Migration

Keine Belege, dass Seenot im Mittelmeer „künstlich erzeugt wird“

Anhand eines Videos von Frontex wird behauptet, Migranten würden sich im Mittelmeer absichtlich in Seenot begeben. Das Video ist echt, für diese Behauptung gibt es aber keine Belege. 

von Alice Echtermann

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Am 22. Juni veröffentlichte die Grenzschutzagentur Frontex auf Twitter und zwei Tage später auch auf Youtube ein Video, das Menschenschmuggler im Mittelmeer zeigt. (Screenshot: CORRECTIV)
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Keine Belege. Das Video von Frontex ist echt, aber kein Beweis, dass Seenot „künstlich erzeugt“ wird oder sich Migranten absichtlich in Gefahr bringen. Zuständige Behörden deuten das eher als wirtschaftliche Strategie der Schmuggler.

Ein Video der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex wird als angeblicher Beweis genutzt, dass Migranten im Mittelmeer sich absichtlich in Seenot begeben, um gerettet zu werden. So wird auf der Webseite des Blogs Achse des Guten behauptet: „Hier wird künstlich ‘Seenot’ erzeugt.“ 

Das Drohnenvideo wurde Mitte Juni von Frontex auf Twitter hochgeladen. Es zeigt ein Fischerboot, das ein kleineres Boot hinter sich herzieht. Als es stoppt, steigen aus seinem Bauch Menschen in das kleine Boot um, anschließend fährt das Fischerboot weg. Auch auf Youtube ist das Video auf dem offiziellen Kanal von Frontex zu finden. 

Der Tweet von Frontex mit dem Video. (Screenshot: CORRECTIV)

Auch der Deutschland-Kurier greift die Behauptung von Achgut auf: „Ein Fischerboot schleppt ein Holzboot aufs offene Meer, die Migranten verstecken sich unter Deck. Auf hoher See steigen diese dann in das nicht seetüchtige Holzboot und erzeugen damit selbst ihre Seenot.“ Die Facebookseite „Wirsindnichtmehr“ verbreitete das Frontex-Video mit dem Kommentar „Das wird die Tagesschau nie zeigen, also zeigt es euren Freunden“. Der Beitrag wurde mehr als 500 Mal geteilt. Und auf der Seite des AfD-Politikers Jens Eckleben wurde es mehr als 800 Mal geteilt. 

Das Video wurde auf der Seite „Wirsindnichtmehr“ verbreitet. (Screenshot: CORRECTIV)

Das Video stammt tatsächlich von Frontex, wie die Grenzschutzagentur CORRECTIV auf Nachfrage per E-Mail bestätigt. Das Fischerboot sei vermutlich in Libyen gestartet und in Richtung der italienischen Insel Lampedusa unterwegs gewesen, teilt Frontex-Sprecher Krzysztof Borowski mit. Die Migranten in dem kleinen Holzboot seien in italienischen Gewässern von den Behörden aufgegriffen und sicher nach Lampedusa gebracht worden. Die mutmaßlichen Schmuggler seien verhaftet worden.

Frontex schrieb zu dem Video auf Twitter, man habe das Fischerboot mehrere Stunden beobachtet und dann die italienischen und maltesischen Behörden sowie die EU-Militäroperation Eunavfor-Med Sophia informiert. Dies sei ein klarer Fall eines „Mutterschiffs, genutzt von Kriminellen um eine große Gruppe Migranten über das Meer zu ihrem Ziel zu bringen, bevor sie in ein kleineres Boot umgeladen werden“, so Frontex weiter. 

Der weitere Verlauf der Tweets von Frontex zu dem Video. (Screenshot: CORRECTIV)

Frontex spricht nicht vom „absichtlichen Erzeugen von Seenot“

Davon, dass sich die Menschen absichtlich in Seenot begeben hätten, schreibt Frontex nichts, weder auf Twitter noch auf Youtube. Und auch auf Nachfrage von CORRECTIV trifft die Grenzschutzagentur diese Aussage nicht. Die konkrete Frage beantwortet Borowski nicht mit Ja oder Nein; stattdessen weicht er aus und verweist darauf, dass nur wenige Menschen in dem Boot Rettungswesten trugen und das Boot überfüllt gewesen sei. In diesem Fall hätten die italienischen Behörden aber keine Such- und Rettungsaktion eingeleitet.

Zudem schreibt er, das Vorgehen der mutmaßlichen Schmuggler sei mit wirtschaftlichen Interessen zu erklären: „Die Nutzung eines Mutterschiffs erlaubt es den Schmugglern, illegale Migranten mit einem stärkeren/schnelleren Boot zu ihrem Ziel zu bringen. Wenn sie die Migranten in einem kleineren Boot mit weniger Ausrüstung zurücklassen, ‘verlieren’ sie nur das kleinere, oft gefährlich überfüllte Boot und können die Prozedur mit dem größeren (viel teureren) Boot wiederholen.“ 

Auszug aus der Antwort des Frontex-Sprechers. (Screenshot: CORRECTIV)

Auf eine schriftliche Anfrage von CORRECTIV teilt zudem Charlie Yaxley, Sprecher des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) für Afrika, den Mittelmeerraum und Libyen, mit, die Flüchtlinge und Migranten hätten bei der Seetüchtigkeit der Boote „wenig mitzureden“. Das sei gänzlich in der Hand der Schmuggler und Schlepper. „Wir haben keine Belege dafür, dass sich Flüchtlinge und Migranten selbst in Gefahr bringen“, so Yaxley. „Und dafür gibt es auch keinen Grund. Wenn die Behörden von ihnen erfahren, werden sie gerettet, um Verluste zu verhindern. Die Rettung wird nicht verzögert, bis das Boot in Seenot ist, so läuft das nicht.“ 

Aufgegriffen werden laut Yaxley also nicht nur Boote in Seenot, sondern alle Boote mit Flüchtlingen und Migranten, von denen die Behörden erfahren. Deshalb hätten die Menschen keinen Grund, sich absichtlich in Gefahr zu bringen. 

Auszug aus der E-Mail des UNHCR-Sprechers Charlie Yaxley an CORRECTIV. (Screenshot: CORRECTIV)