Jahrzehnte des Hasses: Deutscher Rechtsterrorismus im Wandel der Zeit
von Alexander Roth
19. Februar 2020: Ein 43-Jähriger erschießt im hessischen Hanau neun Menschen in, vor und auf dem Weg zwischen zwei Shisha-Bars.
Den 23-jährigen Ferhat Unvar.
Die 35-jährige Mercedes Kierpacz.
Den 29-jährigen Sedat Gürbüz.
Den 37-jährigen Gökhan Gültekin.
Den 22-jährigen Hamza Kurtović.
Den 33-jährigen Kaloyan Velkov.
Den 22-jährigen Vili Viorel Păun.
Den 21-jährigen Said Nesar Hashemi.
Den 34-jährigen Fatih Saraçoğlu.
Weitere Menschen werden bei dem Anschlag teils schwer verletzt. Kurze Zeit später erschießt der Täter in der elterlichen Wohnung seine 72 Jahre alte Mutter und sich selbst.
Noch am frühen Morgen des 20. Februar übernimmt die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen. Begründung: „Es liegen gravierende Indizien für einen rassistischen Hintergrund der Tat vor.“
Lange sind die Ermittlungen zum Anschlag in Hanau nicht abgeschlossen. Die Angehörigen der Ermordeten erheben teils schwere Vorwürfe gegen die Sicherheitsbehörden. Viele Fragen sind bis heute ungeklärt.
Fest steht dagegen: Der Täter handelte aus rassistischen Motiven. Das Bundeskriminalamt stuft die Tat als eindeutig rechtsextremistisch ein – und ist damit nicht alleine.
Im November 2020 zitierte der „Spiegel“ aus einem rund 140 Seiten langen Gutachten, das der forensische Psychiater Henning Saß im Auftrag der Bundesanwaltschaft erstellt hatte. Das Ergebnis: Der Täter habe nicht nur unter „krankheitsbedingten Fantasien“ gelitten, er habe auch einer „rechtsradikalen Ideologie“ angehangen. Beides sei untrennbar miteinander verbunden gewesen.
Hanau reiht sich damit ein in eine lange Serie von rechtem Terror in Deutschland.
Die Terrorismusdatenbank des German Institute on Radicalization and De-radicalization Studies umfasst allein 2.459 rechtsextreme Brandanschläge seit 1971 – und im gleichen Zeitraum mindestens 348 rechtsextrem motivierte Morde und Mordversuche (Stand: 14. Januar 2021).
Doch wo beginnt die Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg? Welche Formen hat er über die Jahre angenommen? Wie haben sich die Akteure organisiert, welche Ideologien bestimmten ihr Handeln?
Der Politikwissenschaftler und Rechtsextremismus-Experte Prof. Dr. Fabian Virchow, der aktuell an der Hochschule Düsseldorf lehrt und forscht, hat über diese Fragen ein Buch geschrieben: „Nicht nur der NSU: Eine kleine Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland“. Es legt die wichtigsten Stationen, Konzepte und die Zukunft des rechten Terrors offen – und erklärt, was Staat und Gesellschaft dem entgegensetzen können.
Die 50er Jahre: Ist das schon Rechtsterrorismus?
23. Juni 1950: In Frankfurt am Main gründet sich der antikommunistische „Bund Deutscher Jugend“ (BDJ) mit der Teilorganisation „Technischer Dienst“ (TD). BDJ und TD sind ein Sammelbecken für ehemalige SS- und Wehrmacht-Offiziere.
Während der BDJ mit Demonstrationen auffällt, bei denen es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt, operiert der TD eher im Verborgenen. Die Mitglieder bereiten sich auf den Ernstfall vor – den befürchteten Einmarsch der sowjetischen Armee.
Ob die Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik bereits mit BDJ und TD beginnt, werde in der Forschung kontrovers diskutiert, sagt Fabian Virchow. „Diejenigen, die das ablehnen, sagen, das sei in weiten Teilen eine politische Organisation gewesen, die materiell ausgestattet wurde von den US-amerikanischen Geheimdiensten.“
Er selbst sei anderer Meinung. „Bei BDJ und TD war schon die antikommunistische Motivation zentral. Es wurden konspirativ Benzinlager angelegt, die Kommunikation fand über Kuriere statt, es wurden Listen geführt, wen man im Zweifelsfalle zu eliminieren hätte.“
7. Januar 1953: BDJ und TD werden in Hessen verboten, die restlichen Bundesländer sollten einen Monat später nachziehen. Im Zuge der Ermittlungen werden „schwarze Listen“ mit Namen von insgesamt 40 Personen gefunden. Die Personen, größtenteils hochrangige SPD-Politiker, sollten am „Tag X“ „aus dem Verkehr gezogen“ werden.
Dass die Formulierung „Tag X“, die heute vor allem durch die Berichterstattung über rechtsextreme Prepper-Gruppen und Netzwerke wieder geläufig ist, schon damals Verwendung fand, lässt sich laut Virchow mit dem militärischen Hintergrund der BDJ- und TD-Mitglieder erklären. „Das ‚X‘ markiert für diese Leute im Prinzip erst mal den Eintritt eines Ereignisses – in den frühen 50ern war dies der befürchtete Einmarsch der Roten Armee.“
Die 60er Jahre: Terror in Südtirol, die NPD und das Dutschke-Attentat
Auch die frühen 60er-Jahre würden bei der Frage, wann der rechte Terror im Nachkriegs-Deutschland seinen Anfang nahm, oft ausgeblendet, sagt Fabian Virchow.
Damals beteiligten sich Deutsche an terroristischen Aktionen in Südtirol, die eine Abtrennung der Region von Italien, mindestens aber eine weitreichende Autonomie zum Ziel hatten. „Das würde ich dazuzählen, weil da der Gedanke zugrunde liegt, dass es um die Wiederherstellung als natürlich gedachter territorialer Grenzen geht.“
31. Januar 1961: In Waidbruck, einer kleinen Gemeinde in Südtirol, sprengen Mitglieder einer Vereinigung namens „Befreiungsausschuss Südtirol“ (BAS) ein Reiterstandbild Benito Mussolinis – den „Aluminium-Duce“. Es ist der Beginn einer Anschlagsserie, die ihren vorläufigen Höhepunkt am 11. Juni desselben Jahres erreichen wird, in der sogenannten „Feuernacht“.
Nicht nur Angriffe auf Wahrzeichen des italienischen Staates oder die lokale Infrastruktur gehen auf das Konto des BAS. Bei Anschlägen und Überfällen, die mit dem BAS in Verbindung gebracht werden, wurden in den 60er-Jahren mehrere italienische Sicherheitskräfte verletzt und getötet. Auch gezielte Angriffe auf Repräsentanten der italienischen Republik werden dem BAS zugeschrieben.
„Das Problem ist: Den italienischen Quellen ist in diesem Zusammenhang wenig zu trauen“, sagt Fabian Virchow. Mitglieder des BAS warfen den Behörden brutale Methoden bis hin zur Folter von Gefangenen vor.
11. April 1968: Rudi Dutschke, Leitfigur der studentischen Protestbewegung, wird auf dem Berliner Kurfürstendamm niedergeschossen. Kugeln treffen ihn in die Wange, die Schläfe und die Schulter. Er erleidet schwere Hirnverletzungen.
Beim Täter, einem jungen Hilfsarbeiter namens Josef Bachmann, fanden die Ermittler später ein Porträt Adolf Hitlers und eine Ausgabe von „Mein Kampf“. Er soll „Du dreckiges Kommunistenschwein!“ gerufen haben, bevor er den Abzug drückte. Rudi Dutschke starb 1979 an den Spätfolgen des Attentats.
Lange galt Bachmann als Einzeltäter. Nachträglich sei es natürlich schwierig zu rekonstruieren, wie die Radikalisierung derer, die heute als Einzeltäter gelten, vonstatten ging, sagt Fabian Virchow. Allerdings ging 2009 aus bis dahin unbekannten Stasi-Akten hervor, dass der Dutschke-Attentäter Kontakte in die militante Neonazi-Szene hatte. Die Journalisten Peter Wensierski und Cordt Schnibben enthüllten zudem in dem ARD-Dokudrama „Dutschke – Schüsse von Rechts“, dass eine rechtsextreme Gruppe aus Peine Bachmann vor dem Attentat aufgehetzt habe. Diese Nazizelle gehörte in den 70er Jahren zu den gefährlichsten Gruppen in der Bundesrepublik.
Virchow sagt, es sei in der Forschung unbestritten, dass sich in den späten 60er Jahren viele solcher Kleingruppen aus dem neonazistischen Spektrum zusammengetan haben. „Die Mitglieder dieser Gruppen stammten damals oft aus dem Umfeld der NPD.“ Die rechtsextreme Kleinpartei, die sich 1964 gegründet hatte, verpasste nach ersten Erfolgen 1969 den Einzug in den Bundestag. Das habe in der Szene für Frust gesorgt, sagt Virchow.
Die Gruppen, die oft aus fünf bis 15 Leuten bestanden haben, seien in der Regel antikommunistisch gewesen, hätten Waffen angeschafft – und „bestimmte Personen gezielt auf dem Kieker gehabt. Das ist nicht unbedingt in dem Umfang passiert, wie wir das heute kennen, aber es gibt eine Tradition dieser Feindeslisten“, sagt Virchow. Oft seien die Gruppen aufgeflogen, bevor sie Anschläge verübt hätten.
1969: Als Reaktion auf die Niederlage der NPD bei der Bundestagswahl gründen Mitglieder der Partei die neonazistische „Europäische Befreiungsfront“, kurz EBF. Sie verstehen sich als „Kampfgruppe gegen den Kommunismus“.
Pläne der EBF, im Folgejahr einen Anschlag auf die Stromversorgung eines Auftritts des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt zu verüben, wurden vereitelt. Bei Durchsuchungen fanden die Ermittler neben einem umfangreichen Waffenarsenal auch Dokumente, in denen der Aufbau einer deutschlandweiten Terrororganisation skizziert wurde.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete in ihrer Ausgabe vom 19. Juli 1972: „Angeblich sollten Politiker und Journalisten entführt, innerdeutsche Grenzzwischenfälle mit Waffengewalt provoziert und sogar die Kasseler Spitzengespräche durch Anschläge auf das Stromnetz gestört werden.“
Die 70er Jahre: Wehrsportgruppen und die Professionalisierung rechten Terrors
„Im Laufe der 70er Jahre lässt sich beobachten, wie sich Gruppen professionalisieren, ins Ausland ausweichen, konspirative Wohnungen anmieten“, sagt Fabian Virchow. „Vorsichtig formuliert: ein ‚Lernprozess‘.“
7. November 1970, West-Berlin: Der junge Hilfskrankenpfleger Ekkehard Weil schießt den Wachsoldaten Iwan Iwanowitsch Schtscherbak am Sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten nieder und verletzt ihn lebensgefährlich. Später wird Weil behaupten, er habe „einen kleinen Beitrag dazu leisten [wollen], dass seine heiß geliebte Heimat Berlin nicht die Beute der Sowjetunion werde.“
Weil wurde für diese Tat zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, nach fünf Jahren aber vorzeitig entlassen. Danach verübte er weitere Anschläge in Deutschland und Österreich. Seine Ziele waren vor allem die Wohnhäuser von Menschen jüdischen Glaubens.
Auch wenn es einzeln agierende Täter wie Weil gab, waren die 70er vor allem die Zeit, in der sich zahlreiche rechtsterroristische Gruppierungen und Kampfverbände gründeten: die „Nationale Deutsche Befreiungsbewegung“, die „Nationalsozialistische Kampfgruppe Großdeutschland“, die „Gruppe Neumann“, die „Gruppe Otte“ oder die „Werwolfgruppe Stubbemann“.
Die Mitglieder rekrutierten sich zum Teil aus den Reihen der NPD, aber, im Fall der „Nationalsozialistischen Kampfgruppe Großdeutschland“, auch aus denen der Bundeswehr.
Die Polizei hob im Laufe des Jahrzehnts zahlreiche Waffenlager aus, stellte Sprengstoff sicher, verhinderte Anschläge.
Eine Gruppierung prägte das Jahrzehnt wie keine andere.
Herbst 1973: Der in Nürnberg geborene Grafiker Karl-Heinz Hoffmann gründet die nach ihm benannte „Wehrsportgruppe Hoffmann“ (WSG). Zu den Zielen der Gruppe gehört laut „Manifest“ ein Umsturz des politischen Systems, das durch eine „nach dem Leistungs- und Selektionsprinzip ausgerichtete Führerstruktur“ ersetzt werden soll.
Die WSG war eine Art Privatarmee mit – zur Hochphase – über 400 Mitgliedern, die in den fränkischen Wäldern Waffenübungen durchführten. Hauptquartier der Gruppe war Schloss Ermreuth im oberen Schwabachtal, das zur Zeit des Nationalsozialismus als Gauführerschule gedient hatte.
Anfangs übernahm die WSG unter anderem den „Saalschutz“ für Veranstaltungen rechtsextremer Parteien wie NPD und DVU. Sie prügelte sich mit Demonstrierenden oder lieferte sich auf einer Hitler-Gedenkfeier eine Schlacht mit der Polizei. Später veranstaltet die WSG öffentlichkeitswirksam paramilitärische Trainings.
Mai 1976: Der 19-jährige Bundeswehrgefreite und WSG-Anhänger Dieter Epplen klettert in München über eine Mauer am Englischen Garten. Er hat eine Bombe in der Tasche, sein Ziel ist der US-Soldatensender AFN. Doch der Anschlag scheitert. Epplens selbst gebastelter Sprengkörper explodiert zu früh. Der 19-Jährige überlebt schwer verletzt.
„Das, was sich durch die Jahre durchzieht, ist, dass Leute, die Waffen sammeln oder Sprengstoff horten, mit der extremen Rechten zu tun haben“, sagt Fabian Virchow. „Gleichzeitig wird Mitte der 70er eine bestimmte Generation von Leuten in politischen Strukturen tätig und groß, für die Gewalt zumindest legitim ist, und die unterschiedliche Formen von Gewalt praktizieren.“
In dieser Zeit hatten sich auch Anhänger der NPD in der „Volkssozialistischen Bewegung Deutschlands/Partei der Arbeit“ (VSBD/PdA) zusammengetan und radikalisiert. Die Mitglieder bekannten sich offen zum Nationalsozialismus, suchten öffentlich die gewaltsame Konfrontation mit Linken und verübten vor allem Anfang der 80er teils schwere Straftaten.
Januar 1979: Im Fernsehen wird die WDR-Dokumentation „Endlösung“ gezeigt. Sie soll die deutsche Erstausstrahlung der US-Fernsehserie „Holocaust“ einleiten, das in der Folge Gezeigte durch wissenschaftliche Zeugnisse und Augenzeugenberichte belegen. Ein Meilenstein in der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Doch in etwa 100.000 Haushalten kommt es während der Übertragung zu Unterbrechungen.
Wie sich später herausstellte, hatten Rechtsterroristen zwei ARD-Sendeanlagen in der Nähe von Koblenz und Münster gesprengt. Zu der Tat bekannte sich die Gruppe „Internationale revolutionäre Nationalisten“. Mindestens einer der Männer, Peter Naumann, stammte aus dem Umfeld der NPD.
16 Jahre später führte Peter Naumann Beamte des Bundeskriminalamts und ein ARD-Fernsehteam zu mehreren Waffen- und Sprengstoffdepots, die seinen Angaben zufolge aus den frühen 80er Jahren stammten.
Die 80er Jahre: Vom Oktoberfest-Attentat bis zum Mauerfall
„Nachdem in den 70ern keine einzige rechtsterroristische Organisation verboten wurde, standen die 1980er im Zeichen staatlicher Strafverfahren“, sagt Fabian Virchow.
Den Anfang machte im Januar 1980 die „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Bei Durchsuchungen in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen wurden ein Panzer, mehrere Militärfahrzeuge, Waffen, Uniformen und Propagandamaterial sichergestellt – insgesamt 18 LKW-Ladungen.
Nach dem Verbot setzte sich ein Teil der Gruppe in den Libanon ab – mit dem Ziel, durch terroristische Anschläge in Deutschland einen politischen Umsturz herbeizuführen.
Die WSG sorgte weiter für Schlagzeilen. Doch abseits der Wehrsportgruppen entstanden zunehmend andere Organisationsformen rechten Terrors, sagt Virchow.
Zwischen Februar und August 1980 verübte die Vereinigung „Deutsche Aktionsgruppen“ mehrere Brand- und Sprengstoffanschläge, unter anderem auf eine Auschwitz-Ausstellung im baden-württembergischen Esslingen. Auch Asylunterkünfte wurden zum Ziel.
Kopf der Gruppe war der Rechtsextremist Manfred Roeder, der bereits seit Längerem in der Szene aktiv war und Kontakte zu Extremisten im Ausland geknüpft hatte – unter anderem zum Ku-Klux-Klan und zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO).
22. August 1980: Die beiden vietnamesischen Flüchtlinge Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân sterben bei einem Brandanschlag auf eine Asylunterkunft in Hamburg. Manfred Roeder notiert Stunden später in seinem Taschenkalender: „Heute hat Deutschlands Befreiung begonnen. Der Funke ist übergesprungen.“
Roeder wurde 1982 wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt, doch schon 1990 wegen guter Führung und einer positiven Sozialprognose wieder aus der Haft entlassen.
Dass diese Prognose nicht viel taugte, darf angesichts der weiteren Geschichte Roeders in der rechtsextremen Szene als gesichert gelten.
26. September 1980: In einem Papierkorb am Haupteingang des Münchner Oktoberfests explodiert eine selbst gebaute Bombe. Die Detonation reißt Menschen aus dem Leben und Familien auseinander. 13 Menschen sterben, darunter der Attentäter. Mehr als 200 weitere Menschen werden teils schwer verletzt.
Das „Oktoberfestattentat“ war nicht nur der bis dahin schwerste Terrorakt in der Geschichte der Bundesrepublik, es wurde auch über mehrere Jahrzehnte dazu ermittelt.
1982 waren Ermittler zunächst zu dem Schluss gekommen, der Attentäter Gundolf Köhler, der bei der Explosion selbst ums Leben kam, habe alleine und aus persönlichen Motiven gehandelt.
Köhler war Mitglied der neonazistischen Wiking-Jugend und laut Nachrichtendienstlichem Informationssystem (NADIS) zeitweise „aktiver Anhänger“ der „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Er soll mit Karl-Heinz Hoffmann persönlich im Austausch gestanden haben.
2014 rollte die Bundesanwaltschaft den Fall neu auf und stufte das Attentat im Juli 2020 schlussendlich als rechtsmotivierten Terrorakt ein. Die Frage, ob Köhler alleine gehandelt habe, konnte auch 30 Jahre später nicht abschließend geklärt werden. Die Ermittlungen sind beendet.
19. Dezember 1980: Das WSG-Mitglied Uwe Behrendt erschießt den jüdischen Verleger Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke in der gemeinsamen Erlanger Wohnung. Eine Verwandte findet die beiden nur wenige Minuten nach der Tat.
„Seit den 80ern gehen Neonazis systematischer gegen politische Feinde vor“, sagt Fabian Virchow. Dazu zählten in dieser Zeit insbesondere die politische Linke und Menschen, die an die Shoah erinnerten. „Das war schon ein wichtiger Strang der Aktivität.“
Der Experte geht davon aus, dass an zahlreichen Orten sogenannte Feindeslisten geführt wurden. „Unklar ist allerdings, ob diese schon zentral gesammelt wurden.“
Auch Angehörige der US-Streitkräfte gerieten Anfang der 80er Jahre in den Fokus von Rechtsextremen.
Oktober bis Dezember 1982. Mitglieder einer Vereinigung, die als „Hepp/Kexel-Gruppe“ bekannt ist, bringen Sprengsätze unter den Autos von US-Soldaten im Rhein-Main-Gebiet an. Zwei Soldaten werden schwer verletzt.
Die „Hepp/Kexel“-Gruppe wollte mit rechtem Terror den Abzug der US-Streitkräfte aus der Bundesrepublik erzwingen. Die rechtsextreme Gruppierung orientierte sich in ihrem Manifest „Abschied vom Hitlerismus“ am Antiimperialismus und suchte den Schulterschluss mit der RAF.
Der Terror der „Hepp/Kexel“-Gruppe war akribisch vorbereitet worden: Die Mitglieder, die sich aus verschiedenen bestehenden neonazistischen Gruppierungen rekrutierten (zum Beispiel VSBD und WSG), hatten zuvor im Rhein-Main-Gebiet Wohnungen angemietet und Waffendepots angelegt. Das Geld dafür kam aus Banküberfällen. Sie wurden später allesamt zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt.
Die staatlichen Strafverfahren, die Verbote, die Verhaftungen – all das habe der Szene damals zugesetzt, sagt Virchow. „Man hat sich umorientieren müssen.“ Dass ab Mitte der 80er Jahre rechtsextreme Parteien wie die Republikaner oder die DVU parlamentarische Erfolge feierten, sei als Aufschwung wahrgenommen worden.
Doch dieser Aufschwung sei nichts im Vergleich zu dem gewesen, der folgen sollte.
Die 90er Jahre: „Historischer Optimismus“, Straßengewalt und die Idee vom führerlosen Widerstand
Der Mauerfall markierte Ende 1989 den Anfang vom Ende des Kommunismus im Herzen Europas. Anfang der 90er wurde Deutschland offiziell wiedervereint, während Jugoslawien zerfiel und die Sowjetunion sich langsam auflöste.
„Für die extreme Rechte begann eine Phase, die wir ‚historischer Optimismus‘ nennen“, sagt Fabian Virchow. „Nach dem Motto: Jetzt sieht man, dass sich das völkische Prinzip durchsetzt, jetzt passiert endlich das, wofür wir seit Jahrzehnten eintreten.“ Dieser neue „Optimismus“ wurde von Straßengewalt begleitet.
24. November 1990: Im brandenburgischen Eberswalde rotten sich Skinheads zusammen. Sie wollen „Neger klatschen“ und treffen in der Nacht auf den angolanischen Vertragsarbeiter Amadeu António Kiowa und zwei Männer aus Mosambik. Die Neonazis schlagen auf Kiowa ein, attackieren die beiden Mosambikaner mit Messern. Als Kiowa am Boden liegt, springt einer der Angreifer mit beiden Füßen auf seinen Kopf.
Drei Zivilfahnder beobachten die Tat aus der Nähe. Sie werden später zu Protokoll geben, dass sie sich nicht getraut hätten einzugreifen. Der 28-jährige Amadeu António Kiowa erleidet schwerste Verletzungen und fällt in ein Koma, aus dem er bis zu seinem Tod elf Tage später nicht mehr erwachen wird.
Während Politik und Gesellschaft in den Jahren nach der Wende über das Asylrecht in Deutschland streiten, werden vor allem Asylbewerber und Menschen mit Migrationshintergrund zum Ziel rechtsextremer Ausschreitungen und Anschläge. 1991 in Hoyerswerda, 1992 in Rostock-Lichtenhagen und Mölln.
Der Vorsitzende der rechtsextremistischen Partei „Nationalistische Front“ (NF), Meinolf Schönborn, wollte diese rechtsextreme Gewalt offenbar noch professionalisieren. Im Herbst 1991 rief der ehemalige NPD-Mann zur Gründung sogenannter „Nationaler Einsatzkommandos“ auf – einer Art paramilitärischer Kleingruppen.
In dem von ihm unterzeichneten Aufruf nannte Schönborn als deren Aufgaben die „Aufstellung kadermäßig gegliederter hochmobiler Verbände, Ausbildung von sportlichen und gesunden Kameraden für den politischen Kampf auf der Straße, Planung und Durchführung von überraschend durchgeführten zentralen Aktionen“. Dabei sollten sich die „jungen Nationalisten“ unter anderem ein Beispiel an der Waffen-SS nehmen.
29. Mai 1993: Bei einem Brandanschlag auf ein Wohnhaus in Solingen sterben zwei Frauen und drei Mädchen.
Gürsün Ince, damals 27 Jahre alt.
Hatice Genç, damals 18 Jahre alt.
Gülüstan Öztürk, damals 12 Jahre alt.
Hülya Genç, damals 9 Jahre alt.
Saime Genç, damals 4 Jahre alt.
Sie sterben in den Flammen, sie sterben beim verzweifelten Sprung aus dem Fenster. Weitere Familienmitglieder, darunter weitere Kinder, erleiden teils lebensgefährliche Verletzungen.
„Wir wollen nicht vergessen. Wir wollen nicht wegsehen. Wir wollen nicht schweigen.“ So steht es heute auf einem Mahnmal, das in Solingen an den Anschlag erinnert. Die vier jungen Männer, die für die Tat verurteilt wurden, hatten Kontakte zur rechtsextremen Szene.
Wie schon in den Jahrzehnten zuvor bildeten sich auch in den 90er Jahren zahlreiche rechtsterroristische Gruppierungen. Einige, wie die „Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg“ oder die „Kampfgruppe Schörner“, bezogen sich offen auf den Nationalsozialismus.
Mitte der 90er Jahre entstand in Deutschland ein Ableger des britischen Neonazi-Netzwerks „Blood and Honour“, das sich die Koordination rechtsextremer Musiker, Labels und Konzertveranstalter auf die Fahnen geschrieben hatte. Bis zum Verbot im Jahr 2000 galt die deutsche „Division“ als eine der größten in ganz Europa.
Bands wie „Landser“, „Oidoxie“, „Noie Werte“ und „Weisse Wölfe“ zählen sich teilweise bis heute zur Bewegung „Blood and Honour“. Auch die späteren NSU-Terroristen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wurden vom LKA Thüringen 1998 „zum harten Kern der Blood & Honour-Bewegung“ in Jena gezählt.
Es folgten nicht nur eine Flut an Tonträgern voll rassistischer, NS-verherrlichender Propaganda und eine Fülle von Fanzines und Konzerten. Auch der bewaffnete Arm des Netzwerks, die Rechtsterroristen von „Combat 18“, fassten Fuß in Deutschland. Wieder mit den Musikbands im Zentrum.
19. Februar 1997: Der Neonazi Kay Diesner betritt mit einer Pumpgun bewaffnet die Berliner Buchhandlung des damals 63 Jahre alten Klaus Baltruschat. Der Inhaber nimmt einen Schatten hinter sich wahr, dreht sich um – und Diesner schießt. Der Neonazi flieht und lässt den Buchhändler schwer verletzt zurück.
Vier Tage später kontrolliert die Polizei Kai Diesner auf einem Autobahn-Parkplatz in Schleswig-Holstein. Es kommt zum Schusswechsel. Diesner erschießt den Polizisten Stefan Grage und verletzt dessen Kollegen Stefan Kussauer schwer, bevor er aufgibt. Bei seiner Festnahme spricht er vom „weißen arischen Widerstand“.
Später stellte sich heraus: Der Buchhändler war offenbar nicht das Ziel des Neonazis. Das eigentliche Ziel saß ein Stockwerk höher. Im selben Gebäude in Berlin-Hellersdorf befand sich damals auch die Bezirksgeschäftsstelle der PDS, in der auch der Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi ein Büro hatte.
Diesner gilt heute als Beispiel für einen „einsamen Wolf“, der seine terroristischen Ziele abseits der üblichen Organisationsstrukturen im Verborgenen, ohne Anweisung oder Unterstützung von Dritten umsetzte. Diese Aktionsform wird nach einem Aufsatz des US-amerikanischen Rechtsextremisten Louis Beam „leaderless resistance“ genannt – „führerloser Widerstand“.
„Das traditionelle Organisationsverständnis im Rechtsextremismus ist hierarchisch-autoritär“, sagt Fabian Virchow. „Doch im Laufe der Zeit wurde klar, dass das nicht funktioniert. Es gibt eine ausgeprägte V-Leute-Tätigkeit in der Szene, es gibt profilierungssüchtige Menschen, die man nicht unter einen Hut bekommt.“ Deswegen sollte der Kampf ohne ausgeprägte Hierarchie an die Stelle paramilitärischer Gruppen treten.
Dieses Konzept des führerlosen Widerstands ist in der rechtsextremen Szene intensiv diskutiert worden. „Es versprach, die wichtigsten Probleme zu lösen, und gegenüber staatlichen Repressionen weniger angreifbar zu sein“, sagt Virchow. „Nach dem Motto: Fliegt die eine Zelle auf, kann der Rest weitermachen.“ Das gemeinsame Ziel bestimmt die Angriffswellen. Kein Kommandant.
„Blood and Honour“ und „Combat 18“ adaptieren den „führerlosen Widerstand“ früh in Form von Texten und Taten. Doch eine Gruppe steht in Deutschland wie keine andere für die Umsetzung dieses Konzepts: der Nationalsozialistische Untergrund, kurz NSU.
Die Nullerjahre: Täter unbekannt
Das Jahrzehnt des Rechtsterrorismus, das auf die Jahrtausendwende folgte, stand in der Bundesrepublik im Zeichen zunächst unaufgeklärter Anschläge.
Zwischen Januar 2000 und Januar 2001 wurde Brandenburg von einer Serie rechtsextremer Straftaten erschüttert. Türkische Imbisswagen brannten, ein sowjetisches Soldatengrab wurde geschändet, ein Wohnheim für jüdische Zuwanderer erhielt ein Päckchen mit verdorbenem Fleisch. Dazu kamen Drohbriefe gegen Politiker und die jüdische Gemeinde. Und immer wieder tauchten an für die rechtsextreme Szene wichtigen Gedenktagen Hakenkreuze, NS-Propaganda, antisemitische und rassistische Parolen auf.
An den Tatorten fanden Ermittler Bekennerschreiben, die mit „Nationale Bewegung“ unterzeichnet waren. Die Bundesanwaltschaft übernahm die Ermittlungen, die Täter wurden aber nie gefunden.
In der Zwischenzeit hatte bereits eine andere Serie rechtsextremen Terrors begonnen – auch wenn es Jahre dauerte, bis deren Ausmaß auch nur ansatzweise bekannt wurde.
9. September 2000. Der 38 Jahre alte Blumenhändler Enver Şimşek hält sich in seinem Kleintransporter bei seinem Blumenstand in Nürnberg auf, als plötzlich auf ihn geschossen wird. Aus zwei Pistolen. Neunmal. Obwohl fünf Kugeln seinen Kopf treffen, wird es noch zwei Tage dauern, bis der Familienvater an den Folgen des Mordanschlags stirbt.
Der Mord an Enver Şimşek markierte den Beginn einer Mordserie, für die der Generalbundesanwalt später den Namen „Ceska-Morde“ prägte.
In den folgenden Jahren wurden acht weitere Männer von unmaskierten Tätern erschossen, ihre Leichen teilweise fotografiert.
Ihre Namen lauten:
Abdurrahim Özüdoğru
Süleyman Taşköprü
Habil Kılıç
Mehmet Turgut
İsmail Yaşar
Theodoros Boulgarides
Mehmet Kubaşık
Halit Yozgat
Die Tatwaffe war in allen Fällen eine Česká ČZ 83, Kaliber 7,65 mm Browning.
Die Polizei ermittelte vor allem im persönlichen Umfeld der Mordopfer und verdächtigte teilweise deren Angehörige, die Taten begangen zu haben. In manchen Fällen wurde sogar versucht, Geständnisse zu erzwingen, indem Ermittler die Angehörigen der Opfer mit falschen Behauptungen über die Verstorbenen konfrontierten.
Die mittlerweile verstorbene Münchner Rechtsanwältin Angelika Lex, Nebenklagevertreterin von Yvonne Boulgarides, schrieb dazu: „Die Ermittlungsbehörden haben die Angehörigen nicht als Opfer von rassistischen Gewalttaten wahrgenommen, sondern sie kriminalisiert und diffamiert. […] Nur weil im rassistischen Weltbild dieser Ermittler schlicht nicht vorkam, dass Menschen nichtdeutscher Herkunft Opfer rassistischer Gewalt werden.“
Selbst als ab 2005 teilweise bis zu 160 Polizisten in dem Fall ermittelten, wurde die Möglichkeit rechtsextremer Täter kaum in Betracht gezogen.
6. September 2003: In München nehmen Polizisten Mitglieder einer „Schutzgruppe“ der neonazistischen „Kameradschaft Süd“ fest. Die Beamten stellen sechs Pistolen und Sprengstoff sicher.
Ein Mitglied der Gruppe wird das Beschaffen des Sprengstoffs im folgenden Prozess als Nervenkitzel darstellen: „Andere machen Bungee-Springen, wir machen halt so einen Schmarrn.“
Die „Schutzgruppe“ hatte für den 65. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November einen Anschlag auf die Grundsteinlegung für ein neues jüdisches Gemeindezentrum geplant.
Die Mitglieder hatten sich bereits seit Jahren in den Wäldern um München zu paramilitärischen Übungen getroffen. Im Frühjahr 2003 begannen die Neonazis, die der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein „Braune Armee Fraktion“ nannte, mit dem Horten von Sprengstoff. Neben der jüdischen Gemeinde hatten sie es auch auf Moscheen, Asylbewerberheime und eine griechische Schule abgesehen. Ihr Ziel: ein Staat nach nationalsozialistischem Vorbild.
Der Kopf der Gruppe, Martin Wiese, wurde 2005 unter anderem wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Zur etwa derselben Zeit wurde in Brandenburg einer Gruppe von zwölf Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren der Prozess gemacht. Sie hatten unter dem Namen „Freikorps Havelland“ zwischen 2003 und 2004 zehn Anschläge auf Imbissbuden, Restaurants und Geschäfte von asiatisch- oder türkischstämmigen Besitzern verübt.
Laut dem Oberlandesgericht Brandenburg hatten die Jugendlichen mit den Anschlägen das Ziel verfolgt, „das Havelland von Ausländern zu säubern“.
9. Juni 2004: In der Keupstraße in Köln-Mülheim steht ein Fahrrad vor einem Friseursalon. Auf dem Gepäckträger ist ein Koffer befestigt. In dem Koffer befindet sich eine Gasflasche. Sie ist gefüllt mit fünf Kilogramm Schwarzpulver sowie rund 700 Zimmermannsnägeln, jeder zehn Zentimeter lang.
Als die Bombe gegen 16 Uhr mit der Funkfernsteuerung eines Modellflugzeugs gezündet wird, bersten Scheiben und Nägel fliegen. 22 Menschen werden verletzt. Manche von ihnen schweben zeitweise in Lebensgefahr.
Obwohl das Bundesamt für Verfassungsschutz Parallelen zu den Anschlägen in London sah, die den Rechtsterroristen von „Combat 18“ zugerechnet werden, und obwohl in der Keupstraße viele Menschen mit Migrationshintergrund lebten, wurde auch hier nicht in Richtung Rechtsextremismus ermittelt.
25. April 2007: Die 22-jährige Polizistin Michèle Kiesewetter und ihr Kollege Martin A. parken ihren Streifenwagen auf dem Festplatz der Heilbronner Theresienwiese. Mittagspause. Sie rauchen und reden, während im Hintergrund der Rummel für das anstehende Maifest aufgebaut wird.
Kurz vor 14 Uhr nähern sich zwei Männer und schießen den beiden Polizisten unvermittelt in den Kopf. Sie rauben ihre Dienstwaffen, Magazine und Handschellen. Dann verschwinden sie. Martin A. überlebt schwer verletzt. Michèle Kiesewetter nicht.
Die Ermittler waren ratlos. Als vielversprechendste Spur im Mordfall Michèle Kiesewetter galt lange Zeit die DNA einer unbekannten weiblichen Person, die nicht nur in Heilbronn, sondern auch an 40 weiteren Tatorten im In- und Ausland gefunden worden war.
Dutzende Ermittler suchten nach dieser Frau. In mehreren Ländern. Über Jahre hinweg.
Das „Heilbronner Phantom“ stellte sich letztlich als eine Mitarbeiterin eines Verpackungsbetriebs heraus. Die Frau hatte die Wattestäbchen verpackt, die an den Tatorten zum Einsatz gekommen waren.
Die „Ceska-Morde“, der Nagelbombenanschlag von Köln, der „Polizistenmord von Heilbronn“ – in den Nullerjahren konnten die Täter nicht gefunden werden. Es musste erst ein neues Jahrzehnt anbrechen, bis etwas Licht ins Dunkel kam.
In Form von Mündungsfeuer, Explosionen und Flammen.
Die 2010er Jahre: Zwischen Bekennervideos, „Manifesten“ auf Imageboards und der „Gamification of Terror“
4. November 2011: In Eisenach wird eine Bank überfallen. Die beiden Täter fliehen gegen 9.30 Uhr auf ihren Fahrrädern in Richtung ihres etwas weiter weg geparkten Wohnmobils. Gegen 12 Uhr nähern sich Polizisten dem Fahrzeug – und hören drei Schüsse aus dem Inneren. Dann fängt das Wohnmobil Feuer.
Am selben Tag, gegen 15 Uhr, kommt es im fast 200 Kilometer entfernten Zwickau zu einer Explosion in einer Wohnung, die das gesamte Gebäude in Brand setzt. Das Dachgeschoss, in dem zu diesem Zeitpunkt zwei Handwerker arbeiten, wird durch den Druck kurzzeitig angehoben.
Polizeibeamte fanden in dem ausgebrannten Wohnmobil später die Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, zwei Rechtsextremisten aus Jena, die 1998 abgetaucht waren, um sich einem Haftbefehl zu entziehen. Außerdem befanden sich in dem Wagen mehrere Waffen – Pumpguns, eine Maschinenpistole und die Dienstwaffen von Michèle Kiesewetter und ihrem Kollegen Martin A.
In den Trümmern der Zwickauer Wohnung entdeckten Polizisten weitere Waffen. Eine davon war eine Česká ČZ 83, Kaliber 7,65 mm Browning.
Außerdem fanden die Ermittler mehrere DVDs. Auf allen war der gleiche, etwa 15 Minuten lange Film gespeichert, an dessen Beginn folgende Worte über den Bildschirm flackern: „Der Nationalsozialistische Untergrund ist ein Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz ‚Taten statt Worte‘.“
Und noch etwas tauchte im Rahmen der Ermittlungen auf: mögliche weitere Anschlagsziele. Stadtpläne mit Ausspähnotizen zu fast 200 Objekten und Straßen. Eine Liste mit Namen und Adressen von 88 Menschen. Darunter Bundestagsabgeordnete, Repräsentanten des muslimischen Glaubens und des türkischen Staates. Eine weitere Liste mit 10.000 Adressen von Politikern, Glaubensgemeinschaften, Parteien und Vereinen, die sich dem Kampf gegen den Rechtsextremismus verschrieben hatten.
Vier Tage später, am 8. November 2011, stellte sich die Komplizin von Mundlos und Böhnhardt, Beate Zschäpe, in Jena der Polizei. Die Terrorzelle NSU war aufgeflogen.
Ermittlungen, Gerichtsverhandlungen, Untersuchungsausschüsse: Der NSU beschäftigte die Behörden jahrelang – und tut es immer noch. Die Rechtsterroristen wurden für die „Ceska-Morde“, die Ermordung Michèle Kiesewetters und 43 Fälle versuchten Mordes verantwortlich gemacht; für den Nagelbombenanschlag in Köln-Mülheim ebenso wie für zwei weitere Sprengstoffattentate in Köln und Nürnberg.
Doch vieles im Zusammenhang mit dem Nationalsozialistischen Untergrund bleibt bis heute ein Rätsel. Das liegt auch an den Sicherheitsbehörden, deren Kompetenz im Umgang mit rechtem Terror, aber auch an deren Willen zur Aufklärung, die der NSU-Komplex mehrfach infrage stellte.
Die Rolle des Verfassungsschutzes, insbesondere der Umgang mit V-Leuten, war über die Jahre ebenso Thema in den Untersuchungsausschüssen der Länder wie Ungereimtheiten, Versäumnisse und Fehler bei den Ermittlungen – bis hin zu Aktenvernichtung beim Bundesamt für Verfassungsschutz.
Ungeklärt ist auch, wie viel Hilfe die Rechtsterroristen, die in der rechtsextremen Szene bestens vernetzt waren, bei ihren Taten hatten. Experten hatten das Umfeld mal auf etwa 100, mal auf bis zu 200 Personen geschätzt. Dazu zählen auch V-Leute der Verfassungsschutzbehörden. Einige Experten zweifeln zudem daran, dass es sich bei dem NSU nur um ein Trio gehandelt hatte.
Am 11. Juli 2018 wurde Beate Zschäpe unter anderem wegen zehnfachen Mordes, mehreren Fällen von versuchtem Mord, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und schwerer Brandstiftung zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das Gericht stellte in vielen Fällen die besondere Schwere der Schuld fest.
Es war das Ende des größten Strafverfahrens, das Deutschland seit seiner Wiedervereinigung gesehen hatte. Vier weitere als Gehilfen angeklagte Männer erhielten jeweils mehrjährige Haftstrafen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
In der Zwischenzeit hatte in Deutschland eine weitere Entwicklung ihren Lauf genommen, in der Rechtsextremismus-Experte Fabian Virchow Parallelen zum „historischen Optimismus“ der Nachwendejahre sieht.
Seit dem Jahr 2013 haben Rechtsextremisten im Berliner Stadtteil Neukölln über 70 Angriffe verübt, darunter mehr als 20 Brandstiftungen. Sie bedrohten Menschen mit dem Tod und erstellten Feindeslisten.
Im Jahr 2015 wurden in Deutschland knapp 900.000 Schutzsuchende registriert. Die darauf folgende politische und gesellschaftliche Debatte wird häufig unter dem umstrittenen Begriff „Flüchtlingskrise“ zusammengefasst. Eine Partei profitierte wie keine andere von dieser Entwicklung: die „Alternative für Deutschland“, kurz AfD.
In der rechtsextremen Szene habe sich daraufhin eine Stimmung breitgemacht, die immer zwischen zwei Polen pendle, sagt Fabian Virchow. „Auf der einen Seite wird eine drohende Apokalypse durch ‚Überfremdung‘ imaginiert, auf der anderen entsteht durch den Aufstieg der AfD, Pegida & Co. der Eindruck: Jetzt kann die große Wende gelingen.“
2015 hoben Ermittler die neonazistische Terrororganisation „Oldschool Society“ aus, die Anschläge auf Moscheen, Kirchen, Kindergärten, Asylunterkünfte und Behindertenheime geplant haben soll. Man wollte die Taten später Linken und Muslimen in die Schuhe schieben.
2015 verübten in Sachsen Rechtsterroristen der „Gruppe Freital“ Sprengstoffanschläge auf Asylunterkünfte, politische Gegner und Menschen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagierten.
2015 bis Anfang 2016 griffen Rechtsextremisten der „Freien Kameradschaft Dresden“ Asylbewerberheime an, waren an gewalttätigen Ausschreitungen beteiligt und attackierten Polizisten und politische Gegner.
Einer, der sich in dieser Zeit lautstark gegen rassistische Hetze und für die Aufnahme von Geflüchteten einsetzte, war der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke.
Während einer Informationsveranstaltung zu einer geplanten Erstaufnahmeeinrichtung im hessischen Lohfelden im Oktober 2015 reagierte der CDU-Politiker auf Zwischenrufe und Beschimpfungen mit einer Verteidigung des ehrenamtlichen Engagements der Zivilgesellschaft.
Lübckes Rede endete mit den Sätzen: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“
Eine Freiheit, wie er später betonte, die Geflüchtete in ihrer Heimat nicht hätten.
Die Sätze Walter Lübckes verbreiteten sich rasend schnell über rechte Kanäle, häufig in verfälschter Form, teilweise unter Nennung seiner Adresse.
Walter Lübcke erhielt in der Folge Hassmails und Morddrohungen – über Jahre hinweg.
22. Juli 2016: Der 18-jährige David S. tötet bei einem rechtsextremen Attentat an und im Münchener Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen. Fünf weitere Menschen werden durch Schüsse verletzt, viele weitere auf der Flucht oder infolge der ausbrechenden Panik. Als Polizisten ihn stellen, erschießt David S. sich selbst.
Dass S. die Tat auf den Tag genau fünf Jahre nach dem rechtsextremen Attentat in Norwegen verübte, bei dem 77 Menschen getötet worden waren, ist kein Zufall. Wie sich im Laufe der Ermittlungen herausstellte, verehrte S. den dafür verantwortlichen Rechtsterroristen Anders B., hinterließ sogar wie sein Vorbild eine Art „Manifest“ voll rassistischer Hetze. Trotzdem gingen die Ermittler lange von einem „Racheakt“ aus.
Fabian Virchow forscht aktuell mit englischen Kollegen zu diesen „Manifesten“, die von Rechtsterroristen in den 2010er Jahren mehrfach hinterlassen wurden. „Die Idee, das zu erklären, das zu rechtfertigen – das ist in der Tat neu“, sagt er.
Im Gespräch nennt Virchow drei zentrale Aspekte dieser Art von Texten: „Da ist der ideologische Bestandteil – ich erkläre die Gefahr, erzähle gegebenenfalls, wie es anders aussehen könnte. Da ist der mobilisierende Charakter – jetzt muss etwas getan werden, sonst ist es zu spät. Und da ist der Teil, in dem die Täter nachvollziehbar machen, wie sie zu ihrer Bewaffnung gekommen sind – teilweise in Form von Bauanleitungen.“
1. Juni 2019: Walter Lübcke wird zwischen 23.20 und 23.30 Uhr auf der Terrasse seines Kasseler Wohnhauses aus nächster Nähe erschossen, während im Haus seine Familie schläft. Etwa drei Stunden später stellen Ärzte in der Klinik seinen Tod fest.
Der Rechtsextremist Stephan Ernst, dessen DNA am Tatort gesichert wurde, schilderte nach seiner Festnahme und später vor Gericht mehrere Versionen des Tathergangs. Erst gestand er den Mord an Walter Lübcke. Dann widerrief er das Geständnis, nur um den wegen Beihilfe angeklagten Markus H. als Haupttäter darzustellen. Schließlich gestand er erneut, den tödlichen Schuss abgegeben zu haben.
Stephan Ernst war wegen rassistischer Angriffe vorbestraft. Er hatte Verbindungen zur rechtsextremen Szene und besaß mehrere Waffen. Er hatte eine Liste mit Namen von „potenziellen Anschlagszielen“ geführt.
„Dass mittlerweile auch verstärkt Politiker angegriffen werden, die wie Walter Lübcke eine liberale Flüchtlingspolitik vertreten, ist, zumindest in der Umsetzung, ein neues Phänomen“, sagt Fabian Virchow. „Eine ideologische Grundlage dafür findet sich aber auch schon in den Handreichungen von ‚Blood & Honour‘ oder den Schriften zum führerlosen Widerstand.“ Dort werde vom „race traitor“ gesprochen – dem „Verräter der (eigenen) Rasse“.
Lübckes Tod löste eine Vielzahl von Debatten aus. Über die Bedrohungslage von (Kommunal-)Politikern. Über die Verantwortung der sozialen Medien. Und die Rolle der AfD. Stephan Ernst unterstützte die Partei 2018 im hessischen Landtagswahlkampf und besuchte deren Demonstrationen. Den Ermittlern erzählte er später, eine AfD-Demo in Chemnitz habe eine zentrale Rolle bei seinem Entschluss gespielt, Walter Lübcke zu töten.
Am 28. Januar 2020 wurde Stephan Ernst vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt wegen der Ermordung Walter Lübckes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Eine anschließende Sicherungsverwahrung bleibt unter Vorbehalt. In einem weiteren Anklagepunkt, dem versuchten Mord an dem Iraker Ahmed I., wurde Stephan Ernst freigesprochen.
Der Mitangeklagte Markus H. wurde vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord an Lübcke freigesprochen, aber wegen eines Waffendelikts zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die auf Bewährung ausgesetzt wurden.
Sowohl die Bundesanwaltschaft, die Familie Walter Lübckes und Ahmed I., als auch Stephan Ernst und Markus H. haben Revision eingelegt.
Immer wieder führte die Spur rechten Terrors in den 2010er-Jahren auch in deutsche Sicherheitsbehörden.
Der rechtsextremen Prepper-Gruppe „Nordkreuz“, die sich mit dem Horten von Waffen auf den „Tag X“ vorbereitete und Leichensäcke für politische Gegner bereithielt, gehörten Polizisten und Soldaten an. Wie viele Rechtsterroristen vor ihnen, hatten auch die „Nordkreuz“-Mitglieder Feindeslisten angelegt. 2017 flog die Gruppe auf.
2018 begann eine Serie von Mord- und Anschlagsdrohungen. Die Drohungen wurden überwiegend per Mail versandt und unter anderem mit „NSU 2.0“ unterzeichnet. Adressiert waren sie anfangs an die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız und andere, die Opferfamilien im NSU-Prozess vertreten hatten. Später kamen weitere Personen des öffentlichen Lebens dazu, die sich gegen Rassismus und Antisemitismus und für die Rechte geflüchteter Menschen einsetzen.
Die Drohschreiben enthielten persönliche Informationen, die nicht öffentlich zugänglich sind und – so der heutige Stand der Ermittlungen – teilweise zuvor von Polizeicomputern in Hessen und Berlin abgerufen worden waren.
Im Mai 2021 nahmen Ermittler einen arbeitslosen Mann fest, der verdächtigt wurde, die insgesamt über 100 Drohschreiben verfasst zu haben. Die Hintergründe, insbesondere die Frage, wie der Verdächtige an die Daten aus den Polizeicomputern gelangt sein soll, waren damals noch nicht abschließend geklärt.
Untersuchungen des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Deutschen Bundestags kamen im Dezember 2020 zu dem Schluss, „dass in der Bundeswehr sowie in unterschiedlichen Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern (Polizei und Nachrichtendienste) […] eine Reihe von Beschäftigten mit rechtsextremistischem – auch gewaltorientiertem – Gedankengut tätig sind“.
9. Oktober 2019: Ein 27-Jähriger versucht, in eine Synagoge in Halle an der Saale einzudringen. Drinnen feiern über 50 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Menschen, die der 27-Jährige mit einer selbst gebauten Waffe töten will. Der Attentäter scheitert an der Tür, erschießt daraufhin erst die 40 Jahre alte Passantin Jana L. und später in einem Dönerimbiss den 20 Jahre alten Kevin S.
Seine grausamen Taten überträgt er per Helmkamera als Livestream. Bis zwei Polizisten ihn schließlich festnehmen.
Auch der Attentäter von Halle hatte eine Art „Manifest“ vorbereitet, in dem er seinen Rassismus und Antisemitismus ausbreitete. Er wollte nach eigener Aussage die „Moral anderer unterdrückter Weißer“ erhöhen und so viele nicht-weiße Menschen töten wie möglich – „vorzugsweise Juden“.
Im Dezember 2020 wurde der Attentäter zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest.
Der Anschlag von Halle steht in einer Reihe mit rechten Terrorakten im neuseeländischen Christchurch und im US-amerikanischen El Paso aus dem Jahr 2019. Sie machten deutlich, dass sich junge Männer abseits behördlich bekannter rechtsextremer Strukturen auf Imageboards und Gaming-Plattformen radikalisieren. Manche Experten sprechen im Zusammenhang mit diesen Anschlägen von einer „Gamification of Terror“.
„Dieser Wettkampfcharakter ist neu“, sagt Fabian Virchow. Der Attentäter von Halle zeigte seine Taten mittels Helmkamera aus einer Perspektive, die wohl nicht zufällig an Ego-Shooter erinnert. Er fügte seinem „Manifest“ eine Liste mit sogenannten „Achievements“ bei – virtuelle Trophäen, die für das Erreichen bestimmter Ziele an die Spieler in Video- und Computerspielen verliehen werden. Nur dass seine Ziele die Tode realer Menschen waren.
Die 2020er Jahre: Das Rechtsterrorismus-Problem
14. Februar 2020, fünf Tage vor dem Anschlag von Hanau: Bei Razzien in sechs Bundesländern werden zwölf Männer festgenommen, die im Verdacht stehen, gemeinsam Anschläge auf Moscheen und politische Gegner geplant zu haben. Die Ermittler finden bei Durchsuchungen Waffen und Sprengstoff.
Die Behörden hatte die Männer, die teils der rechtsextremen und der Reichsbürger-Szene angehörten, seit ihrem ersten persönlichen Treffen im baden-württembergischen Rems-Murr-Kreis auf dem Schirm. Im November erhob der Generalbundesanwalt Anklage gegen elf mutmaßliche Mitglieder sowie einen mutmaßlichen Unterstützer der „Gruppe S.“.
In einer Pressemitteilung hieß es dazu: „Die Gründungsmitglieder zielten darauf ab […] die Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu erschüttern und letztlich zu überwinden.“ Durch das massenhafte Töten von Muslimen sollten „bürgerkriegsähnliche Zustände“ herbeigeführt werden. „Es wurde auch erwogen, gewaltsam gegen politisch Andersdenkende vorzugehen.“
Nach Informationen des „Spiegel“ fanden die Ermittler bei einem der Angeklagten Videos der Anschläge von Christchurch und Halle, die der Gruppe S. offenbar als Vorbild dienten.
Rechter Terror ist längst ein internationales Phänomen. Die menschenverachtende Ideologie, die ihm zugrunde liegt, findet den Weg in die Köpfe der Täter auf allen erdenklichen Wegen.
Ein Jahr nach dem rechtsextremen Terroranschlag von Hanau sagte Filip Goman, Vater von Mercedes Kierpacz, im Gespräch mit dem Schweizer Radio und Fernsehen: „Wissen Sie, mein Großvater wurde in Auschwitz von den Nazis vergast. Und meine Tochter wird von einem Rechtsterroristen in Hanau erschossen. Wieso?“
Rechter Terror hat eine Geschichte in Deutschland. Eine Geschichte, die dieser Text nur im Ansatz, nur lückenhaft anhand einiger zentraler Beispiele erfassen kann.
„Wenn im Verfassungsschutzbericht steht, dass von 10.000 Neonazis die Hälfte gewaltbereit ist, ist das eine hohe Zahl. Aber die Zahl derer, die in diesem Land bereit sind oder es befürworten, Gewalt gegen ‚Volksfeinde‘ einzusetzen, ist meines Erachtens fünfstellig“, sagt Fabian Virchow. „Man muss zur Kenntnis nehmen, dass in der BRD eine zahlenmäßig relevante Minderheit nach wie vor völkischem Gedankengut anhängt und die imaginierte völkische Reinheit teilweise mit Gewalt herstellen und verteidigen will.“
Diese Minderheit sei so groß, dass man sie unmöglich überwachen könne, so Virchow. „Wenn ein Bürger Mitte 50, der nie in der rechtsextremen Szene aktiv war, losgeht und einem Geflüchteten ins Gesicht schießt oder Menschen überfährt, kann der Staat diesen Menschen selbst bei ausgeweiteter Überwachung nicht auf dem Schirm haben.“
Die politische Aufgabe müsse laut Virchow daher sein, die Vorstellung, dass es so etwas wie homogene Völker gäbe, die ihren ethnischen Kern verteidigen müssten, zu überwinden.
„Das kann kurzfristig dazu führen, dass diejenigen, die daran festhalten wollen, diese Vorstellung umso heftiger verteidigen“, sagt Virchow. „Ich glaube, man müsste noch offensiver plausibel machen, dass Deutschland eine Gesellschaft vieler Minderheiten wird. Wir sind eine Migrationsgesellschaft.“
Dass das keine einfache Aufgabe ist, das ist auch dem Experten bewusst. „Es braucht Sensibilität, gesellschaftliche Tabus und politischen Mut“, sagt er. „Dass dieser Mut zurzeit fehlt, hat meiner Einschätzung nach auch mit der AfD zu tun.“
Fabian Virchow empfiehlt daher – „banal aber wichtig“ –, den demokratischen Teil der Gesellschaft zu stärken. „Diejenigen, die dagegenhalten: politische Bildung, Opferberatung, Minderheiten.“ Denn um die Auseinandersetzung komme man nicht herum. „Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Patentrezepte hätten. Wohl wissend, dass es die gar nicht geben kann.“
Rechter Terror wird nicht einfach verschwinden.