Schwedens Städte im „Kriegszustand“? Unbelegte Behauptungen über Kriminalität und Einwanderung im Umlauf
In schwedischen Großstädten kommt es aktuell häufiger zu Sprengstoffanschlägen und Schießereien. Ein Medienbericht konstruiert einen Zusammenhang zum Thema Einwanderung – obwohl es keine Daten zur Herkunft der Täter gibt.
Befinden sich Schwedens Städte im „Kriegszustand“? Das behauptet die österreichische Seite Wochenblick in einem Artikel vom 9. November. In den Städten Stockholm und Malmö herrsche angeblich „Krieg“, es komme täglich zu Bomben- und Granatenanschlägen. Neun von zehn Tätern seien Einwanderer erster oder zweiter Generation.
Der Artikel wurde laut dem Analysetool Crowdtangle bereits mehr als 4.300 Mal auf Facebook geteilt. Auch der AfD-Kreisverband Paderborn griff das Thema am 13. November auf Facebook auf.
Wochenblick nennt in dem Text zahlreiche konkrete Zahlen zur Kriminalität in Schweden. CORRECTIV hat sie überprüft. Unsere Recherche zeigt: Die Darstellung ist übertrieben; es gibt nicht täglich Bomben- und Granatenanschläge. Allerdings gibt es laut Polizei ein zunehmendes Problem mit Explosionen und Schießereien in einigen Großstädten. Wochenblick nennt einige korrekte Fallzahlen, doch zu dem angeblichen Migrationshintergrund der Täter gibt es keine Daten.
Was sind die Quellen der Aussagen?
Der Wochenblick-Text nennt drei englischsprachige Quellen: einen Artikel des US-amerikanischen Think-Tanks „Gatestone Institute“ vom 29. Oktober, einen Artikel der Seite Voice of Europe vom 31. Oktober mit dem Titel „Schweden steuert auf einen Bürgerkrieg zu“ und einen Artikel der britischen Seite The Spectator mit dem Titel „Bombenanschläge sind nun ein normaler Teil des schwedischen Lebens“.
Voice of Europe gibt die Aussagen eines schwedischen Geschäftsmannes namens Leif Östling wieder, der in einem Interview gesagt habe, dass die Einwanderung in Schweden eine „potenziell gewalttätige Situation“ geschaffen habe. Der Text nennt aber keine konkreten Zahlen.
The Spectator zitiert nach eigenen Angaben aus einem Bericht der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter, dass neun von zehn der Täter bei Gang-Schießereien Einwanderer der ersten oder zweiten Generation seien. Spectator verlinkt allerdings nicht die Quelle.
Der Bericht des „Gatestone Institute“ wurde von Wochenblick als Quelle für den angeblichen Migrationshintergrund der Täter herangezogen, bezieht sich jedoch seinerseits fast ausschließlich auf schwedische Medienberichte. CORRECTIV hat bereits darüber berichtet, dass deutschsprachige Webseiten häufig irreführende Informationen von diesem US-amerikanischen Think-Tank übernehmen.
Polizei in Schweden berichtet über zunehmende Sprengstoffanschläge
CORRECTIV hat bei der Polizei in Stockholm und Malmö nachgefragt, wie sich die Kriminalität dort entwickelt hat. Beide Pressestellen haben uns Zahlen zugeschickt.
Ein Pressesprecher der Stockholmer Polizei, Mats Eriksson, schreibt zu der Behauptung, die aktuelle Situation komme einem „Kriegszustand“ gleich: „Sehr wenige Menschen bei der schwedischen Polizei oder schwedische Bürger würden die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, als ‘an der Schwelle zum Bürgerkrieg’ bezeichnen. Explosionen sind kein normaler Teil des schwedischen Lebens – sie waren es nie und sind es auch jetzt nicht.“
Explosionen in der Stadt hätten jedoch tatsächlich jüngst zugenommen. Da das eine neue Entwicklung sei, gebe keine statistischen Vergleiche zu den Vorjahren. 2019 ist es laut Polizei bisher zu 23 Detonationen in der Region Stockholm gekommen (Stand: 31. Oktober). Die größte Häufung – acht Vorfälle – habe es im Oktober gegeben.
In Malmö gab es laut einer Pressesprecherin 2018 45 Explosionen, bei denen vier Menschen verletzt wurden. 2019 waren es bis zum 11. November 29 Explosionen mit zwei Verletzten.
Die Behauptung von Wochenblick, es gebe „täglich“ solche Anschläge, ist also übertrieben.
Dennoch sieht die schwedische Polizei darin ein zunehmendes Problem. Die Explosionen im Land konzentrieren sich laut einer Pressemitteilung von August 2019 auf die drei größten Städte Schwedens: Stockholm, Göteborg und Malmö. Es gehe dabei vermutlich um Konflikte, Erpressung oder Schulden. Manchmal würden auch Handgranaten oder selbstgebaute Bomben eingesetzt. Viele Medien berichten aktuell über diese Vorfälle und Konflikte zwischen Gangs, zum Beispiel die Boulevardzeitung Aftonbladet (4. November), die Süddeutsche Zeitung (12. November) oder der Hessische Rundfunk (11. November).
Wir haben zudem die folgenden sechs Behauptungen aus dem Wochenblick-Artikel geprüft:
1. Behauptung: In Stockholm gebe es „an die 50 kriminelle Netzwerke mit rund 1.500 Gangmitgliedern“
Richtig: Nach Einschätzung der Polizei (3. Oktober) gibt es in Stockholm 50 kriminelle Netzwerke, die teilweise „von loser Natur“ seien und ungefähr 1.500 Personen zählten.
2. Behauptung: In Schweden habe es 2018 „160 Anschläge mit Bomben und Granaten“ gegeben
Größtenteils richtig: Es gab laut der offiziellen Kriminalstatistik 2018 (Seite 42) 162 Fälle von „gefährlicher Zerstörung“ mit Sprengstoff, von Bomben oder Granaten ist hier aber nicht die Rede.
3. Behauptung: In Schweden habe es 2018 „45 tödliche Schießereien“ gegeben
Größtenteils richtig: Laut Kriminalstatistik (Seite 6) gab es 2018 43 Fälle von „tödlicher Gewalt mit Schusswaffen“, drei mehr als 2017. Im Bericht steht dazu (automatische Übersetzung durch Google): „Seit 2011, als Statistiken über den Einsatz von Schusswaffen erstellt wurden, gilt Folgendes: Die Anzahl der gefundenen Fälle von Schusswaffen hat sich von 17 Fällen im Jahr 2011 mehr als verdoppelt, auf 43 Fälle im Jahr 2018.“
4. Behauptung: Bis August 2019 habe es in Stockholm „58 Schießereien“ gegeben
Das ist plausibel. Von Januar bis Ende Oktober 2019 gab es laut Polizei in der Region Stockholm 82 Schießereien mit 16 Toten.
2018 waren es insgesamt 105 Schießereien mit 11 Todesopfern. Die Zahl der Schießereien in der Region Stockholm ist seit 2014 gestiegen, allerdings nicht kontinuierlich. Von 2017 auf 2018 ist sie gesunken. 2017 wurden 19 Menschen getötet; deutlich mehr als in den anderen Jahren.
In Malmö gab es laut der Polizeisprecherin 2018 insgesamt 47 Schießereien, bei denen 12 Menschen starben. 2019 waren es bis zum 11. November 30 Schießereien mit fünf Todesopfern. Die Stadt Malmö hat zur Bekämpfung des Problems im Oktober 2018 das Projekt „Hört auf zu schießen“ („Sluta skjut“) ins Leben gerufen und teilte am 13. November mit, man sehe im Rückgang der Todesopfer einen Erfolg.
5. Behauptung: Schweden zähle aktuell zu den Ländern mit der höchsten Kriminalität in Westeuropa
Für die gesamte Kriminalität gibt es keinen zuverlässigen Vergleich. Bei Eurostat und der Weltbank lassen sich die westeuropäischen Länder miteinander vergleichen, allerdings nur bei einzelnen Arten von Delikten, und es liegen noch keine Daten für 2018 vor.
Die Quote für „Mord“ lag laut Eurostat in Schweden 2017 bei 1,13 pro 100.000 Einwohner. Damit lag Schweden zum Beispiel hinter den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Finnland sowie England und Wales. Bei „versuchtem Mord“ lag Schweden mit einer Quote von 9,1 hinter Luxemburg (12,53). Bei „Angriffen“ liegt Schweden (46,87) unter anderem hinter Deutschland (166,09).
Die Daten von der Weltbank für 2017 für „Mord“ zeigen eine Abweichung von den Eurostat-Daten für die Niederlande. Aber auch in dieser Statistik liegt Schweden mit einer Quote von 1,1 hinter Belgien, Frankreich, Großbritannien, Finnland und Dänemark.
6. Behauptung: Neun von zehn „Banden-Tätern“ seien Einwanderer der ersten oder zweiten Generation
Unbelegt. Die zentrale Botschaft des Wochenblick-Artikels ist, dass es einen Zusammenhang der genannten Straftaten zur Einwanderung in Schweden gebe. Es gibt jedoch keine Daten über die Herkunft oder einen möglichen Migrationshintergrund der Täter. Stockholms Polizeisprecher Mats Eriksson schreibt in seiner E-Mail an CORRECTIV, die Polizei und der Staat in Schweden registrierten weder die Religion, noch die ethnische Zugehörigkeit von Tatverdächtigen.
Auf Nachfrage teilte die zuständige Behörde Brå (Nationaler Rat für Kriminalprävention) CORRECTIV per E-Mail mit, die Nationalität von Tatverdächtigen sei nicht Teil der Kriminalstatistiken. Lediglich das Geschlecht und Alter würden erfasst. Die Herkunft von Straftätern werde nur in tiefergehenden Forschungsprojekten untersucht, die auch andere Hintergrundfaktoren einbeziehen können. Der letzte Bericht dieser Art stammt von 2005, ist also veraltet.
Wochenblick hat seine Zahlen offenbar aus dem Bericht des „Gatestone Institute“ übernommen – und dieses bezieht sich als Quelle auf einen Bericht der Boulevardzeitung Expressen über Gangkriminalität von 2017. Die Redaktion hat nach eigenen Angaben eine Umfrage unter 192 Personen aus dem kriminellen Milieu in Stockholm gemacht. Wie genau die Personen ausgewählt wurden, ist unklar. Expressen schreibt, sie seien „nach Angaben der Polizei Mitglieder etablierter Banden“ oder könnten „durch Urteile und Voruntersuchungen mit kriminellen Netzwerken in Verbindung gebracht“ werden. 40,6 Prozent seien selbst im Ausland geboren worden. 82,2 Prozent hätten Eltern, die beide im Ausland geboren wurden. Bei 94,5 Prozent stamme ein Elternteil aus dem Ausland.
Diese Daten stellt Wochenblick fälschlich so dar, als bezögen sie sich auf ganz Schweden und seien repräsentativ.