Die reduzierte Emanzipation der Mafia
Lange galt die Mafia als rein männerdominierte Parallelgesellschaft. Doch im letzten Jahrzehnt tauchen auch immer mehr Frauen an den Spitzen der Clans auf. Mathilde Schwabeneder, Korrespondentin des ORF in Rom, hat sich ihrer Biografien angenommen. Ihr Buch "Die Stunde der Patinnen" ist diesen Monat erschienen. Ein Gespräch über Emanzipation in der Mafia, Kronzeuginnen und moralische Verantwortung.
Frauen in der Mafia geraten immer mehr in die Schlagzeilen. Allein im letzten Monat wurden bei vier Frauen Besitz und Güter beschlagnahmt. Die Medien neigen dazu, von einer Emanzipation innerhalb der Mafia zu sprechen. Wie stehen Sie zu diesem Begriff?
Mathilde Schwabeneder: Der Begriff Emanzipation, so wie wir ihn in Mitteleuropa verstehen, wird hier überstrapaziert. Man muss von einer graduellen Entwicklung sprechen. Dass Frauen in dieser sogenannten ehrenwerten Gesellschaft überhaupt eine Befehlsfunktion haben und auf den Platz eines Mannes gerückt sind, obwohl sie ursprünglich eine ganz andere Rolle innehatten, nämlich die der Erzieher, die das Wissen und die Werte der Mafia an die Kinder weitergeben, ist neu. Aber das Wort Emanzipation ist zuviel. Das ist am Beispiel der Patin Nunzia Graviano zu sehen.
Nunzia Graviano übernimmt nach der Inhaftierung ihrer Brüder die Führung eines Cosa Nostra Clans. Sie ist bekannt für ihre zeitgemäße Vorstellung einer wirtschaftlichen Mafia und verlegte die organisatorische Zentrale ihres Clans nach Südfrankreich. Von dort agierte sie als Managerin.
Ja. Graviano war mächtig und selbstständig. Doch als sie sich dann in einen Syrer verliebte, verbot ihre Familie die Beziehung und sie fügte sich. Sobald es bei diesen Frauen darum geht über das eigene Leben zu entscheiden, wen heirate ich, wie lebe ich, da zieht noch immer das alte Muster. Es handelt sich um eine reduzierte Emanzipation.
Was mich hingegen schon sehr beeindruckt, ist, wenn sich Frauen aus freien Stücken dazu entscheiden mit der Polizei zusammen zu arbeiten. Es gibt noch nicht sehr viele Frauen, die diesen Schritt gewagt haben. Bis dato sind es deutlich mehr Männer. Es gehört sehr viel Mut dazu, es ist eine harte Entscheidung, die kein Zurück ermöglicht. Die Frauen müssen ihr Leben lang die Rache der Mafia fürchten, viele gehen an der Einsamkeit des Zeugenschutzprogramms zugrunde. Ich würde sagen, das können nur wirklich freie und emanzipierte Frauen sein.
Frauen als Kronzeuginnen sind aber ein recht neues Phänomen, oder?
Noch vor 20 Jahren, als es die ersten Kronzeugen gab, haben sich die Frauen oft gegen ihre Männer aufgelehnt, wenn diese mit der Polizei kooperierten. Sie haben sie öffentlich verstossen. Vielleicht zum eigenen Schutz.
Nun gibt es mittlerweile immer mehr weibliche Kronzeugen. Gerade in jüngster Zeit rufen Mafiaexperten dazu auf, dass Frauen dem Beispiel anderer Frauen folgen sollen. Ich denke, wenn Frauen aussteigen, das auch das effizienteste Mittel ist um der Mafia näher zu kommen und sie zu entmachten. Weil diese Frauen sind immer Trägerinnen des Wissens. Sie kennen die handelnden Personen, haben Einblicke in die finanzielle Situation. Sie sind Geheimnisträgerinnen. Und daher unverzichtbar für den Erhalt des Systems.
Fast alle Frauen in Ihrem Buch sind Patinnen geworden, nachdem ihre Männer oder Brüder im Gefängnis gelandet sind. Die Frauen waren sozusagen die Platzhalter der Männer. Ist es für sie schwer, sich als Autoritätspersonen durchzusetzen?
Nein. Selbst in Sizilien, wo die Gesellschaft sehr konservativ ist, habe ich am Beispiel von Giusy Vitale gesehen, dass es gar kein Problem ist, als Regentin anerkannt zu werden. Selbst von anderen Clans. Aber es gibt auch Grenzen, wie im Fall der Neapolitanerin Antonella Madonna. Sie durfte alles tun, hat mit größter Härte ihren Mann vertreten, doch als sie ihn dann betrogen hat, war es vorbei mit der großen Freiheit. Eine interessante Werteskala finden sie nicht? Du darfst erpressen, du darfst töten, aber deinen Mann darfst du als Patin nicht betrügen.
Inwiefern unterscheiden sich die jeweiligen Mafien im Umgang mit ihren Frauen?
Das kulturelle Umfeld prägt diese Organisationen. Frauen sind in Kampanien selbstständiger. Sie werden selbstständig erzogen, haben ein eigenes Verständnis vom Leben. Das drückt sich auch innerhalb der Camorra aus. Sie haben öfter Befehlsgewalten und auch mehr sexuelle Freiheit. Das ist der Unterschied zu Sizilien also zur Cosa Nostra und erst recht zu den Frauen in der Ndrangheta, die noch viel viel rigider ist. Dem sozialen Druck entkommt man dort kaum. Es erinnert mich an das Spitzelsystem in Diktaturen, wo jeder den anderen belauscht, jeder den anderen verrät.
Kann sich eine Frau überhaupt der Mafia entziehen?
Wenn man vergleicht wie junge Frauen zum Beispiel in Sizilien aufwachsen im Vergleich zu einer jungen Frau in Deutschland, sind die Unterschiede eklatant. Es macht betroffen, sich vorzustellen, dass die Mädchen dort schon mit 13/14 Jahren versprochen und verlobt werden, um dann wie Gefangene im Haus gehalten zu werden. Ein Mädchen kann sich dieser Parallelwelt fast nicht entziehen. Jede Frau, die versucht, sich daraus zu befreien, vollbringt einen unglaublichen Willensakt. Auf der anderen Seite muss man natürlich auch sagen, dass nachdem sich unsere Welt sehr verändert hat.
Facebook, Skype oder andere soziale Netzwerke ermöglichen einen Ausblick in die andere Welt zu bekommen. Aber das kann tödlich sein.
Finden Sie dann, dass diese Frauen moralisch nicht für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können?
Ich sehe das zwiegespalten, denn ich glaube schon, dass diese Frauen in die Verantwortung genommen werden müssen. Sie erziehen ja ihre Kinder im Geiste der Mafien und formen damit eine Generation. Im Grund genommen wäre sonst niemand in der Mafia moralisch verantwortlich für seine Taten. Männer – wie Frauen — wachsen unter diesen Bedingungen auf, werden von klein auf durch die Werte der Eltern geprägt. Ein Junge wird sich genauso schwer tun da auszusteigen.
Wenn man wo ansetzen kann um die Mafia zu bekämpfen dann beim Geld. Man muss sie wirtschaftlich treffen, da die Mafien mehr denn je zu Wirtschaftsholdings geworden sind. Andererseits muss man in die Schulen gehen, um das Bewusstsein in der Gesellschaft zu schärfen. Nicht nur bei den Kindern der Superbosse, sondern auch bei Kindern von Mitläufern muss das Bewusstsein für diese Parallelwelt sensibilisiert werden, sowie in der Gesellschaft allgemein. Es ist auch ein kulturelles Problem.
Zurück zu den Patinnen: Wenn ihre inhaftierten Männer wieder freikommen, müssen sie dann ihre Macht wieder abgeben und im Hintergrund verschwinden?
Da kann ich keine eindeutige Antwort geben. Bei den Frauen, die ich in meinem Buch beschrieben habe, ist das nicht der Fall. Die Männer sitzen ja meistens, wenn es große Fische sind, lange ein und haben mehrfache lebenslängliche Haftstrafen bekommen. Bei dem heutigen Stand der Dinge müssten die Frauen wohl wieder in die Reihen einrücken.
Die Mafien werden, wie Sie selbst vorhin gesagt haben, immer mehr zu Wirtschaftsholdings. In Ihrem Buch sticht in diesem Zusammenhang eine Frau besonders hervor: Cinzia Lipari. Die Tochter des ranghohen Cosa-Nostra-Mafiosos Giuseppe Lipari ist Anwältin und gilt als solche als enge Mitarbeiterin ihres Vater, zuständig vor allem Verteilung und Verwaltung der Erträge des Oberbosses Provenzano. Sie nennen sie einen colletto bianco, einen weißen Kragen, weil sie eine Täterin ist, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Akademisch, klug, scheinbar aus der Legalität heraus für die Mafia agierend: Könnte Lipari Symbol einer neuen Generation von Mafiafrauen sein?
Ja. Cinzia Lipari hat erkannt: Die Mafien wären nicht mehr möglich, gäbe es nicht die Mitarbeit von Steuerberatern, Rechtsanwälten und Ärzten und und und. Auch Nunzia Graviano, auf die wir schon zu sprechen gekommen sind, ist eine Frau dieser neuen Generation. Sie hatte ihre eigene Vorstellung von der Cosa Nostra und hat versucht diese umzusetzen, indem sie ins Ausland gegangen ist und den Clan nach aussen hin modernisiert hat. Sie war gebildet, stets aktuell über Börsen und Finanzmärkte informiert, eine richtige Managerin. Diese beiden Frauen zeigen ein ganz anderes Bild, als das der Mafiafrau vom Land, die nicht aus ihrem Dorf rauskommt und dadurch einen eingeschränkten Horizont hat.
Werden Lipari und Graviano Ausnahmen bleiben oder sehen Sie in ihnen die Zukunft der Frauen innerhalb der Mafia?
Ich glaube, sie sind keine Ausnahme. Die nächsten Generationen studieren bereits, oder haben es schon. Ich denke in diesem Wandel der Frauen innerhalb der Mafia spiegelt sich das große Problem bei ihrer Bekämpfung wieder: Die Mafien sind wahnsinnig flexibel und passen sich an die gesellschaftspolitischen Veränderungen an. Sie sind keine regiden Konstrukte, die von der Realität einfach überrollt werden könnten. Deshalb gefällt mir der Begriff der liquiden Mafia sehr gut. Wie eine Flüssigkeit dringen sie überall ein. Und gleichzeitig verfügen sie über enorme Geldmengen.