Flucht & Migration

Tausche Schönheit gegen Pass

Ein guter Teil der heimlichen Einwanderer kommt nicht spektakulär nachts über die Grenze geschlichen. Sondern reist ganz offiziell mit einem Touristenvisum nach Deutschland ein und taucht dann unter. So wie Rose Aitken und ihre beiden aufreizend schönen Töchter. Wie leben sie? Gelingt es ihnen, aus der Schattenwelt der Illegalität aufzutauchen?

von Benedict Wermter

ein Durchgang in einer Berliner Beach Bar© Ivo Mayr

Eines Nachmittags geht Rose Aitken* über den Hermannplatz in Berlin, als sie in ihre Handtasche greift und erschrickt: Sie hat versehentlich die Geldbörse ihrer Tochter eingesteckt, darin deren Monatskarte. Sofort zückt Aitken ihr mit Glassteinen gespicktes Handy und ruft ihre Tochter an, gerade noch rechtzeitig – eben will Tasha am Alexanderplatz in die S-Bahn einsteigen.

Ein Fahrkartenkontrolleur könnte das Ende des Familienglücks in Deutschland bedeuten. Aitkens Töchter, Tasha, 22, und Ricky, 19, haben keine gültigen Papiere. Sie sind mit einem Touristenvisum eingereist, das seit einem Monat abgelaufen ist. Und sie wollen bleiben, um hier in Deutschland einen Mann zu suchen, er wäre ihre Eintrittskarte in die Erste Welt. Sofort steigt Aitken in die U-Bahn. 20 Minuten später trifft sie am Alexanderplatz ihre beiden Töchter und ihr Enkelkind. Tashas und Rickys falsche Haare ziehen Blicke an, sie haben sich mit Modegold behängt, tragen enge, halblange Jeans und knappe Tops, die immer wieder über ihren Bauch hochrutschen. Rose Aitken übergibt die Geldbörse mit der Monatskarte, sie ermahnt die Töchter mit einem strengen Blick, der in ein Lächeln übergeht. Das hätte auch schief gehen können.

Sie haben eigentlich nichts vor an diesem Nachmittag, so wie an den meisten anderen Nachmittagen auch, also brechen sie auf, um sich die Zeit in einer Berliner Beach-Bar zu vertreiben. Es gibt dort einen jamaikanischen Stand, die „Jamaican Island“ nennen sie den, ihre Homebase in der fremden Stadt. Wieder zurück in die U-Bahn. Schon hier flirten die beiden Mädchen, was das Zeug hält, lächeln fremde Männer an und lassen dabei ihre blendend weißen Zähne blitzen, streichen über ihre Lippen oder schütteln das lange, falsche Haar. Tashas Sohn Arjun, 3 Jahre alt, sitzt im Baggy. Auf seinen prallen Wangen zeichnen sich getrocknete Salzbahnen ab. Er zerkaut einen Lolly und quiekt im englischen Patwa-Dialekt, der Sprache der Jamaikaner.

Unsichtbare Au-Pairs und Touristen

Wie viele Einwanderer in Deutschland ohne gültige Papiere leben, kann niemand sagen. Schätzungen von Migrationsforschern zu Folge sind es eine halbe Million Menschen. Ein guter Teil von ihnen flüchtet nicht spektakulär im Boot über das Mittelmeer, oder kommt in einem Kofferraum versteckt über die Grenze – sondern reist ganz offiziell mit dem Flugzeug an, mit einem Visum als Student, Au-Pair-Mädchen, Touristin oder Arbeiter. Und bleibt dann einfach da, wenn das Visum ausläuft – und sucht nach Wegen, aus der Schattenwelt aufzutauchen, um sich Papiere zu besorgen.

So wie Rose Aitken.

Es begann mit einem Zufall. Aitkens beste Freundin heiratete einen amerikanischen Wissenschaftler und zog 2009 mit ihm nach Deutschland. Sie war es, die Aitken vom Leben in Deutschland erzählte, von den schüchternen Deutschen, die sich nicht grüßen, von den sauberen Straßen, dem guten Geld, den vielen Vorschriften, der Sicherheit. Die Single-Mutter Rose Aitken lässt ihre beiden 14- und 17-jährigen Töchter in der Heimatstadt St.Elizabeth zurück und reist im Mai 2010 als Touristin mit ihrer Freundin und gut tausend Dollar in der Tasche ein. „Wenn wir einmal die Chance haben, nach Europa zu kommen, dann greifen wir zu“, sagt Aitken.

„Catch up“ mit verschiedenen Männern

Was sie nicht weiß: Der Amerikaner und ihre Freundin sind zerworfen, die beiden streiten eigentlich nur. Nach drei Tagen in Deutschland flüchten Aitken und die Freundin vor dem Mann, der ihre Freundin angeblich schlägt und droht, sie umzubringen. Die Irrfahrt durch die Szene der Papierlosen und Asylsuchenden in Berlin beginnt. Nach einem Monat ist Aitkens Geld aufgebraucht, nach einem weiteren Monat ihr Visum abgelaufen. Die Frauen spielen „catch up“ mit verschiedenen Männern: Sie bandeln an und lassen sich durchbringen. Oder sie schlafen heimlich in den Unterkünften von Asylsuchenden.

Aitken ist Mitte 40, aber sie sieht jünger aus, sie ist klein und drall und hat ein hübsches Gesicht. Hohe Absätze, lange, knallpinke Fingernägel, eine Perücke mit glatten, braunen Haaren — ein Code, der bei den Männern ankommt. Ihre Schönheit ist ihr Kapital, und sie setzt es klug ein, um ihre Ziele zu erreichen.

Asylantrag – oder Hochzeit

Wer ohne Geld aus einem armen Land kommt, hat nur wenige Möglichkeiten, sich dauerhaft in Deutschland aufhalten zu können: Man stellt einen Asylantrag. Oder heiratet. Oder bekommt ein Kind mit jemandem mit einem EU-Pass. Asyl wird Jamaikanern fast nie gewährt. Aitken sagt, nur Homosexuelle bekämen den Schutzstatus: „Schwule werden in Jamaika erschossen oder verbrannt.“ Aitken braucht einen Mann mit gültigen Papieren. Am besten einen gebürtigen Deutschen, den Jackpot. Aitken macht sich auf die Suche, im Internet, in Bars. Im Frühling 2012 lernt sie in einem Irish Pub am Ku’damm einen verschlossenen Steuerberater kennen, sie betrinkt sich mit ihm und schläft bei ihm. Am nächsten Tag bekommt sie zum ersten Mal einen Schlüssel für eine Berliner Wohnung.

Ein Jahr lebt sie gemeinsam mit dem Steuerberater — ohne Papiere. Dann beantragt sie Asyl, wohl wissend, dass sie abgelehnt wird. Aber sie muss ein Fall für die Akten werden, um heiraten zu können. Während die Behörde ihren Antrag prüft, darf sie bleiben. Die deutschen Behörden wollen die Trauung nur zulassen, wenn sie ganz sicher sind, dass es Liebe ist. Unzählige Papiere und Aussagen müssen Aitken und ihr Partner einreichen. Die Behörden wollen es genau wissen: Woher kennen sie sich und wie lange sind sie ein Paar. Die Ausländerbehörde lässt Nachbarn und die Familie ihres Verlobten befragen, erzählt Aitken. Dann endlich, im Frühjahr 2013, dürfen sich die beiden trauen.

Der erste Teil von Rose Aitkens Plan ist aufgegangen: Besuchervisum, deutscher Mann, Heirat und Aufenthaltserlaubnis. Nun ist sie nur noch einen Schritt von einem vollwertigen Status als Bundesbürgerin entfernt: Drei Jahre muss sie mit ihrem Mann aushalten, so will es das Gesetz, danach könnte sie sich von ihm trennen und trotzdem bleiben. Das wäre in einem Jahr. Von der Kellnerin und Zimmermädchen in Jamaika zur vollversorgten Hausfrau — ein sozialer Aufstieg auf der Überholspur, vorbei an all den Flüchtlingen, die oft Jahre in Baracken hausieren müssen und nicht arbeiten können — ermöglicht durch ihren Mut, ihren Charme, ihre weiblichen Reize. Jetzt folgt der zweite Teil des Plans von Rose Aitken: Ihre beiden Töchter sollen nachkommen, samt Enkelsohn Arjun. Auch sie sollen sich einen der lautlosen Deutschen angeln.

Tasha und Ricky kommen nach

In Jamaika sind Jahre vergangen, in denen Tasha und Ricky ohne ihre Mutter auskommen müssen. Zusammen leben sie in einer kleinen Wohnung, werden von ihren beiden Vätern, von Freunden in Jamaika und aus Deutschland unterstützt. Tasha wird schwanger von einer Zufallsbekanntschaft, bei der Geburt ist der Vater längst weitergezogen, aber das ist in Jamaika nicht ungewöhnlich. Nachts hören Tasha und Ricky Schüsse, tagsüber sehen sie, wie betrunkene Männer mit Messern kämpfen. „In Jamaika hat jeder seine Probleme“, sagen die Schwestern. Besonders stört sie, dass sie in Jamaika nicht richtig erzogen worden sind und keine Ausbildung bekommen haben. Sie hätten weder richtig schreiben, noch schwimmen, noch sonst irgendetwas gelernt. Wie lange sie eigentlich die Schule besucht haben, wissen sie selbst nicht mehr so genau.

Die Mädchen zahlen viele stundenlange Fahrten nach Kingston, der jamaikanischen Hauptstadt, um dort teure Papiere einzureichen. Sechs Anläufe brauchen sie für ihre Visa. Von dem Geld, dem Aufwand, hätte Mutter Aitken ihnen eine Wohnung in Jamaika kaufen können, sagen sie. Die Botschaft befürchtet, dass die Mädchen nicht zurück kommen werden und verweigert immer wieder die Reise. Schließlich bringen die Schreiben des deutschen Steuerberaters bei der Botschaft die Entscheidung. Ganz kurzfristig werden Reisepapiere ausgestellt, mit der Auflage nur einen Tag später zu fliegen, erzählt Rose Aitken. Die Botschaft rechnet wohl nicht damit, dass Tasha und Ricky bereit sind, alles zurückzulassen. Doch das sind sie.

Niemand kennt genaue Zahlen

Wie viele Menschen mit abgelaufenem Visum in Deutschland leben, kann niemand sagen. Visa werden bei deutschen Botschaften im Ausland beantragt. Wer bis zu drei Monaten bleiben will, erhält das Visum recht unproblematisch, für längere Aufenthalte braucht man Genehmigungen deutscher Innenbehörden. Das Auslandsministerium weiß nur, wie viele Visa von deutschen Botschaften im Ausland ausgestellt wurden, nicht aber, wie viele Menschen tatsächlich ihre Reise antreten. 2014 wurden knapp zwei Millionen Kurzzeit- und gut 200.000 Langzeit-Visa vergeben. Auch Bundespolizei und Innenministerium haben keine Ahnung, wie viele Menschen es mit abgelaufenem Visum in Deutschland gibt. Für Zahlen müsste im Schengen-Raum eine einheitliche Zählung eingerichtet werden, darüber wird in der EU zur Zeit diskutiert.

Menschen, die ihre Papiere ablaufen lassen, bleiben wegen der Liebe, so wie ein Au-Pair, die sich in ihren Gastvater verguckt, den Chauffeur hochrangiger Politiker in Berlin. Viele Jahre soll er sie versteckt haben. Oder sie bleiben wegen Freundschaft oder guter Laune, so wie viele Asiaten und Amerikaner, die nach dem Auslandssemester noch ein paar Jahre in den deutschen Großstädten jobben und in ihren Communities unterschlupfen. Sie werden zu Hause im hohen Alter von der Familie gepflegt und dafür nach Deutschland geholt, so sollen es einige muslimische Gemeinschaften machen. Oder sie kommen, um sich einen deutschen Partner zu suchen.

Der erste Schnee in Tegel

Als Tasha, Ricky und der kleine Arjun im Februar 2015 in Berlin Tegel landen, schneit es. Es ist der erste Schnee, den die beiden Mädchen sehen. Rose Aitken und ihr Mann nehmen sie in Empfang. Ihre Kinder treten ein in eine neue Welt im bürgerlichen Berlin-Charlottenburg mit seinen schönen Häusern und noblen Läden. Die Familie besichtigt Berlin, besucht den Zoo, den hohen Turm, die bunten Kieze. Ein idyllischer Familienurlaub im reichen Deutschland, so scheint es zumindest für Aitkens Mann, den Steuerberater.

Die Zeit ist schnell vorüber, das Besucher-Visum läuft ab. Aitkens Mann setzt die Schwestern in ein Taxi zum Flughafen. Dort werden die Mädchen nie ankommen. Stattdessen finden Tasha und Ricky Unterschlupf bei einem Bekannten der Mutter. Ihr Mann, der Steuerberater, soll nichts von den Plänen mitbekommen. Er hat Angst, gerade stehen zu müssen, fällt auf, dass die beiden Mädchen in Deutschland untergetaucht sind, sagt Rose Aitken. Er hat eine Verpflichtungserklärung gegenüber der Ausländerbehörde abgegeben und müsste für die Damen haften, falls sie auftauchen und Sozialhilfe beantragen würden.

Zielperson: Deutscher Mann

„Die deutschen Behörden zwingen uns regelrecht, schwanger zu werden oder zu heiraten“, sagt Aitken und nippt an ihrem Corona-Bier in der Beach-Bar. Tasha hat noch in Jamaika einen deutschen Mann im Internet kennengelernt. Sie arbeiten daran, den Mann bei Laune zu halten. Ricky, die jüngere, weiß nicht so recht, wo sie mal hinwill. Paris wäre gut. „Ist doch in Deutschland, oder?“ Die Damen fragen unverblümt nach Single-Männern, mit denen man zusammen leben könnte und die noch keine Kinder haben. Über einen Mann mit arabischen Wurzeln denken sie kurz nach: „Das sind die, die ihre Frauen verhüllen, oder?“ Die mögen sie weniger. In der Beach-Bar suchen sie erst einmal nach neuen Schlafplätzen für die kommenden Tage. Aktuell wohnen sie bei Bekannten, aber sie suchen eine Beziehung, je eher, je besser. Die Suche wirkt recht wahllos, eigentlich wäre jeder Recht, es geht hier ja um eine größere Sache, um deutsche Papiere, das in ihren Augen höchste Gut der Welt.

Trennungsschmerz oder Sehnsucht nach der Heimat? Kennen die Jamaikaner nicht. Vermissen sie ihre Freunde und Bekannten? Sie winken ab. Freunde findet man überall, außerdem gibt es ja Skype und es wird immer billiger, in die Heimat zu telefonieren. Deutsche Papiere – das ist es. Dann könne man auch mal in die Heimat fliegen, wenn das Geld dazu da ist.

Auch die beiden Töchter werden wohl eine Zweckehe eingehen, die erstmal nach großer Liebe aussieht, zumindest drei Jahre lang. Und weil auch sie hübsch sind, dürfte es ihnen, wie ihrer Mutter, nicht schwer fallen, einen treuherzigen deutschen Mann zu finden. Dem vielleicht etwas vorgespielt wird, der sich aber drei Jahre lang an ihrer Jugend und ihrer Schönheit erfreuen darf. Ist das ein fairer Deal? Und was wird nach den drei Jahren? Sind die beiden Mädchen vorbereitet auf das Leben in einer modernen Industriegesellschaft? Und selbst wenn nicht, wer wollte ihnen verwehren, ihr Glück in diesem Land trotzdem zu versuchen? Menschen finden immer Wege, Grenzen zu durchdringen und ihre Träume zu leben, egal was es kostet – Menschen sind frei. Damit müssen wir rechnen.

*Die Namen haben wir verändert, um die Unsichtbaren zu schützen