Was an Behauptungen zum hohen Anteil ungültiger Stimmen in Thüringen dran ist
Im Netz kursiert eine wilde Theorie: Es gebe eine Anordnung, Stimmen für die AfD für ungültig zu erklären, wenn das Kreuz über den Rand gemalt wurde. Das erkläre den hohen Anteil ungültiger Stimmen bei einer vorangegangenen Wahl. Doch für keine der Behauptungen gibt es Belege.
Kurz vor der Europawahl am Sonntag, 9. Juni 2024, kursierte auf Facebook und Instagram ein Text, in dem vor einem angeblichen Wahlbetrug gewarnt wird. Man habe von einer „Anordnung“ gehört, laut der Stimmen für die AfD für ungültig erklärt werden sollten, wenn das Kreuz „auch nur ansatzweise außerhalb des Feldes gesetzt ist“, heißt es. Dies erkläre die „zum Teil 20 Prozent ungültigen Stimmen in Teilen Thüringens“.
Erst kürzlich haben wir in einem Faktencheck aufgeklärt: Das Kreuz darf ruhig über den Rand des Kästchens oder Kreises reichen, die Stimme ist dann gültig. Wichtig ist, dass der Wählerwille eindeutig erkennbar ist.
Für die Behauptung, Wahlleiter würden angewiesen, AfD-Stimmen für ungültig zu erklären, wenn die Kreuze den Kreis überschrieben, fanden wir keine Belege. Auf Nachfrage dementiert die Pressestelle der Bundeswahlleiterin die Behauptung: „Eine solche ‘Anweisung’ wurde und wird nicht an die Wahlvorstände erteilt.“
16 Prozent ungültige Stimmen bei Bürgermeisterwahl in Erfurt nicht ungewöhnlich
Für die Aussage, in Thüringen habe es ungewöhnlich viele ungültige Stimmen gegeben, gibt es keine Grundlage. Die Behauptung bezieht sich vermutlich auf Kommunalwahlen in Thüringen, die schon am 26. Mai 2024 stattfanden.
Kurz danach kursierten Behauptungen zu der angeblich hohen Anzahl ungültiger Stimmen, zum Beispiel am 27. Mai auf X. Der Post zeigte eine Tabelle mit Wahlergebnissen aus Thüringen und wurde unter anderem von Politikern wie Albert Weiler von der Werteunion geteilt und von Frauke Petry kommentiert. Hervorgehoben werden die Stimmen in Thüringens Hauptstadt Erfurt, von denen laut der Tabelle rund 16 Prozent ungültig waren. Dieselbe Tabelle wurde am 28. Mai auch in einem Video auf Facebook verbreitet.
Woher stammen die Zahlen in der Tabelle, die auf X und Facebook verbreitet wird?
Die Tabelle zeigt die Ergebnisse der Ortsteil- beziehungsweise Ortschaftsbürgermeisterwahlen in Thüringen am 26. Mai 2024. Hier gab es in Erfurt tatsächlich 6.848 ungültige Stimmen und 36.229 gültige Stimmen (rund 16 Prozent ungültig). Das scheint jedoch entgegen der Darstellung auf Facebook und Instagram nicht sonderlich ungewöhnlich zu sein.
Bei den Ortschaftsbürgermeisterwahlen 2019 in Erfurt gab es 4.679 ungültigen und 37.981 gültige Stimmen. Das entspricht 11 Prozent ungültigen Stimmen.
In einem Faktencheck hat die Tagesschau bereits den Landeswahlleiter Holger Poppenhäger hierzu befragt. Er vermutet folgenden Hintergrund: Es stehe bei vielen Ortschaftsbürgermeisterwahlen nur eine einzige Person auf dem Stimmzettel zur Wahl. Es gebe keine Option, gegen diese Person zu stimmen, deshalb würden viele Menschen ihren Stimmzettel unausgefüllt abgeben – was die Stimme ungültig macht. Denn der Wählerwille sei bei einem leeren Stimmzettel nicht eindeutig erkennbar. Richtig wäre es in einem solchen Fall, den Namen des unerwünschten Kandidaten durchzustreichen und einen oder mehrere andere Namen auf den Stimmzettel zu schreiben. So steht es im Landeswahlgesetz Thüringens.
Ein hoher Anteil ungültiger Stimmen sei bei Ortsteilbürgermeisterwahlen nicht ungewöhnlich, schrieb auch der MDR. Es gebe mehrere Fallstricke. Die Person, deren Name auf den Stimmzettel geschrieben wurde, müsse zum Beispiel eindeutig identifizierbar sein – für den Fall, dass mehrere Personen mit demselben Namen in einer Stadt leben, müsse der Beruf noch dazu geschrieben werden. Es erscheint plausibel, dass diese Regeln nicht allen Wählenden bekannt sind.
Landesweite Ergebnisse der Kommunalwahlen im Mai zeigen ungültige Stimmen zwischen zwei und neun Prozent
Woher die konkrete Angabe von rund 20 Prozent kommt und auf welchen Zeitpunkt oder welche Wahl sie sich beziehen soll, ist unklar.
Ein Blick auf die Ergebnisse vom 26. Mai 2024 zeigt jedoch keine Hinweise auf ungültige Stimmanteilen in der behaupteten Höhe:
- Bei den Kreistagswahlen und Stadtratswahlen, die ebenfalls am 26. Mai 2024 stattfanden, war die Anzahl der ungültigen Stimmen nicht so hoch: Es gab in ganz Thüringen 37.021 ungültige und 1.047.908 gültige Stimmabgaben. Somit lag der Anteil der ungültigen Stimmen bei rund 3,4 Prozent. In der Stadt Erfurt waren laut Wahlstatistik 3.251 Stimmabgaben ungültig und 97.279 gültig. Auch hier ist der Anteil der ungültigen Stimmen rund 3,2 Prozent.
- Im Rahmen der Wahl der Landräte und Oberbürgermeister der kreisfreien Städte gab es 903.291 gültige Stimmen, 19.103 ungültige, sprich rund 2,1 Prozent ungültige Stimmen.
- Bei der Gemeinderatswahl gab es 1.048.057 gültige Stimmabgaben und 37.048 ungültige Stimmabgaben – macht einen Anteil von rund 3,4 Prozent.
- Bei den Bürgermeisterwahlen gab es 382.823 gültige Stimmen und 16.650 ungültige Stimmen – so ergibt sich ein Anteil von rund 4,2 Prozent ungültigen Stimmen.
- Bei den Ortsteil- und Ortschaftsbürgermeisterwahlen gab es 420.670 gültige, 40.799 ungültige Stimmen. Der Anteil ungültiger Stimmen lag also bei rund 8,8 Prozent.
Bei der Europawahl und den Stichwahlen am 9. Juni gab es keine ungewöhnlich hohen Anteile ungültiger Stimmen
Bei der EU-Wahl am 9. Juni waren übrigens laut dem vorläufigen Ergebnis nur rund 0,8 Prozent ungültig (Stand 14. Juni 2024, 13:00 Uhr).
Gleichzeitig mit der Europawahl am 9. Juni fanden auch Stichwahlen einiger Kommunalwahlen statt. Wir haben uns auch diese Ergebnisse angesehen:
- Im Rahmen der Bürgermeisterwahlen gab es in 12 Gemeinden eine Stichwahl. 83.668 gültige Stimmen wurden hier insgesamt abgegeben, 3.388 ungültige – das macht einen Anteil von rund 3,9 Prozent ungültigen Stimmen.
- Bei den Ortsteil- und Oberbürgermeisterwahlen gab es Stichwahlen in 93 Ortsteilen. Insgesamt gab es hier 73.484 gültige und 2.892 ungültige Stimmen – der Anteil ungültiger Stimmen lag hier also bei rund 3,8 Prozent.
- Bei der Stichwahl der Landräte und Oberbürgermeister der kreisfreien Städte gab es Stichwahlen in 15 Landkreisen bzw. kreisfreien Städten. Auf 760.054 gültige kamen 15.905 ungültige Stimmen – das entspricht einem Anteil von rund zwei Prozent.
Alle Faktenchecks zur Europawahl finden Sie hier.
Mitarbeit: Uschi Jonas
Redigatur: Matthias Bau, Gabriele Scherndl