Video der Tagesschau zum Angriff in Solingen verkürzt
Die Aussage eines Tagesschau-Reporters über den Anschlag in Solingen wurde irreführend verkürzt: Er sagte nicht, dass er von einem rechtsextremen Motiv ausgehe, sondern dass die Motivlage unklar ist.
„Will dieser Reporter uns komplett verarschen?“, fragt ein Account auf X. Er teilt das Video eines Tagesschau-Reporters, der über den mutmaßlich islamistischen Anschlag in Solingen am 23. August 2024 spricht. Der sagt darin: „War das ein Anschlag, den man verübt hat, weil man beispielsweise vielleicht gegen Ausländer ist? Also da gibt es diverse Möglichkeiten, die dahinter stehen.“
Zahlreiche Nutzerinnen und Nutzer, die das acht Sekunden lange Video teilen – auch auf Telegram, Facebook und Tiktok –, unterstellen der Tagesschau, für die Sendung sei die Tat am Morgen danach „eher ein rechtsextremer Anschlag“ gewesen. Andere behaupten noch direkter: Die Tagesschau erfinde ein rechtsextremes Motiv. Hunderttausende sahen Beiträge wie diese. Dem Video fehlt entscheidender Kontext, es wurde irreführend geschnitten.
Das geschnittene Video teilten auch Dennis Hohloch, AfD-Abgeordneter in Brandenburg, und der Anwalt Markus Haintz, der schon in der Corona-Pandemie mit Desinformation auffiel.
In der vollständigen Version des Videos sagt der Reporter, es kämen verschiedene Tatmotive in Frage
Die Aufnahme stammt aus einem Tagesschau-Beitrag vom 24. August, dieser ist in voller Länge auf Youtube zu finden. Darin wird mehrmals zu einem WDR-Reporter vor Ort, Rupert Wiederwald, geschaltet. In der Ecke wird die Uhrzeit eingeblendet.
Um 8.39 Uhr spricht Wiederwald über die Motivlage des Täters (Minute 39:17 im Youtube-Video) – darin fällt auch jener Satz, der in der gekürzten Version zu hören ist. Was jedoch fehlt, ist, dass Wiederwald nicht nur über ein denkbares ausländerfeindliches Motiv spricht.
In voller Länge sagt er: „Von einem Terroranschlag kann man schlicht und ergreifend noch nicht sprechen, weil es einfach keine Erkenntnisse zur Motivlage gibt. Also war das ein Anschlag, den man verübt hat, um beispielsweise islamistischen Terror zu vollbringen? Oder war das ein Anschlag, den man verübt hat, weil man beispielsweise vielleicht gegen Ausländer ist?“ Zu den Opfern sagt er außerdem, es sehe aktuell so aus, als habe der Täter „mehr oder weniger wahllos“ auf sie eingestochen.
Auch andere Medien berichteten Samstagfrüh über eine unklare Motivlage in Solingen
Zu dem Zeitpunkt war also schlicht noch nicht klar, was den Täter antrieb oder wer er ist. Zwar thematisiert die Moderatorin im Beitrag, dass die Bild von einem „arabisch aussehenden Täter“ berichtet habe. Wiederwald sagt dazu, dass das kein gesicherter Hinweis sei (Minute 34:38).
Auch der Blick auf Live-Ticker von Medien an diesem Tag zeigt, dass zu diesem Zeitpunkt noch Vieles zum Angriff unklar war. So schrieb etwa der Spiegel um 8 Uhr, es gebe noch keine gesicherten Informationen zum Aussehen des flüchtigen Täters. Im Live-Ticker der Tagesschau hieße es um 10.17 Uhr: Ein Polizeigewerkschafter betone, dass es noch keine konkreten Erkenntnisse zum Täter gebe, kursierende Personenbeschreibungen seien widersprüchlich.
Erst ab Mittag stand in mehreren Medien ein Terror-Motiv im Raum: Um 12.22 Uhr sprach SPD-Politiker Dirk Wiese laut Tagesschau von einem „wahrscheinlichen Terrorangriff“. Bild berichtete um 15.16 Uhr, dass Ermittler ein Terror-Motiv nicht ausschließen würden. Nach 20 Uhr dann berichteten Spiegel und Bild, dass der sogenannte Islamische Staat (IS), eine islamistische Terrororganisation, den Anschlag für sich reklamierte.
Fest steht also: Zu dem Zeitpunkt, als der Reporter in der Tagesschau von mehreren denkbaren Motiven spricht, war das auch tatsächlich der bekannte Wissensstand.
Anwalt Markus Haintz, der das Video teilte, schreibt auf Anfrage: Seiner Meinung nach ergebe sich aus dem Ausschnitt, den er geteilt hat, sehr wohl, dass ein „(zu diesem Zeitpunkt bereits völlig fernliegender) rechtsextremer Anschlag eben nur eine Möglichkeit von vielen sein könnte“. Angesichts dessen, „dass der Staatsfunk die Schuldigen für so ziemlich alles in aller Regel ‘rechts’ sucht, halte ich diese etwas überspitzte Formulierung durchaus für angebracht“. Hohloch antwortete nicht auf eine Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck.
Redigatur: Steffen Kutzner, Sarah Thust
Update, 31. August 2024: Wir haben ein Statement von Markus Haintz ergänzt.
Die wichtigste öffentliche Quelle für diesen Faktencheck:
- Tagesschau-Beitrag vom 24. August 2024: Link (archiviert)