Ukraine und Tschetschenien: Zwei tragische Tage im Februar
Putin, der rachsüchtige Kriegstreiber mit imperialistischen Phantasien. Eine Motivation für ihn liegt auch im Tschetschenienkrieg vor 30 Jahren. Er war blutig und rücksichtslos, aber er war aus Sicht Putins erfolgreich. Ein Denkanstoß.

Vor drei Jahren, am 24. Februar 2022, ordnete Russlands Präsident Wladimir Putin die vollumfängliche Invasion in die Ukraine an. Aus einer pervertierten Symbolik heraus wurde der Befehl am Tag nach dem sogenannten „Tag der Vaterlandsverteidigung“ gegeben, der am 23. Februar gefeiert wird. In Russland ist das ein Feiertag, ebenso wie der 8. März. Beide Tage haben ihren politischen Inhalt völlig verloren und sind zu „Männertag“ und „Frauentag“ geworden.
In den meisten Teilen Russlands weiß jedoch kaum jemand – während er an diesem Tag mit seinen Kollegen einen Drink genießt – wofür der 23. Februar sonst noch steht. Es ist der tragischste Tag in der Geschichte des tschetschenischen und inguschischen Volkes. Am 23. Februar 1944 begann auf Befehl Stalins ihre Deportation nach Zentralasien. Bis zu einem Drittel der Menschen, die auf Güterwaggons verladen und aus ihrer Heimat abtransportiert wurden, starben auf dem Weg. Meistens waren es Frauen und Kinder.
Damit zeigte Putin unbewusst (oder vielleicht auch nicht) die wahren Wurzeln seiner Machtausübung.
Der Zusammenhang zwischen dem Schicksal des tschetschenischen Volkes und dem heutigen Krieg gegen die Ukraine wird noch deutlicher, wenn wir uns an den Tschetschenienkrieg erinnern, der vor etwas mehr als 30 Jahren, im Dezember 1994, begann. Für diesen Krieg gab es ähnliche Gründe wie für die Aggression gegen die Ukraine. Kurz gefasst: Angst um die Macht, multipliziert mit post-imperialen Komplexen. Und er wurde auf dieselbe Weise geführt – ohne Rücksicht auf Verluste.
Man kann nicht sagen, dass der erste Tschetschenienkrieg überhaupt nicht wahrgenommen wurde. Es gab Proteste von Aktivisten und diplomatische Äußerungen der Besorgnis. Aber dieser Krieg wurde nicht als Zeichen dafür gewertet, dass Russland nach nur drei Jahren auf dem Weg zur Demokratie beginnt, zu seiner autoritären Vergangenheit zurückzukehren.
Großmacht-Phantasie des Kreml weit von der Realität entfernt
Heute ist es nicht einfach, Vorhersagen darüber zu treffen, wie der russisch-ukrainische Krieg das Schicksal des Putin-Regimes beeinflussen wird. Dieses Regime führt Kriege, um seine eigene Macht zu konsolidieren und seine „frühere Größe“ wiederzuerlangen, aber das Ergebnis ist weit entfernt von dem, was sich der Kreml in seinen Phantasien vorstellt. Die tschetschenisch-russischen Beziehungen sind der beste Beweis dafür.
Im Dezember 1994 begannen russische Flugzeuge mit der Bombardierung von Schulen und Kindergärten, und die Artillerie beschoss Wohnviertel. Genau wie heute, wo russische Truppen ukrainische Städte stürmen. Der Vormarsch der Truppen durch Tschetschenien wurde von Plünderungen und Morden an der Zivilbevölkerung begleitet. Grosny war Mariupol und Butscha zugleich. Noch vor Mosul und Aleppo bezeichneten die Weltmedien die Stadt als die am stärksten zerstörte Stadt des Planeten seit dem Zweiten Weltkrieg.
In unserer Kategorie Denkanstoß sammeln wir kluge Ideen und Analysen, zu Themen, die wir als Gesellschaft bewältigen müssen. In loser Folge kuratieren wir hier Gast-Beiträge.
Tschetschenien ist 35 Mal kleiner als die Ukraine und eineinhalb Mal kleiner als die Region Donezk. Dennoch schätzt das Memorial Centre, dass dort 1995-1996 zwischen 25.000 und 40.000 Zivilisten starben. In den ersten beiden Jahren des Krieges in der Ukraine waren es 10,500.
Der damalige Präsident Boris Jelzin versuchte, den Krieg als Wiederherstellung der staatlichen Ordnung darzustellen. Das Regime des tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew war tatsächlich eher ein gescheiterter Staat. Der Krieg war jedoch im Wesentlichen ein Kolonialkrieg.
Tschetschenien-Krieg als Vorbereitung für Putins Aufstieg zur Macht
Der Nordkaukasus war im 19. Jahrhundert vom Russischen Reich erobert worden. Der tschetschenische Widerstand war jahrzehntelang ungebrochen. Zunächst gegen das kaiserliche St. Petersburg, dann gegen das kommunistische Moskau. Im Jahr 1944 starben zwischen einem Viertel und einem Drittel der Tschetschenen bei den von Stalin organisierten Deportationen.
Jelzin beteiligte sich aktiv an der Liquidierung der Sowjetunion, war aber nicht bereit, einer Region die Abspaltung von Russland zu gestatten. Angesichts einer Fronde von Regionalbaronen und einer wachsenden konservativen Stimmung unter den Russen, die durch eine tiefe und langwierige Wirtschaftskrise frustriert waren, beschloss Jelzins Regierung, ihre Fähigkeit zur Wiederherstellung der Ordnung unter Beweis zu stellen.
Rückblickend ist klar, dass diese Entscheidung nicht nur schreckliche Opfer und Zerstörungen zur Folge hatte, sondern auch Putins Aufstieg zur Macht, die revanchistische Wende in der russischen Politik und den Krieg in der Ukraine vorbereitete.
Während die moralische und politische Bewertung des Ersten und Zweiten Tschetschenienkriegs auf der Hand liegt, sind die Ergebnisse in vielerlei Hinsicht paradox.
Russland hat die politische Kontrolle über die Region zurückgewonnen. Aber Putin hat die Macht in der Republik an einen der lokalen Clans abgegeben: die Kadyrows.
Die Kadyrows können nicht als reine Kollaborateure betrachtet werden. Achmat Kadyrow war während des ersten Tschetschenienkriegs Obermufti von Tschetschenien und unterstützte den Kampf um die Unabhängigkeit. Als sich jedoch der salafistische Islam in der Republik ausbreitete, sah Kadyrow, der dem traditionellen sunnitischen Sufismus anhing, seine Autorität bedroht und lief im Jahr 2000 zu Putin über.
Mit der Macht zum Töten ausgestattet
Sein Sohn Ramsan errichtete in der Republik ein persönliches Machtregime, das noch brutaler ist als das seines Vorgängers. Putin und die Partei „Einiges Russland“ erzielen in Tschetschenien die höchsten Wahlergebnisse, und der jüngere Kadyrow schwört fast täglich seine Treue und verspricht, für den „nationalen Führer“ zu sterben. Doch die Befugnisse eines jeden russischen Beamten enden in dem Moment, in dem er die Grenze der Republik überschreitet. Kadyrow verfügt über eine eigene Armee (russische Beobachter schätzen ihre Zahl auf bis zu 80.000). Die Effizienz von Kadyrows Männern ist unbekannt. Im Krieg in der Ukraine sind sie bisher vor allem durch Plünderungen in Mariupol und die Flucht vor ukrainischen Soldaten in der Region Kursk in Erscheinung getreten. Dennoch sind sie eine mächtige Ressource in der russischen Innenpolitik.
Kadyrow hat faktisch die Lizenz zum Töten. Diejenigen, die er zu Feinden erklärt, kommen konsequent ums Leben, egal wer es ist: rivalisierende prorussische Feldkommandeure (Mowladi Baisarow und die Brüder Jamadajew), Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (Anna Politkowskaja und Natalia Estemirowa) oder Oppositionspolitiker (Boris Nemzow). „Kadyrowtsy“ treten in geschäftlichen Konflikte auf dem Territorium Russlands als Banditen auf, die sich als Sicherheitskräfte ausweisen können. Andersdenkende und LGBTQ+-Personen werden einfach umgebracht. Frauen werden Opfer von „Ehrenmorden“ und Polygamie wird fast offen praktiziert, angefangen bei Kadyrow selbst. Zahlreiche Kinder und Verwandte von Achmat Kadyrow bekleiden verschiedene Machtpositionen.
Dieses Clanregime mit eigener Armee, das keine Rechtsgrenzen anerkennt, existiert auf Kosten des Kremls. Unabhängigen Experten zufolge machen die staatlichen Subventionen nicht weniger als 80 Prozent des tschetschenischen Haushalts aus. Viele Bewohner der Republik sind gezwungen, einen erheblichen Teil ihrer Gehälter und Zulagen „freiwillig“ an Fonds abzuführen, die mit der Familie Kadyrow verbunden sind.
Die Stadt Grosny ist aus Ruinen wieder aufgebaut worden. Aber sie sieht weniger aus wie die Hauptstadt einer Kolonie denn einer kleinen Despotie, die für eine ordentliche Belohnung die Souveränität des „großen Bruders“ anerkennt.
Tschetschenien und Russland können getrennte Staaten sein. Das Putin-Regime und das Kadyrow-Regime sind es nicht. Im Falle des Todes von Ramsan Kadyrow (es wird vermutet, dass er schwer krank ist) wird der Kreml wahrscheinlich mit den unvermeidlichen Konflikten zwischen seinen „Verbündeten“ fertig werden. Das Beispiel von Baschar al-Assad zeigt jedoch, dass Putins Ressourcen bei weitem nicht unbegrenzt sind.
Moskau bezahlt Ruhe in Tschetschenien mit viel Geld
Die Machtkrise in Moskau hingegen lässt viele Szenarien zu. Und alle sind schlecht. Konkurrierende Gruppen werden um die Unterstützung Kadyrows (oder seines Nachfolgers) wetteifern. Während jeder Oberst oder General auf einen Befehl des Generalstabs, und dieser auf den des Oberbefehlshabers warten wird – falls es einen solchen gibt – werden Kadyrows Kämpfer das tun, was der tschetschenische Staatschef ihnen aufträgt.
Kadyrow ist wie Jewgeni Prigoschin mit dessen Söldnertruppe Wagner, nur mit eigenem Territorium und einer Armee mit offiziellem Status. Und im Gegensatz zu Wagner sind die Kadyrow-Leute durch ethnische und religiöse Solidarität geeint.
Die wirtschaftliche Schwächung Moskaus wird die Frage nach der Höhe der Zahlungen an die Region aufwerfen. Eine Kürzung der Subventionen für Tschetschenien könnte zu einer Rebellion oder einer absichtlichen Eskalation des Konflikts (mit Nachbarn oder Rivalen) führen, um die Notwendigkeit der Subventionen zu beweisen. Die Aufrechterhaltung der Finanzierung auf Kosten anderer Regionen ist mit wachsender Unzufriedenheit verbunden. Nach Angaben des russischen Lewada-Zentrums unterstützten 2011 71 % der Russen den Slogan „Schluss mit dem Durchfüttern des Kaukasus“.
Die Kreml-Diktatur speist sich aus Komplexen
Im Falle einer demokratischen Revolution wird die neue Regierung nicht in der Lage sein, im selben Staat mit einem Regime zu koexistieren, das persönliche Diktatur, Scharia und Blutfehden miteinander verbindet. Die natürlichste Lösung wäre, den Wunsch der Tschetschenen nach Unabhängigkeit endlich anzuerkennen. Doch Kadyrows Regime ist symbiotisch mit dem Kreml verbunden und ohne diesen nicht zu halten. Kadyrow braucht keine Unabhängigkeit. Er braucht Russland, das ihm Tribut für eine Schein-Souveränität über die Region zahlt.
Russland hat den blutigen Krieg in Tschetschenien begonnen, weil seine Elite, nachdem sie den Kommunismus verworfen hat, ihre imperialen Vorurteile nicht abgelegt hat. Infolgedessen ist es nicht Russland, das Tschetschenien kontrolliert und ausbeutet. Es ist eine korrupte und militarisierte Diktatur, geschaffen durch den Kreml, die von den revanchistischen Komplexen des Kremls schmarotzt. Russland hat aus diesem Krieg nichts gewonnen, aber der von ihm entfesselte Krieg hat das freiheitsliebende Bergvolk in eine totalitäre Gesellschaft verwandelt. Alle haben verloren. Und das ist noch nicht das Ende. Die russisch-tschetschenischen Beziehungen bleiben ein Pulverfass. Jedes Streichholz, das dem Fass zu nahe kommt, kann es erneut zur Explosion bringen.
Übersetzung: Alexej Hock