Der Mann hinter der ‚Ndrangheta-Zelle in Engen
Seit Jahren hat die italienische 'Ndrangheta Zellen in Singen, Engen und im Schweizer Frauenfeld. Neue Erkenntnisse der italienischen Polizei zeigen, wer hinter den deutschen Zellen stehen könnte: Achille P. aus Engen.
Es ist der Morgen des 26. Juli 2014. In einer Privatwohnung im Schweizer Frauenfeld warten Antonio N. und Achille P. Um sechs vor elf klingelt ein Handy. „Der erwartete Gast wird nun kommen“, sagt eine Stimme auf Italienisch. Der erwartete Gast heißt Giuseppe L. R., Boss des Ndrangheta-Clans aus Giffone. Er ist aus Kalabrien in die Schweiz gereist, weil er ein persönliches Anliegen hat: Die Hochzeit seiner Tochter Giusi. Vier Einladungen hat er zu vergeben.
Die Hochzeit eines Ndrangheta-Mitglieds ist nicht nur eine Feier, sie ist auch eine Möglichkeit für konspirative Treffen. Die wichtigsten Clan-Mitglieder werden eingeladen. Man isst, trinkt, bespricht Geschäfte. Die Ehre einer Einladung gebührt an jenem 26. Juli 2014 Antonio N., in dessen Wohnung das Treffen stattfindet, Brunello N., der Mann am Telefon und einem weiterer Frauenfelder, Raffaele A., der bei diesem Treffen nicht anwesend ist. Die letzte Einladung ist für einen Mann aus Deutschland gedacht: Achille P., der für dieses Treffen aus dem deutschen Engen nahe der Schweizer Grenze angereist ist.
Die Hochzeit findet einen Monat später, am 21. August in Marina di Gioisa Ionica, einem Badeort in Kalabrien, statt. Nachts um 2.20 Uhr stürmen italienische Ermittler das Hotel Sabbia D’Oro. Sie nehmen Antonio N. und Raffaele A. fest. Brunello N. musste die Hochzeit krankheitsbedingt absagen, auch Achille P. ist laut italienischer Polizei nicht angereist.
Es ist ein großer Schlag für die italienischen Ermittler. Sie werfen Antonio N. und Raffaele A. Mitgliedschaft in der Mafia vor. Sie seien leitende Mitglieder der Schweizer Ndrangheta-Zelle in Frauenfeld, führen Drogengeschäfte mit Kokain und Heroin, pflegen Kontakte nach Kalabrien und Deutschland. Seit Jahren wurden sie abgehört, die Polizei filmte sogar eines ihrer Treffen in einem Boccia-Club von Wängi TG.
Doch schnell tut sich auch wieder Frustration bei den italienischen Ermittlern auf. Denn Antonio N. und Raffaele A. sind nur die Spitze die Frauenfelder Zelle. Die Ermittler haben 16 weitere Zellen-Mitglieder identifiziert, werfen auch ihnen Korruption, Erpressung, Drogen- und Waffenhandel vor. Sie organisieren sich nach kalabrischem Vorbild. Die Zelle ist aufgeteilt in eine societá maggiore, einem inneren Zirkel zu dem acht ältere Mitglieder mit Befehlsgewalt gehören, und in eine societá minore, mit jüngeren und befehlsnehmenden Personen.
Sie alle unterstehen den Anweisungen von Giuseppe Antonio P., dem Boss des Ndrangheta-Clans aus Fabrizia. Er überbringt den Frauenfeldern die Anordnungen vom Boss der Bosse der Ndrangheta: Domenico Oppedisano. Der 84-jährige wurde 2009 zum Anführer der Ndrangheta gewählt, seit 2010 sitzt er in Haft. Die Frauenfelder Mafiosi laufen dahingegen weiter frei herum.
Grund ist das gleiche Problem, das auch in Deutschland herrscht. Zwar gibt es in den Strafgesetzbüchern der beiden Länder Paragrafen, die die Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation unter Strafe stellen, doch diese Paragrafen sind längst nicht so weit gefasst wie der in Italien. „In Deutschland wird der Tatbestand Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung anders ausgelegt und bewertet“, sagt Sigurd Jäger vom LKA Baden-Württemberg. „Wir müssen immer die Unterordnung des Einzelnen unter den Willen der kriminellen Vereinigung beweisen und das ist meist sehr sehr schwer.“ Den Ermittlern bleibt oft nicht anderes übrig, als darauf zu warten, dass die Mafiosi nach Italien reisen. Dort können sie dann festgenommen werden.
Als Anfang Dezember dort Giuseppe L. R. verhaftet wird, der als Verbindungsmann zwischen den Zellen in Deutschland, der Schweiz und Kalabrien bekannt ist, rückt bei den italienischen Mafia-Jägern auch Deutschland wieder in den Fokus der Ermittlungen. Ihre Aufmerksamkeit gilt insbesondere einem Mann, der sich auf deutschem Boden aufhält: Achille P., jener Mann, der ebenfalls von La Rosa zur Hochzeit seiner Tochter eingeladen wurde, jedoch nicht erschien. Die italienischen Ermittler sehen in ihm ein führendes Ndrangheta-Mitglied auf deutschem Boden, doch die Beweise reichen bislang nicht für einen Haftbefehl aus. Man wolle weiter ermitteln, heißt es.
Aber wer ist dieser Achille P.? Was wissen die Ermittler über ihn? Wer gehört zu seinem Umfeld? Der deutschen Öffentlichkeit ist er bisher unbekannt, und auch in den italienischen Medien blieb er unerwähnt.
CORRECTIV liegen die Ermittlungsakten zur Festnahme von Giuseppe L. R., sowie jene der Operationen Crimine und Crimine 2 vor, bei denen auf deutschem Boden Mafiosi abgehört wurden. Auch wenn Achille nie selbst observiert wurde, lässt sich aus diesen Akten einiges über seine Rolle lesen.
Zum ersten Mal taucht sein Name 2009 auf, als das Landeskriminalamt im Rahmen der Operation „Santa“ Telefongespräche von Mafiosi in Baden Württemberg mitschneidet. Die deutschen Kriminalbeamten registrieren 2009 Ndrangheta Zellen in Singen, Radolfzell, Engen, Rilasingen, Ravensburg und Frankfurt am Main. Die bedeutendste ist jene in Singen, damals geleitet von Bruno N., der 2010 verhaftet wird. Bruno N. erhält seine Anweisungen direkt vom Boss der Bosse Domenico Oppedisano, das LKA dokumentiert unzählige Telefongespräche der Beiden.
Die Stimmung zwischen den deutschen Zellen ist zu dieser Zeit angespannt. Bruno N. befürchtet, ein Mafioso aus der Schweiz könne versuchen, in Deutschland zu expandieren. Er hört Gerüchte, dass die Mitglieder der anderen Zellen sich mit ihm treffen. In diesem Zusammenhang taucht auch Achille auf. Bruno N. ruft am 3.7.2009 bei Oppedisano an und erzählt ihm entrüstet, dass er gehört habe, Achille wäre in die Schweiz gefahren und habe dort gemeinsam mit den Mafiosi in einem Restaurant gegessen. Gegeben habe es Lamm. Bruno N. sieht darin ein Zeichen, dass Achille die mögliche Expansion der Schweizer unterstützen würde.
Die italienischen Ermittler identifizieren Achille später, er wurde in Kalabrien, dem Herzen der ‚Ndrangheta, geboren und wohnt heute in Engen, eine 10.000-Einwohner-Stadt in der Nähe im Landkreis Konstanz, Baden-Württemberg.
Aus einem abgehörten Telefonat zwischen zwei anderen Mafiosi aus Brunos N.s Umfeld geht hervor, dass Achille in Engen seine eigene Mafiagruppe leitet. Interessant ist, dass gesagt wird, Achilles Gruppe sei „liberata dal crimine“, also befreit von den Anweisungen des Crimine, womit Oppedisano gemeint ist.
Auch lassen sich aus den abgehörten Gesprächen der Singener drei Mitglieder aus Achilles Gruppe identifizieren. Als erstes wird ein gewisser Gigi C. erwähnt. Dieser habe sich mit Achille gestritten, wolle nun dessen Gruppe verlassen und Teil der Zelle in Singen werden. Die Singener beraten darüber. Außerdem werden Sohn und Schwiegersohn von Achille erwähnt. Auch sie sollen aktive Mitglieder sein.
Nachdem Bruno N. 2010 im Rahmen der Operation Crimine verhaftet wird, werden 2011 fünf weitere Personen aus seinem Umfeld festgenommen. Der Name Achille taucht nun in Gesprächen der Frauenfelder Zelle auf, deren Mitglieder in Kontakt zu ihm stehen. So sprechen Antonio N., Brunello N. und Raffaele A. darüber, wie sie gemeinsam mit Achille mit dem Auto nach Frankfurt gefahren seien, um dort jemanden zu besuchen.
Außerdem scheint es, als wäre Achille zum führenden Boss von Singen avanciert, denn Antonio N. beschwert sich darüber, Achille solle sich nicht in die Angelegenheiten in Frauenfeld einmischen, lieber solle er sich um sein Singen kümmern.
Achille unterhält stetigen Kontakt nach Italien. In den Ermittlungsakten zu Giuseppe L. R.s Verhaftung werden neben diesem, zwei weitere Männer als kalabrische Kontaktpersonen von Achille genannt. Es ist zum einen Antonio M., der gemeinsam mit Giuseppe L. R. Anfang Dezember festgenommen wurde, Michelangelo L. R. ist der andere.
Auch, dass Achille als einziger Mafioso aus Deutschland zu dem Treffen mit Giuseppe L. R. in die Schweiz fährt und eine Einladung zur Hochzeit erhält, deutet darauf hin, dass er eine wichtige Rolle innerhalb der deutschen Ndrangheta-Ableger haben muss.
In Deutschland scheint Achille P. unbehelligt leben zu können. Sigurd Jäger vom Landeskriminalamt in Baden-Württemberg sagt, dass das LKA zur Zeit keine Ermittlungen rund um die Zelle in Singen führt. Die Akten aus Italien liegen den deutschen Kriminalbeamten zwar vor, außerdem wisse man von circa 180 Personen, die im Zusammenhang mit der italienischen Mafia stehen und in Baden-Württemberg leben, doch es fehle ein Tatbestand, um ermitteln zu dürfen.
CORRECTIV hat Achille kontaktiert, um ihn mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Er entschied sich, nicht darauf zu reagieren.
von Lena Niethammer, Matteo Civillini, Cecilia Anesi und Giulio Rubino