Flucht & Migration

Die gemietete Identität

Wer keine gültigen Papiere hat, kann nicht so einfach Geld verdienen. Einige leihen sich eine Identität – und müssen den Lohn dann teilen

von Benedict Wermter

Unsichtbarer Amadou Bah© Carl Gierstorfer

Diese Recherche erscheint parallel im Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Sie ist zudem Teil einer TV-Dokumentation, die wir zusammen mit vice.com gedreht haben. Sie lief im Fernsehen auf RTL II.

Fast wäre es vorbei gewesen: In der Mittagspause fängt ihn sein Vorarbeiter ab und sagt, er solle sich beim Chef melden. Ein paar Minuten später sitzt Akusi Annan* verschreckt im Büro des Chefs, auf dem Tisch die Kopie seiner Aufenthaltserlaubnis. „Das bist nicht du, oder?“, fragt der Chef und zeigt auf den dunkelhäutigen Mann auf dem Foto des Dokuments. Akusis Herz rast. Ist es nun vorbei? War es das mit Deutschland? Wird er verhaftet und abgeschoben? Obwohl der Vorfall zwei Jahre her ist, spricht Akusi leise, wenn er davon erzählt.

Nein. Sein Chef will, dass er weiter für ihn arbeitet, er sagt: Du bist gründlich und freundlich. Du kannst bleiben. Aber wenn du deine Papiere hast, einen gültigen Aufenthaltstitel, dann tauschst du dieses Papier hier aus, ja? Akusi nickt. Dann schleicht er zurück in das riesige Lager, wo er Schuhe in Pakete packt, Schuhe, die Kunden in ganz Deutschland im Internet bestellen.

Eine legale Hülle

Die Papiere hat Akusi nie abgegeben. Acht Wochen lang arbeitet er in dem Lager in der Nähe von Dortmund, vermittelt über eine Zeitarbeitsfirma. Der Ghanaer, der ihm damals die Papiere überlassen hatte, bekam den Bruttolohn über 7,60 Euro pro Stunde. Akusi hatte ihn in der afrikanischen Gemeinde kennengelernt. Und erhält am Ende selbst 5 Euro pro Stunde. Alle haben verdient. Der Subunternehmer des Lagers, der die Arbeiter bei der Zeitarbeitsfirma entliehen hat. Die Zeitarbeitsfirma. Der Identitätenstifter. Und Akusi. Wenn auch nur einen Anteil.

Wer ohne gültige Papiere in Deutschland lebt, hat letztlich drei Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Erstens: Im kriminellen Milieu, etwa im Drogenhandel. Zweitens: Man arbeitet schwarz, ganz ohne Papiere und kriegt ein paar Euro bar auf die Hand. Aber das geht nicht in allen Branchen. Wer in Lagern oder in der Systemgastronomie arbeiten will, in Schlachthöfen oder Hotels, braucht eine legale Hülle, weil die Betriebe immer wieder kontrolliert werden. Drittens: Diese legale Hülle kann man sich beschaffen, indem man sich die Papiere eines Landsmanns ausleiht, der legal in Deutschland lebt. Damit findet man meistens über Zeitarbeitsfirmen eine Stelle.

Vier Jahre heimlich überlebt

Akusi, gelernter Techniker, kam aus Ghana nach Dortmund, um dort sein entzündetes Auge operieren zu lassen. Mehrere Tausend Euro zahlte er vorab, wie es die Deutsche Botschaft in Ghana verlangte. Sein Auge konnte nicht gerettet werden, es wurde ersetzt durch eine Glasprothese. Als Akusis Visum Ende 2011 ablief, blieb er einfach in Dortmund. Inzwischen hat er ein Kind mit einer Afrikanerin, die gültige Papiere hat, und wird darum geduldet. Doch die Zeit davor, fast vier Jahre lang, lebte er heimlich in Deutschland – und arbeitete häufig mit gemieteten Papieren.

Annan: scheinlegal im Lager

Annan: scheinlegal im Lager

Benedict Wermter

Im Osten Nordrhein-Westfalens, wo große Schuh- und Kleiderlager stehen, arbeitete Akusi jahrelang neben Russen, Türken und Albanern, er packte, schleppte, sortierte. „Viele dort hatten die Papiere von anderen“, sagt er auf Englisch. „Sogar manche Deutsche gingen mit dem Ausweis eines Freundes arbeiten – und bezogen gleichzeitig Hartz IV.“

Ein Prinz bei EDEKA

Der Identitätenhandel scheint beliebt und verbreitet zu sein: Legale Papiere wie eine Aufenthaltserlaubnis, die dazugehörige Krankenkassenkarte und die Sozialversicherungsnummer kann man mieten. Es wird im Voraus bezahlt oder der Lohn wird geteilt. Wenn nur ein Unsichtbarer mit den Papieren arbeitet, ist dies kaum für Arbeitgeber und Behörden nachvollziehbar. Ein Kenner der Szene aus dem sozialen Umfeld weiß: „Viele Identitäts-Geber verleihen ihre Papiere mehrfach und schicken gleichzeitig Unsichtbare und Geduldete arbeiten. Da ist ein ganzer Markt entstanden.“

Manche Chefs von Lagern und Zeitarbeitsfirmen würden die Unsichtbaren schwarz weiter beschäftigen, wenn sie von deren falscher Identität erfahren. Weil sie dann noch weniger zahlen müssen. Denn jemand der illegal arbeitet, traut sich kaum, einen angemessenen Lohn zu fordern. Akusi kennt viele Beispiele aus der Szene der unsichtbaren Arbeiter: Von einem ghanaischen Prinzen, der so Regale bei Edeka einräumte, oder von einem Freund, der eine Polizeiwache in Essen gereinigt hat.

Identitätenhandel: kaum zu fassen

Meist bekämen die Arbeitgeber und Zeitarbeitsfirmen aber gar nicht mit, dass sie Unsichtbare beschäftigen, sagt Akusi. Die Afrikaner auf den Fotos der Ausweise sähen sich zu ähnlich in den Augen der Sachbearbeiter. Und warum sollten sie überprüfen, wer wirklich vor ihnen steht? Einige Zeitarbeitsfirmen bräuchten immer Kräfte und nähmen billigend in Kauf, dass ihre Mitarbeiter keine gültigen Papiere haben, sagt Akusi. Denn diese arbeiteten zuverlässiger und stellten keine Fragen. Für diese Unsichtbaren, von denen es Migrationsforschern nach etwa 400.000 in Deutschland geben soll, ist so eine Beschäftigung eine der wenigen Chancen auf ein Einkommen.

Geduldete und Asylbewerber dürfen nur eingeschränkt und nur mit Erlaubnis der Ausländerbehörde arbeiten; Zeitarbeit ist ihnen erst nach 15 Monaten uneingeschränkt gestattet. Das befördert den Identitätenhandel, dessen Dimension schwer einzuschätzen ist. Selbst der Zoll hat keine genauen Zahlen. Man weiß nur, es gab 50 Fälle, in denen Zeitarbeitsunternehmen Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung an Firmen verliehen haben.

Die Branche weiß von nichts

Die deutschen Zeitarbeitsfirmen haben zwei Dachverbände, den Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ) und den Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister (BPA). Letzterer reagierte überhaupt nicht auf unsere Anfrage, eine Sprecherin des IGZ antwortete, man wisse nichts von „falschen Identitäten in der Arbeitnehmerüberlassung“.

Wobei: „Sicher 50 Prozent der Zeitarbeitsfirmen sind gar nicht organisiert, da kann es Firmen geben, die ihren Namen häufig ändern und im Verborgenen arbeiten“, sagt Torsten Oelmann, Sprecher der Kontakt- und Schlichtungsstelle (KuSS), die eingreift, wenn es Probleme bei Zeitarbeitsfirmen gibt. Oelmann weist auf die Sozialversicherungsträger hin, also die Krankenkassen, die Renten- und Arbeitslosenversicherung. Bei ihnen müsste doch auffallen, wenn jemand seine Identität für mehrere Beschäftigungsverhältnisse verleiht.

Auch der Staat ist ahnungslos

Nein – es fällt dort nur dann auf, wenn sich die Arbeitsverhältnisse „logisch ausschließen“, sagt Heinz-Dietrich Steinmeyer, Professor für Arbeits- und Sozialrecht in Münster. Aber „die Rentenversicherung  sieht nur den Bruttogesamtbetrag aus Arbeitsverhältnissen, keine Stundenzahlen.“ Steinmeyer hält es außerdem für möglich, dass Identitätenhändler Wege gefunden haben, an zwei oder mehrere Rentenversicherungsnummern zu kommen.

Das bestätigt Dirk von der Heide, Sprecher beim Bund der deutschen Rentenversicherungen. Jeder könne schließlich mehrere Jobs haben, dagegen spreche erst einmal nichts. Und deshalb „gibt es große Schwierigkeiten, Unregelmäßigkeiten aus den Unterlagen festzustellen“.

Besser als Schwarzarbeit?

Fällt es den Einzugsstellen der Sozialabgaben – den Krankenkassen auf, wenn mehrere Arbeitsverhältnisse nebeneinander bestehen? Wenn zu viel für einen Arbeitnehmer von mehreren Arbeitgebern eingezahlt wird? Alle großen Krankenkassen betreiben eigene Betrugsdezernate, mitunter arbeiten dort ehemalige Kriminalbeamte – aber auch ihnen sind keine Fälle von Identitätenhandel bekannt, sagt der Betrugsfahnder einer großen gesetzlichen Krankenversicherung. Jeder Krankenkasse obliege selbst, wie sie mit solchen Problemen umgehen. Es könnte sein, dass einige Kassen zuviel gezahlte Beträge einfach zurücküberwiesen oder im Einzelfall beim Arbeitgeber nachforschten – eben jenen dubiosen Zeitarbeitsfirmen, erklärt der Fahnder.

Sabine Poschmann, SPD-Bundestagsabgeordnete aus Dortmund, hat Verständnis, dass sich Menschen ohne Papiere Identitäten leihen. „Falsche Angaben zur eigenen Identität in der Zeitarbeit sind eine Möglichkeit für ,Illegale‘, sich der Ausbeutung durch Schwarzarbeit zu entziehen. Denn hier werden sie weitestgehend nach Tarif bezahlt. Ein erschlichener Vertrag mit einer Zeitarbeitsfirma ist für sie eine sicherere Alternative, auch wenn es sich hierbei um Betrug handelt.“

Acht Wochen, 500 Euro

Amadou Bah aus Guinea heißt eigentlich auch anders, aber unter diesem Namen hat er einst Asyl beantragt. Auch er, dessen Antrag Anfang 2015 abgelehnt wurde und der seither untergetaucht ist, hat sich schon häufig die Papiere eines anderen geliehen. Amadou hat in vielen Städten gearbeitet. In Hamburg in einem Containerbahnhof, einem Möbellager am Niederrhein, einer Großschlachterei im Rheinland.

CORRECTIV-Reporter Benedict Wermter im Dortmunder Hafen mit Amadou Bah. Er sagt: Wer illegal ist, kann keine Anzeige stellen

CORRECTIV-Reporter Benedict Wermter im Dortmunder Hafen mit Amadou Bah. Er sagt: Wer illegal ist, kann keine Anzeige stellen

Carl Gierstorfer

Eine falsche Identität für acht Wochen habe er schon für 500 Euro gemietet, „dann konnte ich damit machen was ich will, vorausgesetzt, ich konnte das Konto eines Freundes angeben, der mir später meinen Lohn gab“, sagt er auf Französisch.

Andere Identitätsstifter verlangten, dass der Lohn zuerst auf ihr Konto überwiesen werde und gäben dann einen Teil ab, üblich sind zwei Drittel. Auch Amadou bestätigt: „Fast immer geben die Identitätenspender mehreren Leuten ihre Papiere gleichzeitig. So kassieren sie mehrfach ab.“

Er kenne zudem einen Algerier in Dortmund, der täuschend echte deutsche Ausweise ausstellt, mit seinem Foto und der Ausweisnummer eines anderen – für 1500 Euro.

Ausgebeutet von vielen

Oft ist er bei seinen Arbeitsstellen betrogen worden. In Hamburg arbeitete er einen Monat lang in einem Hotel, mit den für 350 Euro gemieteten Papieren eines Landsmannes. Am Ende überwies ihm der Vorgesetzte statt den ihm zustehenden 1300 Euro nur 700 Euro – und habe zudem eine Provision vom Geschäftsführer bekommen, weil er billige Arbeitskräfte herangeschafft hatte.

Akusi und Amadou sind noch immer auf dem Markt unterwegs mit den Papieren anderer, ausgebeutet von den Papierhändlern, vorsätzlich oder ohne deren Wissen auch von den verschiedenen Arbeitgebern, Subunternehmern, Zeitarbeitsfirmen. Warum werden Menschen ohne gültige Papiere nicht geduldet, wenn sie eine Arbeit nachweisen können?

*Name geändert, um die Person zu schützen


Unser gemeinsame Doku mit VICE Deutschland.


Unser Autor Bennedict Wermter zu den Hintergründen der Recherche.