern, Löcher in den Wänden, ausgebrannte Räume, eingestürzte Dächer, Einschusslöcher in Fassaden und Toren. Die Häuser sind oft noch immer unbewohnbar, teilweise auch komplett eingestürzt. Aktuell liegt über allem eine weiße Schneedecke, es ist als wäre die Zerstörung ein wenig eingehüllt. Vereinzelt ragen Eisenstangen von Betonhäuserresten und Steinberge aus dem Schnee.

Gelawej zeigt auf viele leere Flächen, vormals standen dort mehrstöckige Häuser. Er zeigt uns auch seine Bilder, die er direkt nach der Öffnung der Ausgangssperre Anfang Juni 2016 heimlich machen konnte. Ein Jahr später hat sich die Situation kaum verbessert.