Lübcke-Mord: Kontakte ins NSU-Umfeld
Gegen Mitternacht, am 1. Juni 2019, sackt der frühere Kasseler Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke in einem Stuhl auf der Terrasse seines Wohnhauses zusammen, getötet durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe. Ermordet hat ihn der langjährige Rechtsextremist Stephan Ernst. Wegen psychischer Beihilfe war zudem der Neonazi Markus H. angeklagt. Ernst hatte behauptet, gemeinsam mit H. gehandelt zu haben, und so sahen es auch die Bundesanwaltschaft und die Familie Lübcke.
Der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt sah das anders und sprach Markus H. von dem Vorwurf der Beihilfe frei. Das Gericht verurteilte den Neonazi lediglich wegen eines Waffendelikts zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Stephan Ernst wurde wegen der Ermordung Walter Lübckes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Eine anschließende Sicherungsverwahrung bleibt unter Vorbehalt. Es war nicht der einzige Fall, wegen dem Ernst in Frankfurt vor Gericht stand.
Auch wegen versuchten Mordes an dem Iraker Ahmed I. hatte die Bundesanwaltschaft ihn angeklagt. Ein Radfahrer hatte Ahmed I. im Januar 2016 von hinten ein Messer vier Zentimeter tief in den Rücken gerammt. Das Gericht sprach Ernst in diesem Anklagepunkt frei.
Mit diesem Urteil ging der Prozess in Frankfurt im Januar 2020 zu Ende. Doch neben der Bundesanwaltschaft legten auch alle weiteren Beteiligten Revision ein.
Stephan Ernst ist deutschen Ermittlungsbehörden schon lange bekannt, aber bisher haben die Sicherheitsbehörden keine besondere Nähe zum NSU festgestellt. Interne Dokumente belegen, dass die persönlichen Verbindungen des Lübcke-Attentäters aus Kassel zu NSU-Netzwerken im nahe gelegenen Thüringen intensiver waren als bisher bekannt. Die Angeklagten wollten sich auf Nachfrage von CORRECTIV nicht äußern.
Allein bis zum Jahr 2009 gab es im polizeilichen Informationssystem POLAS 37 Einträge über Stephan Ernst. Der hessische Verfassungsschutz zählt über 60 Rechtsradikale zum Personenkreis um Ernst und seinen Bekannten Markus H., wie CORRECTIV aus dem Lübcke-Untersuchungsausschuss in Hessen erfuhr. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz war durch Quellenmeldungen über Stephan Ernst informiert. Insgesamt 13 solcher Meldungen mit Bezug auf Ernst lagen dem Amt vor dem Mord an Lübcke vor.
Für Beobachter liegt nahe, dass Ernst in all den Jahren als aktiver Rechtsextremist auch in Kontakt mit dem NSU-Umfeld kommen musste. Die terroristische Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“, kurz NSU, hatte von 2000 bis 2007 aus rassistischen Motiven zehn Menschen ermordet, Sprengstoffanschläge verübt und Banken ausgeraubt. Unter den Opfern waren Menschen türkischer, kurdischer, griechischer und iranischer Herkunft. Das Kerntrio, Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, hatte in dieser Zeit unterstützt durch ein Helfernetzwerk in Thüringen im Untergrund gelebt.
Dass die rechtsextreme Szene in Kassel gut mit Thüringer Kameraden vernetzt war, als der NSU untertauchte und mordete, ist bekannt. NSU-Untersuchungsausschüsse haben sich mit der Aufarbeitung dieser Verbindungen befasst. So dokumentiert der Abschlussbericht des hessischen Ausschusses gemeinsame rechtsextreme Aufmärsche, Gewalttaten und Feiern mit Saufgelagen. Das alles in einer Zeit, in der Ernst und auch sein Kumpel H. in der Kameradschaftsszene in Kassel aktiv waren, sich in der Szene auch kennenlernten. In dieser Zeit mordete der NSU aus Thüringen über viele Jahre unerkannt, auch in Kassel.
Wie nah stand Ernst dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ und lebt das Terrornetzwerk bis heute weiter?
Martina Renner, stellvertretende Vorsitzende der Linken und ehemalige Obfrau in NSU-Untersuchungsausschüssen, stellt regelmäßig Anfragen an die Bundesregierung zu Straf- und Gewalttaten mit NSU-Bezug. Die Bundestagsabgeordnete kommt zu dem Ergebnis, dass der NSU auch heute noch ein „wichtiger ideologischer Bezugspunkt“ für die extreme Rechte ist. „Man bezieht sich bei konkreten Straftaten und Gewalttaten als Referenz auf den NSU“, sagt sie.
Der hessische Verfassungsschutz hat eine eindeutige Position. Das Amt konnte bisher auch mit einer eigens eingerichteten sogenannten Sonderauswertungsgruppe „keine NSU-Bezüge der Angeklagten“ feststellen, wie der Verfassungsschutz bereits 2019 bekannt gegeben hatte. Dass diese Einschätzung noch heute gilt, bestätigte das Amt jetzt erneut auf Anfrage gegenüber CORRECTIV.
CORRECTIV-Recherchen ergeben jetzt ein anderes Bild.
CORRECTIV sichtete Dutzende, teils geheime Dokumente und Vernehmungsprotokolle sowie Fotos und Recherchen anderer Medien. Sie zeigen in der Zusammenschau: Ernst und auch Markus H. bewegten sich offenbar näher als bisher angenommen im Umfeld der terroristischen Vereinigung.
Das beginnt bei den persönlichen Bekanntschaften von Ernst mit vier Rechtsextremisten, die von der Bundesanwaltschaft als wichtigste Personen in den Ermittlungen zum NSU-Komplex eingestuft wurden. Sie alle stehen auf einer entsprechenden Liste der Bundesanwaltschaft, die CORRECTIV vorliegt und neben dem NSU-Kerntrio insgesamt 35 Personen umfasst, darunter die engsten und zum Teil später verurteilten Unterstützer des Trios.
Unter den NSU-Anschlagsorten ist Kassel die einzige Stadt, aus der Personen auf dieser Liste aufgeführt werden. Die Bundestagsabgeordnete Renner schlussfolgert deshalb, dass die Bundesanwaltschaft „möglicherweise ein sehr viel engeres Verhältnis des NSU nach Kassel als in die neonazistischen Szenen in den anderen Tatorten“ vorausgesetzt habe.
Neben den vier Bekannten und Freunden von Ernst gibt es zu weiteren Personen auf der Liste Verbindungen über Veranstaltungen, Organisationen und Kontakte.
Der ehemalige V-Mann Benjamin Gärtner mit dem Tarnnamen „Gemüse“ steht auf Platz elf der Liste zu den NSU-Kontakten. Damit gehört er zu dem Personenkreis, dem die Bundesanwaltschaft eine „besondere Bedeutung“ beimisst. Über die rechtsextreme Kameradschaftsszene in Kassel kennen sich Gärtner und Stephan Ernst persönlich, wie Ernst später vor dem Oberlandesgericht Frankfurt berichtet. Brisant ist der Kontakt zu Gärtner auch, weil dessen V-Mann-Führer Andreas Temme war, ehemaliger Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz und am Tatort bei einem der NSU-Morde anwesend. Ernst habe Temme aber nicht gekannt, gab er vor Gericht an.
Dem Spiegel gegenüber teilte ein Anwalt von Ernst jedoch mit, dass in Gesprächen zwischen Gärtner und Ernst auch der Name Temme gefallen sei.
Gespräche von Gärtner und Stephan Ernst über den Verfassungsschützer Temme sind deshalb so brisant, weil Temme und Gärtner später bei dem NSU-Mord in Kassel 2006 noch eine entscheidende Rolle einnehmen werden. Anders als bei den vorherigen Morden des NSU hat die Mordkommission in Kassel schnell einen Tatverdächtigen ermittelt, es ist der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme. Er hielt sich zum Zeitpunkt des Mordes am Tatort auf, meldete sich aber nicht als Zeuge. Am Tag des Mordes telefonierte er mehrmals mit seinem V-Mann Gärtner, den Ernst kannte. Eines der Gespräche dauerte über elf Minuten. Bei Durchsuchungen im Zuge der Ermittlungen gegen ihn werden neben Schusswaffen auch Nazi-Dokumente wie Auszüge aus „Mein Kampf“ und ein Buch über Serienmörder bei ihm gefunden.
Vor dem zweiten Untersuchungsausschuss des Bundestages berichtet der damalige Leiter der Ermittlungen zum Kasseler NSU-Mord, dass sie bei den Ermittlungen auch die Hypothese gehabt hätten, dass mit Temme ein „verkappter Rechter“ beim Hessischen Landesamt für Verfassungsschutz tätig sei.
2007 wird das Verfahren gegen Temme eingestellt. Er wechselt ins Regierungspräsidium in Kassel, wo er auch heute noch arbeitet. Es ist die Behörde, deren oberster Vorsitzender 2009 Walter Lübcke wird. Die Rolle Temmes bei dem Mord in Kassel ist bis heute ungeklärt. Fest steht, Ernst war über den V-Mann „Gemüse“ mit dem Umfeld von Temme verbunden.
Der führende Neonazi Thorsten Heise ist die Nummer zehn auf der Liste der Bundesanwaltschaft und gehört damit ebenfalls zum Personenkreis mit „besonderer Bedeutung“. Ihm spricht die Zeitung Welt eine Art „Mentor“-Rolle für Stephan Ernst zu und dokumentiert zahlreiche Zusammenkünfte der beiden Neonazis zwischen 2001 und 2011 unter Berufung auf Unterlagen des Verfassungsschutzes. Vor Gericht berichtet Ernst, auch wegen einer „Hausverteidigung“ bei Heise zu Hause gewesen zu sein. Es sei damals darum gegangen, Heises Anwesen gegen Linke zu verteidigen.
Thorsten Heise gilt als entscheidender Führungskader der extremen Rechten in Deutschland. Was wusste er über den NSU und die Morde der Terrorbande, bevor diese öffentlich bekannt wurden? Ein verurteilter NSU-Unterstützer sagte nach seiner Verhaftung 2011 aus, er habe mit Heise bei „zwei, drei“ Treffen über eine mögliche Flucht des NSU-Kerntrios ins Ausland gesprochen und Heise habe gesagt, er hätte da jemanden, bei dem die drei auf einer Farm leben könnten. Auch Tino Brandt, ein ehemaliger V-Mann und Anführer des „Thüringer Heimatschutzes“, in dem auch das NSU-Kerntrio Mitglied war, sprach noch 2007 mit Heise über das Trio.
Das geht aus Tonbandaufnahmen hervor, die bei Thorsten Heise sichergestellt wurden. Die Aufnahmen lassen den Verdacht aufkommen, dass Heise zu diesem Zeitpunkt möglicherweise von den Morden des Trios wusste. Heise zweifelt in dem Gespräch jedoch daran, dass die Taten dem Trio zugeordnet werden können. Bis Polizei und Öffentlichkeit erfahren, dass „die drei verschwundenen Jenaer“, über die Heise und Brandt sprechen, für die Morde, Sprengstoffanschläge und Banküberfälle verantwortlich sind, werden noch vier Jahre vergehen, weil fatalerweise genau dieses „zuordnen“, von dem Heise spricht, nicht gelang.
Noch 2011 besuchte Ernst eine von Heise organisierte Sonnenwendfeier in Thüringen. Das belegt ein Foto von der Feier, das dem Verfassungsschutz vorliegt und auch Thema im Gerichtsprozess war. Das Foto ordnete der Geheimdienst jedoch nicht Stephan Ernst zu. So kam das Amt 2015 zu der Einschätzung, Ernst sei „abgekühlt“, – also nicht mehr in der extremistischen Szene aktiv. Die Beobachtung von Ernst wurde eingestellt, seine Akte gesperrt. Dass diese Einstufung eine Fehleinschätzung war, belegt auf dramatische Weise die Ermordung Lübckes.
In der rechtsextremen Kameradschaftsszene in Kassel war der geständige Lübcke-Mörder Stephan Ernst auch mit zwei weiteren Rechtsextremen bekannt, die ebenfalls auf der NSU-Umfeld-Liste der Bundesanwaltschaft stehen. Einer davon gab bei einer polizeilichen Vernehmung und vor dem hessischen Untersuchungsausschuss an, er glaube Mundlos und Böhnhardt bei einem Konzert im Jahr 2006 gesehen zu haben. Das Konzert sei in Kassel gewesen, vielleicht aber auch in Thüringen.
Noch weitere Hinweise deuten darauf hin, dass die NSU-Terroristen schon vor dem Mord in Kassel waren. Die Kasseler rechtsextreme Kameradschaftsszene, über die Ernst auch seinen Kumpel Markus H. kennenlernt, ist in dieser Zeit sehr gut nach Thüringen vernetzt.
Während der NSU in den Nullerjahren Anschlagsziele auskundschaftet, Sprengstoffanschläge verübt und mordet, sammelt auch Stephan Ernst Informationen über seine verhassten Feinde und notiert sie als „potenzielle Anschlagsziele“, wie die Bundesanwaltschaft in der Anklageschrift, die CORRECTIV vorliegt, festhält.
Beim NSU tauchte unter den potenziellen Anschlagszielen auch der Name Walter Lübckes auf, den Ernst Jahre später ermordet. Die NSU-Terroristen notierten sich aber für Kassel neben weiteren Adressen auch die der lokalen jüdischen Gemeinde. Genau zu dieser Adresse besaß auch Stephan Ernst Notizen, die auf das Ausspähen der Synagoge der Gemeinde hindeuten. Ermittler fanden die Notizen, neben Informationen zu rund 60 weiteren Namen und Institutionen, auf einem verschlüsselten USB-Stick, der bei Ernst sichergestellt wurde.
Auch bei der Verteidigung im Mordprozess zum Fall Lübcke gibt es Parallelen zum NSU-Komplex. Markus H., der Freund von Ernst, wird vor Gericht von der Anwältin Nicole Schneiders vertreten, die im NSU-Prozess in München Ralf Wohlleben vertrat. Wohlleben war, wie möglicherweise Markus H. im Mordfall Lübcke, beim NSU in die Beschaffung der Tatwaffe involviert und wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Schneiders kannte Wohlleben aus der Jenaer NPD, sie war dort stellvertretende Vorsitzende, als Wohlleben den Posten des Kreisvorsitzenden innehatte. Der zweite Verteidiger von Markus H., Björn Clemens, war 2018 kurzzeitig Wahlverteidiger von André E., der zu der Zeit Angeklagter im NSU-Prozess war.
Stephan Ernst wurde vor Gericht zeitweise von Dirk Waldschmidt vertreten, der im NSU-Prozess als Rechtsbeistand von André K. auftrat. K. hatte dem Trio im Untergrund geholfen. Vor Waldschmidt, ehemals Vize-Chef der hessischen NPD, soll sich Ernst auch selbst mit Wohlleben verglichen haben, wie dieser vor Gericht aussagte.
Ernst und der NSU, Kassel und Thüringen, der Lübcke-Mord und die NSU-Taten: Die Indizien sind erdrückend, dass es sich um dasselbe Umfeld handelte, in dem sich die Mörder radikalisierten. Die Verbindungen zu Personen, die sowohl mit dem NSU-Trio als auch mit Ernst zu tun hatten, zeigen deutlich, wie eng das Netzwerk gestrickt war, in dem nach wie vor ungeklärt ist, welche Rolle der Verfassungsschutz spielt.
Nach dem Ende des Gerichtsprozesses gegen Ernst und Markus H. müssen diese Verbindungen weiter aufgeklärt werden. Der Untersuchungsausschuss des Landtages in Hessen kann das angehen.
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Diese Recherche wurde gefördert durch ein Stipendium des Vereins für Recherche und Reportage e.V./Brost-Stiftung.