Stationen einer Abtreibung
Der Weg zum Schwangerschaftsabbruch
„Plötzlich gehört dir dein Körper nicht mehr“
Triggerwarnung:
Der folgende Text beschäftigt sich mit negativen Erfahrungen bei Schwangerschaftsabbrüchen.
Die Schilderungen können belastend sein und negative Reaktionen auslösen.
Von Belén Ríos Falcón, Emilia Garbsch, Max Donheiser, Miriam Lenz, Mohamed Anwar, Pia Siber, Sophia Stahl
Jeden Tag brechen durchschnittlich rund 270 Menschen in Deutschland eine Schwangerschaft ab. Über den Weg, den sie bei einem Schwangerschaftsabbruch gehen müssen, wird kaum öffentlich gesprochen.
Nun ändert sich das: 1.505 Betroffene haben CORRECTIV.Lokal von ihrem Abbruch berichtet. In einer Umfrage und persönlichen Gesprächen teilen sie ihre Erlebnisse zu schlechter medizinischer Versorgung, Erniedrigung, bürokratischen Hürden, fehlenden Informationen, langen Wartezeiten und weiten Entfernungen. Ihre Geschichten geben einen bisher nicht dagewesenen Einblick zu den Schwierigkeiten. Und den Missständen, die die Betroffenen bei den einzelnen Schritten erleben.
Wir haben mit dem CrowdNewsroom, einer von CORRECTIV entwickelten Online-Plattform, Betroffene zu ihren Erfahrungen bei Schwangerschaftsabbrüchen befragt. Unser Fokus lag auf Betroffenen, die ihre Schwangerschaft nach der sogenannten Beratungsregel abgebrochen haben. Im Zeitraum zwischen dem 28. September 2021 und dem 30. November 2021 haben rund 1.500 Betroffene an der Umfrage teilgenommen.
Die Auswertung im folgenden Text bezieht sich nur auf die 1.297 Befragten, die mindestens einen Schwangerschaftsabbruch in den vergangenen 15 Jahren hatten, um so möglichst aktuelle Erfahrungen zu analysieren. Die Umfrage ist nicht repräsentativ. Sie gibt aber einen Überblick darüber, was Betroffene bei einem Schwangerschaftsabbruch in Deutschland erleben.
Die umstrittene Gesetzeslage
— Nordrhein-Westfalen, 2020
Viele Betroffene berichten uns von ähnlichen Erfahrungen. Die bürokratischen Hürden und die Kriminalisierung des Abbruchs belasteten sie stark: Sie fühlten sich wie „Verbrecher“, schreiben mehrere Frauen.
In Deutschland ist es grundsätzlich eine Straftat, eine Schwangerschaft abzubrechen. Dies gilt nicht, wenn das Leben der Schwangeren gefährdet ist. Oder wenn sie die Folge einer Vergewaltigung oder eines Missbrauchs ist. Man spricht in diesen Fällen von einer medizinischen bzw. kriminologischen Indikation des Schwangerschaftsabbruchs.
Man fühlt sich schlecht, stigmatisiert und wie ein Verbrecher. Man traut sich nicht, darüber zu reden. Das Thema wird totgeschwiegen.
— Bayern, 2021
Der Schwangerschaftsabbruch ohne diese beiden Indikationen ist rechtswidrig, allerdings unter bestimmten Voraussetzungen straffrei. Wenn sich das medizinische Personal und die schwangere Person an bestimmte Regeln halten, werden sie nicht bestraft.
Diese Bedingungen müssen erfüllt sein: Betroffene müssen sich vor dem Abbruch von einer staatlich anerkannten Stelle beraten lassen. Sie müssen mindestens drei Tage nach der abgeschlossenen Beratung warten, bis der Abbruch durchgeführt wird. Der Abbruch muss innerhalb der ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis stattfinden. Der technische Begriff für diesen Vorgang: Beratungsindikation.
Das Statistische Bundesamt erfasst Daten zu Schwangerschaftsabbrüchen. Demnach wurden 96.000 von rund 100.000 Abbrüchen im Jahr 2020 nach der Beratungsregel durchgeführt. Und trotzdem bleibt der Eingriff ein Tabu in der Gesellschaft. Betroffene müssen in der Regel alleine aufarbeiten, was sie erlebt haben.
Im Nachhinein finde ich die Gesetzeslage am belastendsten. Habe nie an meiner Entscheidung gezweifelt, auch wenn sie sehr schwierig war und ich etwas getrauert habe. Dass es allerdings eine Straftat sein soll, diese für mich in dieser Situation einzig richtige Entscheidung zu treffen, kann ich einfach nicht verstehen. Es ist verletzend, es macht mich klein, es macht mich wütend.
— Niedersachsen, 2021
Verbotene Informationen
— Hessen, 2020
In Deutschland ist es nach Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs verboten, für Schwangerschaftsabbrüche zu werben. Dabei ist der Begriff „Werbung“ irreführend: Bereits sachliche Information fällt darunter. Ein solcher Verstoß kann mit bis zu zwei Jahren Gefängnis geahndet werden.
Rund 240 Befragte berichten gegenüber CORRECTIV.Lokal, wie schwierig sie es fanden, sich zu informieren. Etwa darüber, wo sie einen Abbruch durchführen lassen können oder fundierte Informationen zu den unterschiedlichen Methoden zu erhalten. Viele seien während der Suche auf Internetseiten von Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern gestoßen.
— Sachsen, 2011
Abtreibungsgegnerinnen und -gegner dürfen irreführende Informationen über Abbrüche im Internet verbreiten. Eine Strafe müssen sie nicht befürchten. Während Ärzte und Ärztinnen, die sachlich informieren, strafrechtlich verfolgt werden.
Obwohl sich im Jahr 2019 die Gesetzeslage änderte, indem Kliniken, Ärztinnen und Ärzte öffentlich informieren dürfen, ob sie überhaupt Abbrüche durchführen. Informationen über die Methoden oder die Kosten gelten weiterhin als Werbung und bleiben verboten.
Mehr als 50 Betroffene berichten CORRECTIV.Lokal, wie sie auch noch nach 2019 Probleme hatten, im Internet unabhängige Informationen zu finden.
Beratungsgespräch
Kreuzverhör im Beratungsgespräch
— Sachsen, 2016
Wer eine Schwangerschaft nach der Beratungsregel abbricht, muss sich vorher bei einer staatlich anerkannten Stelle beraten lassen. Dort erhalten Betroffene nach dem Gespräch einen „Beratungsschein“. Erst mit diesem Dokument in der Hand ist ein Abbruch straffrei.
Rund jede fünfte betroffene Person erzählt in unserer Umfrage von Missständen bei der Beratung: Hundert berichten, sie seien im Gespräch gedrängt worden, die Schwangerschaft fortzuführen.
Ich musste drei Pflichtgespräche führen, zwei allein mit der Beratung, eins mit meinem Freund zusammen. Es war furchtbar. Ich war zu dieser Zeit schwer drogenabhängig. Der Mann war nicht der Richtige und mir war von Anfang an klar, dass ich dieses Kind nicht wollte. Die Beraterin hat massiv versucht mich zu beeinflussen, dass ich das Kind bekomme. Sie meinte, es würde positive Veränderungen in meinem Leben hervorrufen. Mir war aber völlig klar, dass ich mich in meinem Zustand keinem Kind zumuten konnte und wollte. Ich mich so lange dagegen gewehrt, bis sie nachgab. Mein Freund wollte das Kind. Jeder hatte eine Meinung dazu und wusste es besser. Ich habe mich für einen Abbruch entschieden, und es niemals bereut.
Die umständliche Kostenübernahme
Ein Schwangerschaftsabbruch kann bis zu 600 Euro kosten. Wer eine Schwangerschaft nach der Beratungsregel abbricht, muss den Eingriff selbst bezahlen. Außer das Einkommen ist sehr gering oder die Schwangere bezieht Sozialleistungen. In diesen Fällen übernehmen die Bundesländer die Kosten.
Jedoch passiert das nur, wenn eine Schwangere einen Antrag bei der Krankenkasse gestellt hat und diesen vor dem Abbruch rechtzeitig genehmigt bekommt. Das baut Druck auf, eine Schwangerschaft kann nur in den ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis straffrei abgebrochen werden.
Eine Praxis finden
Spießrutenlauf
Verschiedene Auswertungen zeigen, dass die Zahl der Praxen und Kliniken sinken, die Abbrüche durchführen. Betroffene können einen Abbruch oft nicht im örtlichen Krankenhaus oder in ihrer gewohnten gynäkologischen Praxis durchführen lassen. Selbst in größeren Städten kann es schwierig sein, eine Klinik oder Praxis für einen Abbruch zu finden.
Das Statistische Bundesamt beziffert für das Jahr 2003 noch rund 2.050 solcher Praxen und Kliniken. Mitte 2021 waren es nur noch 1.100.
CORRECTIV.Lokal, die Transparenzinitiative FragDenStaat und verschiedene Lokalmedien haben deutschlandweit alle öffentlichen Krankenhäuser mit gynäkologischer Station gefragt, ob sie Abbrüche durchführen. Das Ergebnis: Nur knapp 60 Prozent gibt an, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Wenn allerdings kein medizinischer oder kriminologischer Grund vorliegt sind es noch weniger: Nur zwei von fünf der angefragten Krankenhäuser führen auch Abbrüche nach der Beratungsindikation durch.
Die schlechte Informationslage erschwert die Suche zusätzlich. Als besonders unangenehm empfanden Schwangere, verschiedene Praxen abzutelefonieren. In jedem Gespräch mussten sie wiederholen, dass sie sich für eine Abtreibung entschieden haben und teilweise mit abwertenden Reaktionen umgehen.
Einen Arzt zu finden, war sehr schwer. Erstens war Urlaubszeit und von den drei Ärzten waren zwei im Urlaub. Der andere, der Zeit hatte, war so unfreundlich am Telefon, dass man gedacht hat, man macht einen Termin im Schlachthof aus. Die anderen Ärzte in der Region haben es in der siebten Schwangerschaftswoche nicht mehr mit Tabletten gemacht. Also musste ich fast 200 Kilometer in ein anderes Bundesland fahren, um einen Arzt zu finden, der den Eingriff macht.
Fahrt zum Abbruch
Fahrt zum Abbruch – Keine Hilfe vor Ort
Wenn die Versorgungslage in ihrer Region schlecht ist, müssen Betroffene teilweise lange Wege in Kauf nehmen. 13 Prozent der Teilnehmenden an unserer Umfrage mussten für ihren Schwangerschaftsabbruch mehr als 50 Kilometer zur Praxis oder Klinik fahren. Die Mehrheit gibt an, nicht weiter als zehn Kilometer unterwegs gewesen zu sein.
Besonders in Bayern ist der Weg oft lang. Nur 9 von 83 öffentlichen Krankenhäusern in Bayern bieten Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungsindikation an, wie eine Auswertung von CORRECTIV.Lokal, FragDenStaat und Lokalmedien zeigt. Die Folgen: Bei unserer Befragung gibt fast jede Dritte an, in Bayern mehr als 50 Kilometer gefahren zu sein.
— Bayern, 2020
Es war sehr schwierig, im Landkreis Emsland gibt es wohl keine Gynäkologen, die Abbrüche vornehmen. Telefonische Anfragen in den Praxen waren alle erfolglos, unangenehm und zum Teil inklusive Beleidigungen. Nach unzähligen Telefonaten hat mir jemand ins Telefon geflüstert, von Papenburg bis Osnabrück ist es nahezu unmöglich. Ich solle es in Emden (Ostfriesland) probieren. Am Ende ging es auch dort nur im Krankenhaus. Ich hatte Glück und konnte bei einer Verwandten übernachten. Ohne diese Möglichkeit weiß ich nicht, wie es hätte gehen sollen bei einer längeren Anfahrt.
Der Abbruch
Der Abbruch – Fließbandabfertigung und feindselige Behandlung
Der Arzt ist als „Metzger“ bekannt. Der Abbruch war schmerzhaft, laut und der Dämmerschlaf fast ohne Wirkung. Der Arzt hat beim Vorgespräch Witze über tote Babys gemacht und dass eine Patientin Bestatterin sei, falls ich nicht überlebe. Ich musste aber zu dieser Praxis, weil alle anderen im Umkreis keine Termine mehr hatten für sechs Wochen.
Es gibt zwei Möglichkeiten eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden: mit Medikamenten allein oder durch eine Operation. Ein medikamentöser Abbruch darf in Deutschland nur bis zur neunten Schwangerschaftswoche durchgeführt werden. Er dauert mehrere Tage, während ein operativer Eingriff ungefähr eine Viertelstunde dauert. Der operative Eingriff wird häufig unter Vollnarkose durchgeführt.
Nicht alle Praxen und Kliniken bieten unterschiedliche Methoden an. Ungewollt Schwangere haben dadurch nicht immer die Wahl, wie sie den Abbruch durchführen.
Grundsätzlich ist ein Schwangerschaftsabbruch bei guter medizinischer Versorgung, umfassender Aufklärung und geschultem Personal ein unproblematischer Eingriff. Dennoch berichten mehr als 350 Befragte berichten von einer schlechten medizinischen Versorgung.
Mehr als 30 Befragte erzählten von Massenabfertigung und dem Gefühl, wie eine Ware behandelt zu werden. Dutzende berichten von fehlender Privatsphäre während des Abbruchs, beispielsweise dem Aufwachen mit zehn Anderen in einem Raum.
Es gibt weitere Betroffene, die übergriffiges Verhalten durch Fachpersonal erlebten. Etwa jede Vierte schildert, dass medizinisches Personal sich unprofessionell Verhalten habe. Rund 50 Betroffene seien gedemütigt und beleidigt worden.
Rund 30 Betroffenen wurde bei körperlichen Beschwerden nach dem Abbruch nicht geholfen – sie wurden „angeschnauzt“ und so schnell wie möglich entlassen. Einige Betroffene erzählen, dass ihnen Schmerzmittel verweigert worden seien.
— Baden-Württemberg, 2009
Nachversorgung
Nachversorgung – Alleingelassen
In dem Krankenhaus, in dem ich meinen Abbruch hatte, habe ich keinen Termin für eine Nachuntersuchung bekommen. Ich habe mich dann wochenlang durch Praxen telefoniert – ohne Erfolg. Ich hatte mehrere Wochen schlimme Schmerzen. Erst durch die Hilfe meiner Krankenkasse habe ich einen Termin in einer anderen Stadt bekommen. Der Gynäkologe dort sagte, dass er mir viel Leid hätte ersparen können, wenn ich früher eine Nachuntersuchung gehabt hätte. Mein ganzer Uterus war entzündet.
Dramatische Folgen
Verlorenes Vertrauen – Die Folgen
Einige Betroffene berichten uns davon, wie sie die Behandlung während des Abbruchs traumatisiert habe. Und dass sie Gynäkologinnen und Gynäkologen kaum oder gar nicht mehr vertrauen würden. Sie gehen bei Beschwerden nicht mehr in die Praxis und nehmen keine Vorsorgetermine mehr wahr. Weil die Angst zu groß ist, noch einmal so abwertend behandelt zu werden.
Autorinnen und Autoren: Max Donheiser, Emilia Garbsch, Miriam Lenz, Pia Siber, Sophia Stahl
Redaktionelle Mitarbeit: Hatice Kahraman, Jonathan Sachse
Faktencheck: Katarina Huth
Illustration: Mohamed Anwar
Design: Belén Ríos Falcón
Animation: Mustafa Nada