Argentinien: Wo Arm und Reich gemeinsam untergehen werden
Das Delta des Rio Paraná, vor den Toren von Buenos Aires, war einst kaum besiedelt. Bis die Immobilienentwickler kamen - und die Inseln im Feuchtgebiet als luxuriöse Wasserlage vermarkteten. Mit desaströsen Folgen.
Wenn es regnet, wenn das Wasser steigt im Slum von Garrote, dann wissen die Kinder von Marcela Creciente, was zu tun ist: Hurtig klettern sie aufs Dach ihrer Hütte, wo ihre Mutter Matratzen ausgelegt hat, um ihnen das stundenlange Warten zu erleichtern. Von dort können sie zusehen, wie das Wasser in ihrem Slum allmählich höher steigt, ein bald hüfttiefer, träge dahinfließender, mit Abwässern verunreinigter und mit Müll übersäter Strom, der alles Leben zum Erliegen bringt.
Dass keine anderthalb Kilometer entfernt ein Luxusviertel entsteht mit dem protzigen Namen „Venedig“, das mutet Marcela Creciente an solchen Tagen an wie bittere Ironie. Wie bitterer Spott. In ihrem „Venedig“ suchen sie Zuflucht auf den Hütten. Während drüben schicke Boote vor den Eingängen der Luxusapartments liegen werden, um die Wasserstraßen des Viertels zu durchschiffen.
Und nicht nur das: Das Luxus-Venedig nebenan könnte die Überschwemmungen bei ihnen in Garrote verschlimmern. Das jedenfalls behauptet ein Team von Community-Anwälten, die 2014 die Projektinvestoren verklagt haben. „Venedig“ sei nicht nur in weiten Teilen illegal erbaut. Zudem würden all die Aufspülungen, die Flutwände und die künstlichen Seen das Hochwasser in den Nachbargemeinden verschärfen.
CORRECTIV und ein Team der Columbia-Universität haben die Gezeitenmessdaten für die Region Buenos Aires untersucht. Es gibt nur wenige Messpunkte in der Region. Doch die verfügbaren Daten zeigen, dass der Meeresspiegel in den vergangenen 57 Jahren rund 1,7 Millimetern pro Jahr angestiegen ist. Das ist eine Zunahme von 9,5 Zentimetern seit 1961. Laut einer Studie der Universität Buenos Aires ist der Pegel im gesamten 20. Jahrhundert im Rio de la Plata – vor den Toren von Buenos Aires – sogar um 20 Zentimeter gestiegen.
Das Delta
Garrote und „Venedig“ liegen im Westen der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, im Delta des Rio Paraná. Es ist das einzige Flussdelta der Erde, das nicht direkt ins Meer mündet, sondern in den Río de la Plata – der auf Karten wirkt wie ein Meerbusen, tatsächlich aber als Fluss gilt. Das Delta des Paraná ist rund 14.000 Quadratkilometer groß, mehr als 1000 kleine Inseln liegen darin, die aufgeschwemmt wurden von den Sedimenten, die der Fluss auf seinem Weg abgetragen hat. Der Paraná ist einer der großen Ströme der Welt: Rechnet man den längeren seiner beiden Quell-Zuflüsse hinzu, den 1360 Kilometer langen Rio Grande, ist er fast 4000 Kilometer lang und entwässert ein riesiges Gebiet im Süden Brasiliens.
Schon immer gab es gewaltige Überschwemmungen im Delta. Doch das sumpfige Land, die zahllosen Inseln halfen, die schwankenden Pegel auszugleichen. Und wenn das Wasser stieg, dann bekam das kaum jemand mit – das mückenverseuchte Sumpfland war früher nur spärlich besiedelt.
Das änderte sich vor rund zwei Jahrzehnten, als die Gemeinde El Tigre, die an Buenos Aires angrenzt, in den Fokus von Immobilienentwicklern geriet. Rund 100 in sich abgeschlossene Luxus-Siedlungen oder „Gated Communities“ sind seither in El Tigre gebaut worden – und haben das eben noch entlegene Sumpfgebiet attraktiv auch für sehr wohlhabende Menschen gemacht.
Golfplätze im Feuchtgebiet
Den Beginn machte das Projekt Nordelta, begonnen im Jahr 2000. Binnen 15 Jahren wuchs die Wohnanlage zu einer Kleinstadt an, mit heute rund 30.000 Einwohnern. Dutzende weiterer Siedlungen folgten, mit klingenden Namen wie Marinas Golf, Complejo Villanueva, El Cantón. Gebaut für eine wohlhabende Klientel, die die Anlagen häufig nur an Wochenenden oder in den Ferien nutzt.
Über 9.000 Hektar Feuchtgebiete wurden für Immobilienprojekte freigegeben, sagt Patricia Pintos, Geographin an der Universität von La Plata in Buenos Aires. Gemeinsam mit anderen Forschern hat sie einen Report über die Immobilienprojekte verfasst, unter dem Titel „The Sacrilegious Privatopia“, sinngemäß: „Die frevlerische Privat-Utopie“.
Nicht nur die Zahl der Wohnanlagen stieg. Es kam auch immer häufiger zu Hochwasser. Im März 2010 wurden Erdgeschosswohnungen überschwemmt, ihre Einrichtungen zerstört. Anwohner behaupteten, dass in einer der Gated Communities eine Schleuse geöffnet worden sei, so dass sich zusätzliches Wasser in ihre Nachbarschaft ergoss. Das berichtete seinerzeit die Lokalzeitung „Actualidad de Tigre“.
In der Folge ordnete die Stadtverwaltung von El Tigre an, dass zwei der Gated Communities Dämme, Kanäle und Deiche bauen müssen, um die Folgen von Überschwemmungen zu mildern, insbesondere für benachbarte ärmere Gemeinden. Doch es kam schlimmer: Im Juni 2012 machte verunreinigtes Wasser viele Menschen in Garrote krank.
Marcela Creciente erinnert sich gut daran: Bagger hatten in jenem Winter dunklen Schlamm auf die Ufer des Canal San Fernando ausgebracht. Als es zu regnen begann, sickerte der Schlamm in die Ortschaften. Nicht lange, und die ersten Kinder waren von Parasiten befallen. „Manche Kinder erbrachen Parasiten“, sagt Creciente. Auch eine Frau, die im siebten Monat schwanger war, wurde befallen.
Zwischen 2012 und 2017 nahm die Zahl der Überschwemmungen weiter zu. Im Jahr 2013 zerstörten Anwohner einen Damm, der den Golfplatz einer Gated Community schützte – um den Druck des Hochwassers von ihren Häusern zu nehmen. Nordelta-Wachleute eröffneten das Feuer. Offenbar wurde niemand verletzt.
Im Jahr 2015 mussten an die 20.000 Einwohner evakuiert werden. Drei Menschen ertranken. Die gleichen Gemeinden waren 2016 und 2017 erneut von Hochwasser betroffen.
Vorschriften missachtet
Alarmiert von den ständigen Überschwemmungen begannen Anwälte und Wissenschaftler, den Zusammenhang zwischen den Immobilienprojekten und dem Hochwasser im Delta zu untersuchen. Sie deckten auf, dass viele Projektentwickler Vorschriften missachtet hatten, in einigen Fällen sogar mit aktiver Hilfe der Gemeinden. Und manche Projektentwickler prahlten damit sogar öffentlich.
2014 fanden Community-Anwälte heraus, dass die „Venedig“-Projektentwickler die Umweltverträglichkeitsstudie zwar bei der Stadt Tigre eingereicht hatten, nicht aber bei der Provinzregierung. Das widerspricht den Vorschriften. Sie verklagten die Stadt Tigre und die Projektentwickler. Bizarr: Die Projektentwickler hatten in ihren Verkaufsbroschüren selbst auf diesen Verstoß, auf die nicht vorliegende Genehmigung hingewiesen.
„Das Gefühl, im Recht zu sein, ist so überwältigend groß, dass sich die Firmen nicht scheuen, in ihrer Werbung zu erwähnen, dass 60 Prozent der Eigentumswohnungen verkauft waren, noch ehe die Baugenehmigung vorlag“, sagt Eduardo Reese, Leiter der Anwaltskanzlei Centro de Estudios Legales und Sociales. Ein Sprecher der Stadt El Tigre bestreitet, dass es Unregelmäßigkeiten gegeben habe.
Patricia Pintos, die Forscherin, hat gezeigt, dass die Nichteinhaltung von Vorschriften weit verbreitet ist. So zerstörten die Projektentwickler von „San Sebastián“, einer Gated Community, die sich über neun Kilometer entlang des Luján-Flusses erstreckt, Feuchtgebiete, legten eine Mülldeponie an, errichteten Flutwände und künstliche Kanäle und schufen ohne Genehmigung künstliche Lagunen. Mehr als zehn Vorschriften, den Bau in Feuchtgebieten betreffend, wurden gebrochen. Insgesamt entdeckte das Pintos-Team bei 66 Gated Communities Unregelmäßigkeiten.
2016 verfügten Bundesrichter einen Baustopp bei einem Dutzend dieser Projekte – unter ihnen „Venedig“. Sie verfügten zudem, dass die Behörden so lange jeden Neubau verhindern, bis eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorliegt, die untersucht, wie sich alle Siedlungen, in ihrer Gesamtheit, auf die Feuchtgebiete auswirken.
Mehrere Projekte wurden daraufhin modifiziert. Im Fall von „Venedig“ wurde nicht nur der Flächenverbrauch reduziert, die Entwickler wurden zudem verpflichtet, Hochwasserschutzmaßnahmen zu ergreifen und Feuchtgebiete wiederherzustellen, sagt Juan Paladino von Provinzregierung.
Das Projekt werde nun fortgeführt und erfülle alle Auflagen, sagt Pablo Botana, Geschäftsführer von TGLT, der Firma hinter dem „Venedig“-Projekt. Er betont, dass man diese nicht mit anderen Siedlungen vergleichen könne. Weil sie nicht in einem bis dahin unberührten Feuchtgebiet errichtet werde, sondern auf dem Gelände einer verlassenen Werft.
Forscher weisen darauf hin, dass die Gesamtauswirkung aller Immobilienprojekte im Delta noch immer nicht untersucht worden sind – obwohl die Gerichte das angeordnet hatten.
„Man kann nicht einfach behaupten, dieses eine Projekt hat keine Auswirkungen auf die Überschwemmungsdynamik“, sagt Forscherin Pintos. „Wir müssen das gesamte Bild anschauen. Nicht nur einen Ausschnitt.“
Giftige Algen
Zu diesem Gesamtbild tragen die Studien von Diego Ríos bei, einem ausgewiesenen Experten für das Paraná-Delta. Unter anderem untersuchte er, wie Kunstdünger, Unkrautvernichtungsmittel und künstlich angelegte Seen das empfindliche Ökosystem des Deltas verändern. Er fand heraus, dass die Stoffe den Wuchs giftiger Algen befördern. Algen, die endemische Pflanzen verdrängen und Tiere töten können, die unangenehme Gerüche absondern, zu Hautausschlag, Durchfall, Erbrechen und Krämpfen führen können – und im Extremfall sogar tödlich sein können für Menschen.
Beschwerden über grün-blau fluoreszierende Algen, die nach Insektenvernichtungsmitteln stinken, gibt es seit dem Jahr 2005 in Nordelta. Biologen haben herausgefunden, dass Wasserpumpen den Algenwuchs kaum aufhalten, solange weiter Chemikalien ausgebracht werden, die Rasenflächen ganzjährig grün halten. Gerade auf den Golfplätzen.
Hoffnung für das Delta
Doch es gibt Hoffnung für das Flussdelta. Im Jahr 2016 stellte der argentinische Präsident Mauricio Macri ein Gesetz vor, dass die Gesamtheit der argentinischen Feuchtgebiete – auf einer Fläche von über 600.000 Quadratkilometern – erhalten soll. Zusammen machen sie fast ein Viertel der Landesfläche aus. Von diesem Gesetz würde auch das Paraná-Delta profitieren.
Längst sind Überschwemmungen das kostspieligste Umweltproblem Argentiniens. Das Gesetz würde Landwirte, Viehzüchter und Immobilienentwickler daran hindern, Feuchtgebiete zu zerstören – jene Flächen, die dafür sorgen, die Folgen von Überschwemmungen abzumildern.
Trotz erheblichen Widerstandes wurde das Gesetz im argentinischen Senat verabschiedet. Nun muss es der Kongress verabschieden.
Eigentlich ist das Paraná-Delta ohnehin durch ein internationales Abkommen geschützt, die „Ramsar-Konvention“. Der Vertrag sieht vor, dass jede Verkleinerung des Deltas angezeigt werden muss. Aber: „Bis heute haben wir keine entsprechenden Bericht erhalten“, sagte Maria Rivera von der Ramsar-Konvention.
Wird das Delta untergehen?
„Niemand verlangt, das Delta gänzlich unberührt zu lassen“, sagt Jorge Codignotto, Klimawandel-Experte am Technologie-Institut INTI in Buenos Aires. „Wir sollten einfach die wenigen natürlichen Ressourcen schützen, die wir noch haben.“
Im Nationalen Institut für Geographie zeigt der Geograph Ignacio Gatti eine Karte des Paraná-Deltas. Gated Communities sind mit roten Punkten markiert – und befinden sich in einem Meer aus andersfarbigen Punkten, die anzeigen, wo laut Studien Überschwemmungen zunehmen werden.
Noch helfen die Feuchtgebiete des Paraná-Deltas, Überschwemmungen im Zaum zu halten. Doch wenn weiter gebaut wird, wenn die Feuchtgebiete weiter schrumpfen und der Meeresspiegel weiter steigt – dann könnte das Delta komplett verschwinden und mit ihm die Slums und die Gated Communities. „Das Delta ist auf dem Weg unterzugehen“, sagt Jorge Codignotto vom INTI, „und davon werden auch die neuen Siedlungen betroffen sein. Sie werden eines Tages verloren gehen.“
Die Autorin nimmt am „Energy and Environmental Reporting“ -Projekt der Columbia Journalismus-Schule in New York teil. Unterstützt wird dieses Programm vom Blanchette Hooker Rockefeller Fund, Energy Foundation, Open Society Foundations, Rockefeller Brothers Fund, Rockefeller Family Fund, Lorana Sullivan Foundation und der Tellus Mater Foundation. Die Stifter haben keinen Einfluss auf die Artikel.