Hintergrund

Wahlkampf in den Zeiten der Post-Vérité

Wir befinden uns im Jahre 2017 nach Christus. Die ganze Welt scheint von den Fake News beherrscht zu werden. Die ganze Welt? Nein – ein unbeugsames Volk von Galliern leistet Widerstand. Und hat den Fake News den Kampf erklärt. Die Bilanz eines langen Wahlkampfs, den Frankreich fast hinter sich hat – und Deutschland noch vor sich.

von Jacques Pezet

© STRINGER/AFP

In der französischen Medienlandschaft sind Fakenchecks schon lange etabliert. Seit 2008 werden Falschmeldungen – auf Französisch nennt man sie „intoxs“, ein Wortspiel aus „information“ und „toxique“, giftig – von Désintox, dem Fact-Checking-Team der Tageszeitung „Libération“ geprüft, für das ich seit zwei Jahre arbeite. 

Nach „Liberation“ folgten weitere Medien dem Beispiel: Im Jahr 2009 gründeten sich Les Décodeurs der Tageszeitung „Le Monde“. Seit 2012 werden Falschaussagen täglich vom öffentlichen Hörfunksender France Info und von Arte angeprangert. Seit 2014 auch von der privaten Station Europe1, seit 2016 vom TV-Sender France Info. Und online beteiligt sich Buzzfeed an der Jagd auf gezielte Desinformationen.

Bis zur Präsidentschaftswahl in diesem Jahr arbeitete jede dieser Redaktionen für sich und konzentrierte sich auf Falschaussagen von Politikern. Nun kam eine Sorge hinzu: Dass Fake News, die über soziale Netzwerke massenhaft verbreitet werden, die Wahl beeinflussen könnten.

Als Reaktion auf diese Furcht entstand CrossCheck, eine Task-Force, an der sich 64 Fact-Checking-Gruppen beteiligten. Darunter 40 regionale, nationale und ausländische Redaktionen, drei Journalistenschulen und wichtige Internet-Akteure wie Facebook oder das Google News Lab. Finanziert wird die Plattform von Google. Insgesamt hat CrossCheck seit dem 28. Februar diesen Jahres 65 Faktenchecks veröffentlicht.

Bei den Verifizierungen ging es sowohl um Gerüchte wie „Trägt der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon eine Rolex-Luxusuhr?“ als auch um absurde Behauptung von satirischen Webseiten, auf denen man lesen konnte, dass Jean-Marie Le Pen, der Gründer des Front National, „seine Partei mit Drogengeldern finanziert.“

Welches Fazit lässt sich bisher aus dem französischen Präsidentschaftswahlkampf ziehen? Welche Rolle spielten Fake News in Frankreich tatsächlich?

Erstens: Besonders viele Falschbehauptungen betrafen Macron

Er war ein Newcomer, er führte die Umfragen an – und er lag vorn in Sachen Desinformationen. Im Wahlkampf wurde dem ehemaligen Wirtschaftsminister Emmanuel Macron Vieles vorgeworfen: Dass er heimlich eine homosexuelle Beziehung mit dem Präsidenten des staatlichen Radiosenders Radio France habe. Dass Saudi-Arabien seine Wahlkampagne finanziere. Dass er Geld in einer Steueroase verstecke. Dass er die Scharia im Übersee-Departement Mayotte wiedereinführen wolle. Dass er seine Hände wasche, nachdem er Arbeitern die Hände geschüttelt habe. Und so weiter. Die Liste der falschen Behauptungen, die über den Spitzenkandidaten des Wahlbündnisses „En Marche“ verbreitet wurden, ist lang.

Anstatt sie zu ignorieren, hat sich Macron immer wieder entschieden, offensiv dagegen vorzugehen. So dementierte er auf Anfrage eines Journalisten von Mediapart die Gerüchte um seine angebliche Homosexualität. Noch erstaunlicher: Während eines Fernsehinterview verkündete er, dass bald das Gerücht um ein geheimes Konto von ihm kursieren werde. Da war es auf Twitter gerade einen Tag alt.

Nicolas Vanderbiest von der Université de Louvain ist Experte für die Verbreitung von Falschmeldungen im Netz. Er hat untersucht, wer im Verlauf des Wahlkampfes mindestens drei von neun populären Fake News auf Twitter geteilt hat. Seine Ergebnisse hat er in einem Blogpost vom 20. April veröffentlicht. Von den neun analysierten Falschmeldungen betrafen demnach sechs Macron, eine war pro-Fillon, eine anti-Mélenchon, eine anti-Juppé.

Sein Fazit: Unter jenen, die Falschmeldungen teilten, waren „Aktivisten des Front National, Fillonisten und Sarkozy-Anhänger“ mit einer überwältigenden Mehrheit von 94 Prozent vertreten. Also Wähler aus dem konservativen bis rechtsradikalen Lager. 

Und: Sie haben eine große Nähe zu russischer Propaganda. Wer in Frankreich Fake News teile, so der Forscher, teile auch Tweets von pro-russischen Medien wie dem Nachrichtensender Russia Today. Hier betrug die Übereinstimmung bei 75 Prozent.

Zweitens: Politiker werfen Journalisten „Fake News“ vor   

Viele Kandidaten haben es im Wahlkampf Donald Trump nachgemacht und versucht, die Glaubwürdigkeit von Journalisten zu untergraben, indem sie ihnen das Verbreiten von Fake News unterstellten. Dazu gehört François Fillon, der sich über die Recherchen zur Scheinbeschäftigung seiner Frau ärgerte. Aber auch der Linke Jean-Luc Mélenchon, der sich schon im Wahlkampf 2012 harte Auseinandersetzungen mit den Medien geliefert hatte. Oder auch die rechtsradikale Kandidatin Marine Le Pen. Sie waren sich oft einige in dem Vorwurf, dass die herrschenden Medien, die „Médiacratie“, ein oligarchisches „Système“ herbeischreiben wollen – gegen den Willen des „Volkes“.

In einer Interview mit dem Hörfunksender Europe1, in dem ihr vorgeworfen wurde, sie würde ihr eigenes Programm nicht kennen, antwortete Marine Le Pen: „Es ist schlimm, wenn die Franzosen keine guten Entscheidungen treffen können, indem man ihnen falsche Informationen gibt. Fake News, wie man sie auch nennt.“ Ähnlich reagierte der stellvertretende Front National-Vorsitzende Florian Philippot auf ein Schaubild der Nachrichtenagentur AFP. Es verglich die Kernpunkte der Hauptkandidaten, wie sie in den Programmen nachzulesen waren. Für Philippot waren es trotzdem Fake-News.

Drittens: Die Kandidaten betrieben Anti-Fact-Checking

Die Wahlkampfteams der vier Hauptkandidaten hatten außerdem eigene Abteilungen, um die Argumente von Gegnern oder die Berichterstattung der Medien zu kritisieren. Und spielten mit dabei mit dem Label Fact-Checking. Obwohl das, was sie machten, mit Fact-Checking herzlich wenig zu tun hatte.

Der Front National veröffentlichte unter der Rubrik „Vérités“ insgesamt 98 „Wahrheiten“ – zumeist Vorwürfe, dass Journalisten falsche Behauptungen gegen sie aufstellen würden. Auf der Webseite des Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon wurden 26 Korrekturen #JLMDésintox – auch meistens Medienkritik – publiziert. Im Fall François Fillon wurden im Januar sechs Texte in der Rubrik #Stopintox veröffentlicht. Meist ging es um die Scheintätigkeiten seiner Frau. 

Auf „Macron Désintox“ wurden 22 Texte veröffentlicht, die in der Regel versuchten, Argumente gegen Emmanuel Macron zu entkräften. Etwa: Er sei der Kandidat der Banken und Finanzindustrie. 

Um „Wahrheit“, um Überprüfung von Fakten ging es meist nicht. Man nutzte lediglich den Begriff „Fact-Checking“, um die Glaubwürdigkeit der eigenen Aussagen zu erhöhen.

Viertens: Hat sich Russland in die Wahl eingemischt? 

Auch in Frankreich verdächtigten politische Kreise Moskau, die Wahl beeinflussen zu wollen. Bis heute ist die Frage ungeklärt, ob Emmanuel Macron von russischen Hackern angegriffen wurde. Ende April 2017 bestätigte ein Bericht der japanischen Cybersicherheit-Firma Micro Trend: Die russische Cyberspionagegruppe „Pawn Storm“ habe im März sogenannte Phishing-Attacken gegen Macrons Bewegung En Marche gestartet. Die Hackergruppe habe sich mit ähnlicher Technik bereits in die Computer von Hillary Clintons Wahlkampfteam eingeschlichen. Der Bericht wurden von der französischen Presse verbreitet.

Doch wie „Libération“ berichtete, relativierte die staatliche Nationale Agentur für Sicherheit der Informationssysteme (ANSSI) diese Behauptung. „Die Vorgehensweise ist Pawn Storm sehr ähnlich, aber man kann nicht ausschließen, dass eine sehr kompetente Gruppe sie zu imitieren versucht“, wurde Guillaume Poupard, der ANSSI-Direktor zitiert. Sein Fazit des französischen Präsidentschaftswahlkampfes war dennoch positiv: „Unsere Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet.“