Neue Rechte

Lübcke-Mord: Kontakte zu NSU-Umfeld weitreichender als bisher angenommen

Der geständige Mörder des Kasseler CDU-Politikers Walter Lübcke ist nicht nur ein langjähriger Gewalttäter und Rechtsextremist, er hatte auch persönliche Bekanntschaften im NSU-Umfeld. Zudem gab es auffällige Verbindungen zu Personen rund um den NSU-Mord in Kassel, wie interne Dokumente zeigen.

von Nathan Niedermeier

NSU-Illu
© Janosch Kunze für CORRECTIV

Update 28.01.2021: Der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts hat das Urteil im Lübcke-Prozess am 28. Januar verkündet. Der Senat verurteilte Stephan Ernst wegen der Ermordung Walter Lübckes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Eine anschließende Sicherungsverwahrung bleibt unter Vorbehalt. In dem Anklagepunkt des versuchten Mordes an Ahmed I. wurde Stephan Ernst freigesprochen. Den Mitangeklagten Markus H. sprach der Senat wegen des Vorwurfes der Beihilfe an dem Mord an Lübcke frei. Wegen eines Waffendelikts wurde Markus H. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wird.

Gegen Mitternacht, am 1. Juni 2019, sackt der frühere Kasseler Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke in einem Stuhl auf der Terrasse seines Wohnhauses zusammen, getötet durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe. Ermordet hat ihn der langjährige Rechtsextremist Stephan Ernst, das gilt inzwischen als sicher. Wegen psychischer Beihilfe ist zudem der Neonazi Markus H. angeklagt. Ernst behauptet, gemeinsam mit H. gehandelt zu haben und so sehen es auch die Bundesanwaltschaft und die Familie Lübcke. „Ohne H. hätte es den Mord nicht gegeben“ sagte der Anwalt der Familie, Holger Matt, in seinem Schlussplädoyer. Das Gericht wird das Urteil im Fall Lübcke voraussichtlich am 28. Januar fällen.

Stephan Ernst steht auch wegen eines weiteren Tatvorwurfs vor Gericht: Gegen 22 Uhr am 6. Januar 2016 fällt Ahmed I. auf einem Bürgersteig in Kassel zu Boden. Ein Radfahrer hatte ihm von hinten ein Messer vier Zentimeter tief in den Rücken gerammt. Versuchter Mord, so lautet die Anklage gegen Ernst.

Verhandelt werden diese beiden Fälle seit Juni in einem Prozess vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt. Die Bundesanwaltschaft fordert lebenslange Haft und anschließende Sicherungsverwahrung für Stephan Ernst und für Markus H. neun Jahre und acht Monate Haft. In dem Plädoyer hatte die Bundesanwaltschaft Ende Dezember vor dem Oberlandesgericht auch ausgeführt, dass die Ermordung Lübckes in der Tradition des von Rechtsextremisten propagierten „führerlosen Widerstands“ stehe. Auf diesem Prinzip beruhte auch der Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds, kurz NSU.

Ernst ist deutschen Ermittlungsbehörden schon lange bekannt, aber bisher haben die Sicherheitsbehörden keine besondere Nähe zum NSU festgestellt. Interne Dokumente belegen, dass die persönlichen Verbindungen des Lübcke-Attentäters aus Kassel zu NSU-Netzwerken im nahe gelegenen Thüringen intensiver waren als bisher bekannt. Die Angeklagten wollten sich auf Nachfrage von CORRECTIV nicht äußern.

Ein Umfeld mit vielen gemeinsamen Bekannten

Allein bis zum Jahr 2009 gab es im polizeilichen Informationssystem POLAS 37 Einträge über Stephan Ernst. Der hessische Verfassungsschutz zählt über 60 Rechtsradikale zum Personenkreis um Ernst und seinen mutmaßlichen Helfer Markus H., wie CORRECTIV aus dem Lübcke-Untersuchungsausschuss in Hessen erfuhr. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz war durch Quellenmeldungen über Stephan Ernst informiert. Insgesamt 13 solcher Meldungen mit Bezug zu Ernst lagen dem Amt vor dem Mord an Lübcke vor.

Für Beobachter liegt nahe, dass Ernst in all den Jahren als aktiver Rechtsextremist auch in Kontakt mit dem NSU-Umfeld kommen musste. Die terroristische Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“, kurz NSU, hatte von 2000 bis 2007 aus rassistischen Motiven neun Menschen und eine Polizistin ermordet, Sprengstoffanschläge verübt und Banken ausgeraubt. Unter den Opfern waren Menschen türkischer, kurdischer, griechischer und iranischer Herkunft. Das Kerntrio, Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe hatte in dieser Zeit unterstützt durch ein Helfernetzwerk in Thüringen im Untergrund gelebt.

Dass die rechtsextreme Szene in Kassel gut mit Thüringer Kameraden vernetzt war, als der NSU untertauchte und mordete, ist bekannt. NSU-Untersuchungsausschüsse haben sich mit der Aufarbeitung dieser Verbindungen befasst. So dokumentiert der Abschlussbericht des hessischen Ausschusses gemeinsame rechtsextreme Aufmärsche, Gewalttaten und Feiern mit Saufgelagen. Das in einer Zeit, in der Ernst und auch sein mutmaßlicher Helfer H. in der Kameradschafts-Szene in Kassel aktiv sind, sich darüber auch kennenlernen. In dieser Zeit mordete der NSU aus Thüringen über viele Jahre unerkannt, auch in Kassel.

Hessischer Verfassungsschutz sieht „keine NSU-Bezüge“

Wie nah stand Ernst und auch sein mutmaßlicher Helfer dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ und lebt das Terrornetzwerk bis heute weiter?

Martina Renner, stellvertretende Vorsitzende der Linken und ehemalige Obfrau in NSU-Untersuchungsausschüssen, stellt regelmäßig Anfragen an die Bundesregierung zu Straf- und Gewalttaten mit NSU-Bezug. Die Bundestagsabgeordnete kommt zu dem Ergebnis, dass der NSU auch heute noch ein „wichtiger ideologischer Bezugspunkt“ für die extreme Rechte ist. „Man bezieht sich bei konkreten Straftaten und Gewalttaten als Referenz auf den NSU“, sagt sie.

Der hessische Verfassungsschutz hat eine eindeutige Position. Das Amt konnte bisher auch mit einer eigens eingerichteten sogenannten Sonderauswertungsgruppe „keine NSU-Bezüge der Angeklagten“ feststellen, wie der Verfassungsschutz bereits 2019 bekannt gegeben hatte. Dass diese Einschätzung noch heute gilt, bestätigte das Amt jetzt erneut auf Anfrage gegenüber CORRECTIV.

CORRECTIV-Recherchen ergeben jetzt ein anderes Bild.

CORRECTIV sichtete dutzende, teils geheime Dokumente und Vernehmungsprotokolle sowie Fotos und Recherchen anderer Medien. Sie zeigen in der Zusammenschau: Ernst und auch H. bewegten sich offenbar näher als bisher angenommen im Umfeld der terroristischen Vereinigung.

Das beginnt bei den persönlichen Bekanntschaften von Ernst mit vier Rechtsextremisten, die von der Bundesanwaltschaft als wichtigste Personen in den Ermittlungen zum NSU-Komplex eingestuft wurden. Sie alle stehen auf einer entsprechenden Liste der Bundesanwaltschaft, die CORRECTIV vorliegt und neben dem NSU-Kerntrio insgesamt 35 Personen umfasst, darunter die engsten und teils später verurteilten Unterstützer des Trios.

Unter den NSU-Anschlagsorten ist Kassel die einzige Stadt, aus der Personen auf dieser Liste aufgeführt werden. Die Bundestagsabgeordnete Renner schlussfolgert deshalb, dass die Bundesanwaltschaft „möglicherweise ein sehr viel engeres Verhältnis des NSU nach Kassel als in die neonazistischen Szenen in den anderen Tatorten“ vorausgesetzt habe.
Neben den vier Bekannten und Freunden von Ernst gibt es zu weiteren Personen auf der Liste Verbindungen über Veranstaltungen, Organisationen und Kontakte.

Beispiel Gärtner: Der V-Mann

Der ehemalige V-Mann Benjamin Gärtner mit dem Tarnnamen „Gemüse“ steht auf Platz 11 der Liste zu den NSU-Kontakten. Damit gehört er zu dem Personenkreis, dem die Bundesanwaltschaft eine „besondere Bedeutung“ beimisst. Über die rechtsextreme Kameradschaftsszene in Kassel kennen sich Gärtner und Stephan Ernst persönlich, wie Ernst später vor dem Oberlandesgericht Frankfurt berichtet. Brisant ist der Kontakt zu Gärtner auch, weil dessen V-Mann-Führer Andreas Temme war, ehemaliger Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz und am Tatort bei einem der NSU-Morde anwesend. Ernst habe Temme aber nicht gekannt, gab er vor Gericht an.
Dem Spiegel gegenüber teilte ein Anwalt von Ernst jedoch mit, dass in Gesprächen zwischen Gärtner und Ernst auch der Name Temme gefallen sei.

Gespräche von Gärtner und Stephan Ernst über den Verfassungsschützer Temme sind deshalb so brisant, weil Temme und Gärtner später bei dem NSU-Mord in Kassel 2006 noch eine entscheidende Rolle einnehmen werden. Anders als bei den vorherigen Morden des NSU hat die Mordkommission in Kassel schnell einen Tatverdächtigen ermittelt, es ist der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme. Er hielt sich zum Zeitpunkt des Mordes am Tatort auf, meldete sich aber nicht als Zeuge. Am Tag des Mordes telefonierte er mehrmals mit seinem V-Mann Gärtner, den Ernst kannte. Eines der Gespräche dauerte über elf Minuten. Bei Durchsuchungen im Zuge der Ermittlungen gegen ihn werden neben Schusswaffen auch Nazi-Dokumente wie Auszüge aus „Mein-Kampf“ und ein Buch über Serienmörder bei ihm gefunden.

Vor dem zweiten Untersuchungsausschuss des Bundestages berichtet der damalige Leiter der Ermittlungen zum Kasseler NSU-Mord, dass sie bei den Ermittlungen auch die Hypothese gehabt hätten, dass mit Temme ein „verkappter Rechter“ beim Hessischen Landesamt für Verfassungsschutz tätig sei.

2007 wird das Verfahren gegen Temme eingestellt. Er wechselt ins Regierungspräsidium in Kassel, wo er auch heute noch arbeitet. Es ist die Behörde, dessen oberster Vorsitzender 2009 Walter Lübcke wird. Die Rolle Temmes bei dem Mord in Kassel ist bis heute ungeklärt. Fest steht, Ernst war über den V-Mann „Gemüse“ mit dem Umfeld von Temme verbunden.

Beispiel Heise: Der Neonazi

Der führende Neonazi Thorsten Heise ist die Nummer 10 auf der Liste der Bundesanwaltschaft und gehört damit ebenfalls zum Personenkreis mit „besonderer Bedeutung“. Ihm spricht die Zeitung Welt eine „Art Mentor“-Rolle für Stephan Ernst zu und dokumentiert zahlreiche Zusammenkünfte der beiden Neonazis zwischen 2001 und 2011 unter Berufung auf Unterlagen des Verfassungsschutzes. Vor Gericht berichtet Ernst auch wegen einer „Hausverteidigung“ bei Heise zuhause gewesen zu sein. Es sei damals darum gegangen, Heises Anwesen gegen Linke zu verteidigen.

Thorsten Heise gilt als entscheidender Führungskader der extremen Rechten in Deutschland. Was wusste er über den NSU und die Morde der Terrorbande, bevor diese öffentlich bekannt wurden? Ein verurteilter NSU-Unterstützer sagte nach seiner Verhaftung 2011 aus, er habe mit Heise bei „zwei, drei“ Treffen über eine mögliche Flucht des NSU-Kerntrios ins Ausland gesprochen und Heise habe gesagt, er hätte da jemandem, bei dem die drei auf einer Farm leben könnten. Auch Tino Brandt, ein ehemaliger V-Mann und Anführer des „Thüringer Heimatschutzes“, in dem auch das NSU-Kerntrio Mitglied war, sprach noch 2007 mit Heise über das Trio.

Das geht aus Tonbandaufnahmen hervor, die bei Thorsten Heise sichergestellt wurden. Die Aufnahmen lassen den Verdacht aufkommen, dass Heise zu diesem Zeitpunkt möglicherweise von den Morden des Trios wusste. Heise zweifelt in dem Gespräch jedoch daran, dass die Taten dem Trio zugeordnet werden können. Bis Polizei und Öffentlichkeit erfahren, dass „die drei verschwundenen Jenaer“, über die Heise und Brandt sprechen, für die Morde, Sprengstoffanschläge und Banküberfälle verantwortlich sind, werden noch vier Jahre vergehen, weil fatalerweise genau dieses „zuordnen“, von dem Heise spricht, nicht gelang.

Noch 2011 besuchte Ernst eine von Heise organisierte Sonnenwendfeier in Thüringen. Das belegt ein Foto von der Feier das dem Verfassungsschutz vorliegt und auch Thema im Gerichtsprozess war. Das Foto ordnete der Geheimdienst jedoch nicht Stephan Ernst zu. So kam das Amt 2015 zu der Einschätzung Ernst sei „abgekühlt“, – also nicht mehr in der extremistischen Szene aktiv. Die Beobachtung von Ernst wurde eingestellt, seine Akte gesperrt. Dass diese Einstufung eine Fehleinschätzung war, belegt auf dramatische Weise die Ermordung Lübckes.

In der rechtsextremen Kameradschaftsszene in Kassel war der geständige Lübcke-Mörder Stephan Ernst auch mit zwei weiteren Rechtsextremen bekannt, die ebenfalls auf der NSU-Umfeld-Liste der Bundesanwaltschaft stehen. Einer davon gab bei einer polizeilichen Vernehmung und vor dem hessischen Untersuchungsausschuss an, er glaube Mundlos und Böhnhardt bei einem Konzert im Jahr 2006 gesehen zu haben. Das Konzert sei in Kassel gewesen, vielleicht aber auch in Thüringen.

Noch weitere Hinweise deuten darauf hin, dass die NSU-Terroristen schon vor dem Mord in Kassel waren. Die Kasseler rechtsextreme Kameradschafts-Szene, über die Ernst auch seinen mutmaßlichen Helfer Markus H. kennenlernt, ist in dieser Zeit sehr gut nach Thüringen vernetzt.

Dieselben Namen auf den Todeslisten

Während der NSU in den 2000er-Jahren Anschlagsziele auskundschaftet, Sprengstoffanschläge verübt und mordet, sammelt auch Stephan Ernst Informationen über seine verhassten Feinde und notiert sie als „potenzielle Anschlagsziele“, wie die Bundesanwaltschaft in der Anklageschrift, die CORRECTIV vorliegt, festhält.

Beim NSU tauchte unter den potenziellen Anschlagszielen auch der Name Walter Lübckes auf, den Ernst Jahre später ermordet. Die NSU-Terroristen notierten sich aber für Kassel neben weiteren Adressen auch die der lokalen Jüdischen Gemeinde. Genau zu dieser Adresse besaß auch Stephan Ernst Notizen, die auf das Ausspähen der Synagoge der Gemeinde hindeuten. Ermittler fanden die Notizen, neben Informationen zu rund 60 weiteren Namen und Institutionen, auf einem verschlüsselten USB-Stick, der bei Ernst sichergestellt wurde.

Seltsamer Zufall oder alte Bekannte?

Auch bei der Verteidigung im Mordprozess zum Fall Lübcke gibt es Parallelen zum NSU-Komplex. Markus H., der mutmaßliche Komplize von Ernst, wird vor Gericht von der Anwältin Nicole Schneiders vertreten, die im NSU-Prozess in München Ralf Wohlleben vertrat. Wohlleben war, wie mutmaßlich Markus H. im Mordfall Lübcke, beim NSU in die Beschaffung der Tatwaffe involviert und wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Schneiders kannte Wohlleben aus der Jenaer NPD, sie war dort stellvertretende Vorsitzende, als Wohlleben den Posten des Kreisvorsitzenden innehatte. Der zweite Verteidiger von Markus H., Björn Clemens, war 2018 kurzzeitig Wahlverteidiger von André E., der zu der Zeit Angeklagter im NSU-Prozess war.

Stephan Ernst wurde vor Gericht zeitweise von Dirk Waldschmidt vertreten, der im NSU- Prozess als Rechtsbeistand von André K. auftrat. K. hatte dem Trio im Untergrund geholfen. Vor Waldschmidt, ehemals Vize-Chef der hessischen NPD, soll sich Ernst auch selbst mit Wohlleben verglichen haben, wie dieser vor Gericht aussagte.

Ernst und der NSU, Kassel und Thüringen, der Lübcke-Mord und die NSU-Taten: Die Indizien sind erdrückend, dass es sich um dasselbe Umfeld handelte, in dem sich die Mörder radikalisierten. Die Verbindungen zu Personen, die sowohl mit dem NSU-Trio als auch mit Ernst zu tun hatten, und die nun immer mehr ans Licht kommen, zeigen deutlich, wie eng das Netzwerk ist, in dem nach wie vor ungeklärt ist, welche Rolle der Verfassungsschutz spielt.

Nach dem Ende des Gerichtsprozesses gegen Ernst und Markus H. müssen diese Verbindungen weiter aufgeklärt werden. Der Untersuchungsausschuss des Landtages in Hessen kann das angehen.

Wie kam es zu diesen und weiteren Verbindungen von Ernst zum NSU-Umfeld und wie eng waren sie? Wir erzählen im Folgenden die Chronologie einer Radikalisierung. Sie ist zugleich eine Dokumentation über eine stark verwobene rechtsradikale Szene, über Treffpunkte, gemeinsame Sonnenwendfeiern und Besuche zwischen Kassel und dem nahe gelegenen Thüringen.

Es beginnt mit Rohrbomben

Im April 1989 legt der 15-jährige Stephan Ernst Feuer im Keller des Wohnhauses eines türkischen Mitschülers. Drei Jahre später sticht Ernst einem türkischen Imam auf einer Toilette im Wiesbadener Bahnhof mit einem Messer nieder und verletzt den Mann lebensgefährlich.

Ernst interessiert sich in dieser Zeit für die Partei „Die Republikaner“, wie er in der Verhandlung am Oberlandesgericht Frankfurt berichtet. Bei der Kommunalwahl 1989 im Rheingau-Taunus-Kreis, wo Ernst aufwächst, holt die Partei um den ehemaligen und mittlerweile verstorbenen SS-Mann Franz Schönhuber 10,5 Prozent. Und auch mit seiner frühen Gewaltbereitschaft und Affinität zu Waffen ist Ernst nicht alleine. Vor Gericht beschreibt er, wie die rechtsextremen Jugendlichen, mit denen er in dieser Zeit zusammen unterwegs ist, immer Messer dabei gehabt hätten. 1990 hatte der Rechtsextremist Alexander T. bei Koblenz den 17-jährigen Kurden Nihat Yusufoğlu mit einem Messer erstochen. T. zählte damals zum Umfeld der rechten Hooligan-Gruppe Taunusfront.

Mit seinen rechtsextremen Freunden geht Ernst noch einen Schritt weiter, er bastelt mit ihnen an Böllern und Rohrbomben. Eine solche Rohrbombe platziert Ernst 1993 in einem Auto vor einer Unterkunft für Asylsuchende, doch der Anschlag misslingt. Es ist eine Zeit, in der in ganz Deutschland Unterkünfte für Geflüchtete von Rechtsextremen in Brand gesetzt werden. Bei einem dieser Anschläge in Mölln sterben die drei Türkinnen Bahide Arslan, Ayşe Yılmaz und Yeliz Arslan. Die Mädchen Ayşe und Yeliz sind da gerade erst 14 und 10 Jahre alt.

Zwei Jahre nach dem Rohrbombenanschlag von Ernst gründen die späteren NSU-Terroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhard und Beate Zschäpe 1995 zusammen mit Kameraden wie André K., Holger Gerlach und Ralf Wohlleben die Kameradschaft Jena, die sich bald dem Thüringer Heimatschutz (THS) anschließt. Angeführt wird dieser Zusammenschluss von Kameradschaften von dem V-Mann Tino Brandt, der mit dem Trio auch nach deren Untertauchen 1998 in Kontakt stand. Wie Ernst beginnen auch die Jenaer mit dem Basteln von Rohrbomben, zünden sie jedoch nicht, sondern platzieren sie als Attrappen, zum Beispiel vor dem Theaterhaus in Jena.

Die Feindeslisten der Rechtsextremen

Zu Beginn der 1990er-Jahre bewegt sich der mutmaßliche Helfer von Ernst, Markus H., im Umfeld der rechtsextremen „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP). Ein ehemaliger V-Mann beschrieb die Partei als „reine Kopie der NSDAP“, sie wird 1995 verboten.

Ein Jahr zuvor, 1994, sind zwei Parteimitglieder der FAP, Mario S. und Tobias N., bei Markus H. zu Hause in Fuldatal nördlich von Kassel. Zusammen hören sie laut rechtsradikale Musik. Die Polizei rückt daraufhin an und stellt 16 Schallplatten mit rechtsextremer Musik sicher.

Mario S. verantwortet in dieser Zeit im rechtsextremen Thule-Netz die Internet-Mailbox „Steiner BBS“. Das Thule-Netz wird zu der Zeit genutzt, um Adressen von politischen Feinden zu sammeln, Anti-Antifa-Arbeit wie es die Rechtsextremen nennen.

Auch Stephan Ernst wird später, als er in der rechtsextremen Kameradschaftszene aktiv ist, Objekte ausspähen und Listen von Menschen anlegen, gegen die sich sein Hass richtet. Er sammelt Informationen zu Personen jüdischen Glaubens, Politikern, politisch Engagierten und Journalisten. Es ist die Zeit, in der auch der NSU seine Opfer auswählt, auskundschaftet und ermordet. Eine solche „Feindesliste“ mit 200 Personen und Adressen schickt ein V-Mann, Andree Z., Ende der 1990er-Jahre „Zum Verwenden und Verbreiten“ an den verdeckten Ermittler des Verfassungsschutzes und ebenfalls Anti-Antifa-Aktivisten Kai Dalek. Mit der Überschrift „Organisationen gegen Deutschland“ wird diese Liste dann im Thule-Netz veröffentlicht.

Unter den Adressen sind solche, die später auch in den rund 10.000 Einträgen umfassenden Listen des NSU als potenzielle Anschlagsziele geführt wurden, auch die eines Kasseler Lehrers. 2003 wird auf diesen Lehrer in seinem Wohnhaus geschossen, die Kugel verfehlt nur knapp seinen Kopf. Auch auf den Listen von Ernst taucht diese Adresse auf. Ernst beteuert jedoch, dass nicht er auf den Lehrer geschossen habe und dass er den Schützen nicht kenne. Mario S., der Bekannte von Markus H., übernimmt 1997 die Betreuung der „Thule-Netz“-Webseite. Auch danach noch bleibt die Anti-Antifa-Adressliste online.

Wie umfangreich waren die Überschneidungen der NSU-Feindeslisten und der von Ernst gesammelten Adressen? Die jüdische Gemeinde in Kassel notierten die NSU-Terroristen neben weiteren Kasseler Adressen in ihren Listen. Auf dem verschlüsselten USB-Stick mit den Feindeslisten von Ernst finden sich auch Ausspähnotizen zu der Synagoge der Gemeinde an eben jener Adresse. Solche Ausspähnotizen notierte sich auch der NSU zu potenziellen Anschlagszielen. Dort heißt es etwa über einen Kiosk in Dortmund: „Sehr gutes Objekt. Guter Sichtschutz. Person gut, aber alt“.
Auch Walter Lübcke befindet sich unter den tausenden von Namen, die der NSU sammelte. Er ist in den 1990er-Jahren viele Jahre lang Leiter einer Jugendbildungseinrichtung des Landes Thüringen in Ohrdruf im Landkreis Gotha.

Walter Lübcke als Jugendleiter in Thüringen

Auch in der Kleinstadt Ohrdruf gab es damals eine Nazi-Zelle, wie sich Anja Zachow erinnert, die heutige Landesgeschäftsführerin der SPD Thüringen. In der Region bildet sich in dieser Zeit eine Sektion des Thüringer Heimatschutzes (THS) um Patrick W., der heute für die NPD im Stadtrat in Eisenach sitzt. Das „Nationale und soziale Aktionsbündnis Westthüringen“ (NSAW), wie sich die Sektion um W. nennt, soll schwarze Listen von politischen Gegnern angelegt haben und schikanierte diese mit nächtlichen Drohanrufen und E-Mails, unterschrieben waren diese mit „Patrick“, wie sich Zachow erinnert.

Im Sommer 2000 hatte Patrick W. einen Kameraden dazu angestiftet, einen Sprengstoffanschlag auf einen türkischen Imbiss in Eisenach zu verüben. Er wird deshalb zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Nach der Haft ist er in Ohrdruf und Umgebung aktiv. 2005 organisiert er zusammen mit NPD und THS-Kadern eine Kundgebung in der Kleinstadt. Ein Jahr zuvor hatte W. eine Veranstaltung in Gotha angemeldet, zu der auch NSU-Unterstützer Wohlleben gekommen war. Beide kennen sich über die NPD.

Die Veranstaltung in Gotha meldete W. zum Gedenken an Rudolf Heß an. Der einstige Stellvertreter von Adolf Hitler in der NSDAP wird von der Szene als Held verehrt. Bei Märschen anlässlich des Todestages des Nationalsozialisten Heß versammeln sich seit seinem Tod regelmäßig Neonazis und Rechtsextreme. Auch Stephan Ernst nimmt 2002 an einem solchen „Gedenkmarsch“ im bayrischen Wunsiedel teil, wie vor ihm auch 1996 die NSU-Terroristen Zschäpe und Mundlos.

Die Bedrohungen von rechts in Westthüringen richteten sich in den 90ern auch gegen die Junge Union, wie sich Michael Panse, heutiger Stadtrat von Erfurt, erinnert. Panse war damals Vorsitzender der JU und organisierte zusammen mit Walter Lübcke Veranstaltungen in der Jugendbildungsstätte in Ohrdruf. An Bedrohungen gegen Lübcke als Person könne er sich nicht erinnern, aber es gab auch Veranstaltungen mit Security, sagt Panse. Der städtische Jugendclub in Ohrdruf und auch ein anderer Jugendclub in der Region werden hingegen von rechten Jugendlichen brutal angegriffen.

Die Jugendbildungseinrichtung in Ohrdruf, dessen Leiter Lübcke war, wird Ende der 90er-Jahre geschlossen, damit endet seine Tätigkeit in Thüringen. 1999 wird er für die CDU in den hessischen Landtag gewählt. Sein späterer Mörder, Stephan Ernst, wird in der gleichen Zeit aus der Haft entlassen und zieht nach Kassel. Zuvor hatte er noch in der Haft mit einem abgebrochenen Stuhlbein auf einen türkischen Mitgefangenen eingeschlagen. Während der Haft hatte er auch seine Frau kennengelernt.

„Nationaler Untergrund“ in Kassel

Im Gefängnis hatte Ernst einen Leserbrief an die rechtsextreme Zeitschrift „Nation und Europa“ geschrieben. In einem Bericht des bayerischen Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2000 wird die Zeitschrift als „eines der wichtigsten rechtsextremistischen Theorie- und Strategieorgane“ bezeichnet. Im Verlag der Zeitschrift arbeitete Tino Brandt. Auch das NSU-Kerntrio bezieht die Broschüre, sie wird 1998 in der Bombenwerkstatt-Garage des Trios gefunden, zusammen mit sechs Rohrbomben und 1,5 kg TNT.

Eine solche Menge an Sprengstoff enthielt etwa auch die Oktoberfest-Bombe. Bei dem Anschlag 1980 sprengte sich der Rechtsextremist Gundolf Köhler am Haupteingang zum Oktoberfest in die Luft. Er riss sich und zwölf weitere Menschen in den Tod, es gab über 200 teils schwer Verletzte. Der Attentäter war Mitglied der rechtsextremen „Wehrsportgruppe Hoffmann“, die den bewaffneten Kampf gegen den Staat trainierte. Zu dem Anführer der 1980 verbotenen Gruppe, Karl-Heinz Hoffmann, hatte auch Stephan Ernst Briefkontakt.

Während 1998 in der Garage die Bomben und das TNT gefunden werden, läuft noch eine weitere Durchsuchung, und zwar bei Familie Böhnhardt. Doch dank diverser desaströser Pannen der Polizei kann Uwe Böhnhardt an diesem Tag vor den Augen der Beamten mit dem Auto davon fahren und taucht ab. Zusammen mit Mundlos und Zschäpe geht er in den „Untergrund“, die ersten Jahre leben sie in Chemnitz. Insgesamt knapp 13 Jahre werden die Bombenbastler und Terroristen nicht gefunden. Zwei Jahre nach der Durchsuchung der Garagen wird der NSU seinen ersten Mord begehen, in Nürnberg bringen sie Enver Şimşek um.

Ende der 1990er-Jahre berichten zwei verschiedene Quellen dem hessischen Verfassungsschutz, dass in Kassel ein „nationaler Untergrund“ existiere. Dass man dabei sei, eine „Untergrundorganisation“ aufzubauen, die früher in Nordhessen ansässig gewesen sei, jetzt aus dem Osten agiere und wichtige Dinge in Kassel geregelt würden. Beide Quellen nennen Dirk W. in diesem Zusammenhang, der zeitweise zur polizeilichen Beobachtung mit dem Vermerk „Terrorist“ ausgeschrieben war. Er war auch stellvertretender hessischer Landesvorsitzender der neonazistischen Partei FAP, mit der auch Markus H. in Verbindung stand. Nach dem Verbot der FAP gründete W. die „Kameradschaft Gau Kurhessen“, die sich laut einem Bericht des BKA aus ehemaligen Mitgliedern der Partei zusammensetzt und in der auch Markus H. Mitglied gewesen sein soll. Die Lebensgefährtin von Dirk W., Corryna G., ist wie W. bestens vernetzt mit führenden Nazi-Kadern in ganz Deutschland. Die gebürtige Thüringerin war laut LKA Thüringen Mitglied im „Thüringer Heimatschutz“.

Auf einer Hochzeit geht es auch um das NSU-Trio

Im Jahr 1999 nimmt Corryna G. an der Hochzeitsfeier des bundesweit bekannten Neonazikaders Thorsten Heise teil. An diesem Abend, dem 12. Juni, versammelt sich bei Heise das Who-is-Who der deutschen Neonaziszene. Der mittlerweile verstorbene ehemalige Bundesvorsitzende der verbotenen FAP, Friedhelm Busse, und Tobias N., ein Bekannter von Markus H., kommen. N. spielt inzwischen als Bassist in der „Blood and Honour“-Band „Hauptkampflinie“. Auch der zeitweise Bundesvorsitzender von „Blood and Honour“ aus Kassel kommt zu der Feier. Er war früher ebenfalls in der FAP und bewegt sich im Kreis von Dirk W.’s Kasseler Kameradschaft „Gau Kurhessen“. Das Unterstützernetzwerk des NSU-Kerntrios bestand zu einem großen Teil aus „Blood and Honour“ Kadern. Ein internationales Netzwerk aus Rechtsextremen und Neonazis, das in Deutschland im Jahr 2000 verboten wird. Neben „Blood and Honour“ Funktionären reist auch Tino Brandt zusammen mit Kameraden des „Thüringer Heimatschutzes“ an. Noch ein weiterer für die Behörden wichtiger V-Mann aus Thüringen ist bei der Feier. Er war wie auch Heise selbst, vor dem Verbot Führungsfunktionär bei der FAP und hatte Kontakte zum Trio.

Auch der verurteilte NSU-Unterstützer Holger Gerlach ist unter den Hochzeitsgästen. Wohlleben hatte ihn zuvor darüber informiert, dass der Kontakt zum Trio wieder hergestellt sei und Thorsten Heise sich bereit erklärt habe, Unterstützung für einen Auslandsaufenthalt des Trios zu leisten, wie V-Mann Tino Brandt dem Verfassungsschutz berichtet. Gerlach berichtet nach seiner Festnahme 2011 in einer Vernehmung, dass Heise ihm an dem Abend gesagt habe, er hätte da jemanden, bei dem die drei auf einer Farm leben könnten. Zur Kontaktaufnahme habe Heise ihm eine Telefonnummer für einen Anschluss in Südafrika gegeben. Es habe „zwei, drei Treffen“ mit ihm und Heise gegeben, aber aus dem Auslandsaufenthalt sei dann nichts geworden, weil es nichts für das NSU-Trio gewesen sei.

Nur wenige Jahre später lernen sich auch Ernst und Heise in Kassel persönlich kennen. Stephan Ernst findet nach der Haft sehr schnell Anschluss an die rechte Szene in Kassel. „National eingestellte“ Mitgefangene aus der Technoszene, wie es Ernst vor Gericht behauptet, hätten ihn auf Partys eingeladen, auf denen er dann auch NPD-Mitglieder kennengelernt habe. Die hätten ihn dann zu ihren Stammtischen mitgenommen. Im Oktober 2000 wird er als Mitglied in die rechtsextreme Partei aufgenommen.

Bei einem Stammtisch des Kasseler Kreisverbandes trifft Ernst im November 2001 auf den führenden NPD-Funktionär Thorsten Heise, wie die Welt unter Berufung auf Unterlagen des Verfassungsschutzes berichtet. Heise war erst kurz zuvor aus der Haft entlassen worden, während der er auch Briefkontakt mit Holger Gerlach hatte. Unter der Überschrift „Haftadressen 3.4.2000“ notierte Heise Gerlachs Namen an erster Stelle in einem schwarzen Notizbuch, das im Rahmen von Durchsuchungen später bei Heise gefunden wird. Gerlach, der mit Heise über die Flucht des NSU-Kerntrios sprach, nahm im Sommer 2002 zweimal an Kameradschaftsabenden von Heise teil. Die beiden Rechtsextremisten waren also bestens vernetzt in der Zeit, in der auch Stephan Ernst immer mehr mit Heise zu tun hat. Erst ein Jahr zuvor, 2001, hatte Gerlach dem Trio in Zwickau seinen Reisepass übergeben und 3000 Euro von den Terroristen erhalten. Im gleichen Zeitraum liefert er im Auftrag von Ralf Wohlleben eine Pistole an das Trio. Bis ins Jahr 2011 übergibt er dem Trio immer wieder Ausweisdokumente von ihm, über die etwa Wohnmobile für die Morde angemietet werden.

Bei einer NPD-Demonstration im Juni 2001 in Göttingen, als Heise noch in Haft saß, liefen hinter dem Transparent „Freiheit für Thorsten Heise“ auch Thüringer Rechtsextreme. Sie hatten ein Transparent des „Nationalen und sozialen Aktionsbündnisses Westthüringen“ dabei, der Sektion um Patrick W. des Thüringer Heimatschutzes. Auch Stephan Ernst nimmt mit Mikes S. zusammen an der Demo teil, wie Bilder des Antifaschistischen Archives Göttingen belegen.

Patrick W. wird 2006, wenige Monate nach dem NSU Mord in Kassel zusammen mit Thorsten Heise den Verein „Deutsch-Russische Friedensbewegung europäischen Geistes“ gründen. Bei dem Gründungstreffen war unter den neun Anwesenden neben weiteren führenden Neonazis auch David P., wie aus dem Protokoll der Versammlung, das CORRECTIV vorliegt, hervorgeht. David P. war verantwortlich für das neonazistische Magazin „Der weiße Wolf“, das 2002 eine Grußbotschaft an den „NSU“ abdruckt, unter einem Vorwort das P. verfasst hatte, wie er Ermittlern erzählt. Auch Heise trat in anderen Ausgaben des Blattes als Autor auf wie auch ein V-Mann und Freund des NSU-Kerntrios.

Einen Monat nach dem Treffen von Heise und Ernst in Kassel, nimmt der Rechtsextremist Maik E. an der Weihnachtsfeier von Thorsten Heise’s Kameradschaft Northeim teil. In den Jahren darauf nimmt Maik E. zusammen mit seinem Zwillingsbruder, dem NSU-Unterstützer André E., mehrfach an Veranstaltungen des rechtsextremen Vereins „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“ teil. Dort wird auch Ernst Anfang der 2000er-Jahre Mitglied, wie eine Mitgliederliste des Verfassungsschutzes belegt. Zudem wurden bei Durchsuchungen nach der Ermordung Lübckes bei Ernst mehrere Exemplare der „Nordischen Zeitung“ gefunden, die von der Artgemeinschaft herausgegeben wurde.

Der Waffenbeschaffer des NSU, Ralf Wohlleben, pflegt bis heute engen Kontakt zur „Artgemeinschaft“. Nach seiner Haftentlassung 2018 zog er nach Sachsen-Anhalt und wohnt dort mit dem heutigen Anführer des völkischen Vereins auf einem Hof. Sein Vorgänger, Jürgen Rieger, veranstaltete auf seinem Schulungszentrum in Niedersachsen von 1991 bis 1997 jährlich die „Hetendorfer Tagungswochen“, an denen 1997 auch Zschäpe teilnahm. Mitorganisator der Veranstaltung war die rechtsextreme „Artgemeinschaft“.

Die „Nordische Zeitung“ der „Artgemeinschaft“, die bei Ernst gefunden wurde, ist auch in einen Spendenbrief des NSU verwickelt ,genauso wie die Knastzeitschrift von Ernst, „Nation und Europa“. Den Spendenbrief hatte das Terror-Trio Anfang der 2000er-Jahre verschickt, um Sympathisanten und Kameraden anzuwerben. Das neonazistische Blatt „Der Weiße Wolf“ druckt daraufhin in einer Ausgabe 2002, also ganze neun Jahre vor dem öffentlichen Bekanntwerden der Terrorzelle, folgende Grußbotschaft an den NSU ab: „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen ; – ) Der Kampf geht weiter…“ Die Terrorbande hatte da bereits vier Menschen umgebracht und den Anschlag in der Probsteigasse in Köln verübt. Eine ältere Ausgabe des Blatts, in dem die Worte abgedruckt wurden, fanden Ermittler auch 1998 in der Bombenwerkstattgarage des Trios.

Bei Veranstaltungen der völkischen „Artgemeinschaft“ wurde auch das Auto des Schwiegervaters von Ernst, das auch er selbst nutzte, Anfang der 2000er-Jahre polizeilich festgestellt, wie bereits die Welt berichtet hatte. Das gleiche betrifft auch Veranstaltungen der neonazistischen Knasthilfe „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ kurz HNG. Zu den Mitgliedern zählen bekannte Rechtsterroristen, Unterstützern des NSU-Kerntrios und Bekannte von Ernst wie auch Thorsten Heise. Auch der NSU-Terrorist Mundlos ließ sich nach Angaben eines verurteilten NSU-Unterstützers regelmäßig die Gefangenenliste der HNG schicken, um die Kameraden im Knast durch Briefkontakt zu unterstützen. Zu dem im Jahr 2011 verbotenen Verein hatte auch Ernst mutmaßlicher Helfer Markus H. nach eigenen Angaben Kontakt. Ernst bestritt vor Gericht Kontakte zur HNG.

Vernetzung der Kasseler Rechtsextremen nach Thüringen

Zwischen dem Kasseler Umfeld von Stephan Ernst und den Westthüringer Nazis besteht in dieser Zeit eine enge Bindung. Im Oktober 2001 werden Kasseler Rechtsextreme aus dem Umfeld von Ernst auf einer Demo in Eisenach kurzfristig festgenommen, wie auch alle anderen Teilnehmer. Die rund 70 rechtsextremen Demonstranten hatten verbotene Parolen gerufen. Zentrale Figur auf der Demo war der NPD-Mann Patrick W., der die Stimmung aufheizt und eine Sitzblockade angezettelt hatte. Es ist der Mann, der später mit Thorsten Heise den oben erwähnten deutsch-russischen Verein gründet. Kurz bevor sich Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfall in Eisenach selbst erschießen, soll W. Zschäpe in Eisenach Unterschlupf gewährt haben.

Mit dabei ist auf der Demo neben den anderen Kasselern auch der ehemalige V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes, Benjamin Gärtner und weitere rechtsextreme Bekannte von ihm und vom geständigen Lübcke-Mörder Stephan Ernst. Einer davon, Mitglied des „Thüringer Heimatschutzes“, ist mit Patrick W., befreundet und wird mit Gärtner in Kassel wegen Volksverhetzung auffällig, wie Dokumente des hessischen Verfassungsschutzes belegen. Ein anderer ist Mitglied der Kameradschaft Kassel und wird bald in die thüringische Stadt Suhl ziehen, 60 km süd-östlich von Eisenach. Man unterstützt sich nicht nur gegenseitig bei Aufmärschen, auch Geburtstage und Grillpartys mit Saufgelagen veranstalten die Kasseler mit ihren Kameraden aus Thüringen.

Sprengstoff, Aufmärsche, Körperverletzung

Nach dem ersten Mord des NSU im September 2000 verüben die Terroristen im Januar 2001 einen Sprengstoffanschlag in Köln, bei der die 19-jährige Mashia M. äußerst schwer verletzt wird. Die Stichflamme der Bombe verbrennt Gesicht und Unterarme schwer, Splitter bohren sich in ihren Kiefer. Als Bombe diente eine Campinggasflasche, die in einer Christstollendose versteckt war. Drei Jahre nach diesem Anschlag, im Juni 2004, explodiert in Köln eine weitere Bombe des NSU. 22 Menschen werden teilweise schwer verletzt. Die Wucht der Bombe ist so groß, dass Schaufenster und Scheiben von Wohnungen bis in einer Entfernung von 250 Metern zersplittern. Eine mit Schwarzpulver gefüllte Campinggasflasche diente als Bombe. Die hatten die Terroristen zusammen mit 800 Nägeln in einem Koffer auf dem Gepäckträger eines Fahrrades platziert.

Zwischen diesen beiden Anschlägen soll Stephan Ernst 2003 in einem Steinbruch bei Kassel zusammen mit einem Kameraden mit Propangasflasche aufgegriffen worden sein. Was die beiden mit der Gasflasche vorhatten, ist bisher nicht aufgeklärt worden. Im gleichen Jahr wird auch auf den Kasseler Lehrer geschossen, dessen Adresse später bei Ernst gefunden wurde. Wer auf den Lehrer schoss, ist bis heute nicht geklärt. Die Akten zu dem Fall und damit auch das Projektil wurden inzwischen vernichtet.

Im April ist Ernst auf einer Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung in Neumünster. Mal wieder, denn schon in den Jahren zuvor hatte er in Bielefeld oder Leipzig gegen die Ausstellung protestiert. Wie vor ihm auch das NSU-Kerntrio Ende der 90er Jahre in München und Dresden. Bei Ausschreitungen in Neumünster packt er eine Frau am Hals und schleudert sie weg. Wegen Körperverletzung wird er zu einer Geldstrafe verurteilt. Auf der Demo und einem anschließenden Skinhead-Konzert sind auch führende Neonazis von „Blood and Honour“ und „Combat 18“ vertreten und auch NSU-Unterstützer Holger Gerlach.

In den 2000ern reist Ernst zu NPD-Veranstaltungen und Demonstrationen durchs ganze Bundesgebiet. 2003 etwa fährt er, dem Welt-Bericht zufolge, im Bus mit Thorsten Heise zu einer NPD-Demonstration in Berlin. Er bewegt sich inzwischen von der NPD hin zur rechtsextremen Kameradschaftsszene in Kassel. Darüber lernt er Markus H. kennen und auch Temmes V-Mann Benjamin Gärtner. Temme kenne er jedoch nicht persönlich, gab Ernst vor Gericht an. Anführer der Kameradschaft Kassel, in der Ernst aktiv war, ist Gärtners Stiefbruder Christian W., der mit „Blood and Honour“ vernetzt ist. Seinen Wehrdienst hatte W. in Bad Salzungen in Thüringen abgeleistet und sei dort laut Gärtner über andere rechts eingestellte Soldaten in die Szene gekommen.

Die Verbindungen zum NSU-Mord in Kassel

Beate Zschäpe soll 2006 am gleichen Abend wie Benjamin Gärtner auch in der Kasseler Kneipe „Stadt Stockholm“ gewesen sein. Das behauptet jedenfalls die Betreiberin der Kneipe, Gärtner konnte sich an diesen Vorfall nicht erinnern. An dem Abend soll es demnach zu einer Schlägerei gekommen sein, an der auch Stanley R., Michel F. und Bernd T. beteiligt gewesen sein sollen. Ernst kannte neben Gärtner auch die anderen drei Rechtsextremisten, die in der neonazistischen Kasseler Kameradschaft „Sturm 18“ organisiert waren. Michel F. sagte gegenüber CORRECTIV, er habe “seit 20 Jahren keinen Kontakt mehr” zu Stephan Ernst. Ernst war auch selbst in den 2000er-Jahren Gast in der Kneipe wo die Betreiberin Zschäpe gesehen haben will.

Im Jahr 2002 ist Ernst auf Bildern von NSU Watch zusammen mit Stanley R. vor dieser Kneipe zu sehen. Der gilt als wichtige Figur bei „Combat 18“ in Deutschland. Vor Gericht berichtet Ernst, dass er R. kenne, sie seien gemeinsam zu einer Demonstration gefahren. Auch der Neonazi und Gewalttäter Bernd T. habe ihn mal in seinem Auto zu einer Demonstration mitgenommen.

Bernd T. gab bei einer Vernehmung 2012 im Rahmen der Ermittlungen gegen Beate Zschäpe an, er könne Informationen zum NSU liefern. Er habe die beiden rechtsterroristischen Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt persönlich getroffen; die beiden hätten 2006 eine Geburtstagsfeier von Stanley R. besucht, auf der auch die Band Oidoxie gespielt habe. Zwar widerrief Bernd T. später seine Aussagen, doch die Ermittler erhielten Hinweise, die Bernd T.’s ursprüngliche Angaben teilweise stützen. So hätten Zeugen T. nach 2004 „bei diversen Anlässen“ zusammen mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gesehen. Doch es sind nicht die einzigen Hinweise auf eine Existenz des NSU-Kerntrios in Kassel. Auch V-Mann Gärtner sprach 2012 in einer Vernehmung des BKA von einem „Oidoxie“-Konzert in Kassel 2006. Der gebürtige Thüringer Michel F. spricht in einer polizeilichen Zeugenvernehmung ebenfalls von einem Konzert anlässlich des Geburtstages von ihm und Stanley R. im Frühjahr 2006 bei dem er möglicherweise Böhnhardt und Mundlos gesehen habe. Vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss sprach F. erneut von einer Konzertveranstaltung im Jahr 2006 in Kassel, möglicherweise aber auch in Thüringen, bei der er Böhnhardt und Mundlos gesehen habe. Das sei zumindest sein Eindruck gewesen als er die Presseberichterstattung nach der Aufdeckung des NSU verfolgt habe. Andere Zeugenaussagen widersprechen den Aussagen von Bernd T.

Der ehemalige V-Mann und Bekannte von Ernst, Benjamin Gärtner, bezeichnete F. in einer Vernehmung vor dem hessischen Untersuchungsausschuss 2016 als seinen „früheren besten Freund“, er steht wie auch Gärtner und Heise auf der eingangs erwähnten NSU-Umfeld-Liste der Bundesanwaltschaft.

Michel F. war wie auch Stanley R. in der „Oidoxie Streetfighting Crew“ aktiv. Eine militante und konspirative Gruppe im Umfeld der Dortmunder „Combat 18“ Band „Oidoxie“. Anhand der Saalschutztruppe zeigen sich die Verbindungen der Kasseler rechtsextremen Szene nach Dortmund. Dort ermordet der NSU am 4. April 2006 Mehmet Kubaşik.

Zwei Tage später, am 6. April, erreicht die Mordserie des NSU Kassel. Der 21-jährige Halit Yozgat wird in seinem Internetcafé erschossen, er ist das 9. Todesopfer. Temme, der V-Mann-Führer Gärtners, ist nur wenige Meter entfernt zum Zeitpunkt des Mordes. Er meldet sich nicht als Zeuge bei der Polizei und gilt auch deshalb zeitweise als Tatverdächtiger. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, doch nach wie vor ist Temmes Rolle bei dem Mord nicht aufgeklärt und wird deshalb auch im kommenden Lübcke-Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag eine Rolle spielen.

Bekannte Namen in Akten, die noch 30 Jahre geheim bleiben sollen

Wie sehr war Temme in der rechtsextremen Szene in Kassel im Gespräch? Neben Ernst, der mit dem V-Mann Gärtner über Temme gesprochen haben soll, gab auch der rechtsextreme Gewalttäter Bernd T., den Ernst kannte, im NSU-Prozess an, Temme sei ihm aus seiner Zeit bei der Kasseler Kameradschaft „Sturm 18“ bekannt.

In zwei Geheimakten des hessischen Verfassungsschutzes fasst das Amt Erkenntnisse zu Aktivitäten der hessischen Neonaziszene von 1992 bis Juni 2012 und ihre Verbindungen zum NSU zusammen. In einem dieser Berichte aus dem Jahr 2013 taucht der Name Andreas Temme an zwei Stellen auf, in dem Bericht aus dem Jahr 2014 sogar an sechs Stellen.

Auch der Name von Stephan Ernst wird in dem Papier von 2013 genannt, an elf Stellen, um genau zu sein. Laut dem Innenexperten der hessischen Grünen-Landtagsfraktion, Jürgen Frömmrich, stammen die Namensnennungen aus den Jahren 1993 bis 2004. Frömmrich konnte das Dokument einsehen. Der Name Gärtner, Temmes V-Mann, steht sogar an 19 Stellen in dem Dokument, das als Schlüssel zur Aufklärung des NSU-Mordes in Kassel gilt. Trotzdem soll es noch 30 Jahre geheim bleiben. Eine Petition forderte deshalb die Akten jetzt freizugeben. Die Zeitung Welt hatte gerichtlich erstritten, dass die Behörde die Namensnennungen in den Geheimberichten mitteilen muss.

Ernsts mutmaßlicher Helfer Markus H. taucht ebenfalls in den Mordermittlungen zum Kasseler NSU-Mord auf. Er wohnte 2006 im Haus der Familie Karagöz, mit deren Sohn Halit, das Mordopfer, in der Türkei zusammen im Urlaub gewesen war. Wenige Wochen nach der Ermordung von Halit Yozgat wird H. zum Mordfall vernommen. Die Ermittler waren auf ihn gekommen, weil er mehrfach eine speziell eingerichtete Webseite des BKA zur damals noch ungeklärten sogenannten „Ceska-Mordserie“ – benannt nach der verwendeten Mordwaffe – aufgerufen hatte. Gerade mal vier Fragen werden Markus H. gestellt und dass obwohl der sogar berichtet, Halit Yozgat, das Mordopfer, persönlich getroffen zu haben. In dem Vernehmungsprotokoll, das CORRECIV vorliegt, findet sich an keiner Stelle ein Hinweis auf H.’s rechte Gesinnung. Dabei war Markus H. erst kurz zuvor noch polizeilich aufgefallen, weil er in einer Gaststätte in Kassel den Hitlergruß gezeigt hatte.

Auch Corryna G., die Gärtner persönlich kannte und auf Heises Hochzeit zu Gast war, berichtete vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss, das Internetcafé Ende 2005 dreimal aus dem offenen Strafvollzug heraus besucht zu haben. Zusammen mit einer Mitgefangenen will sie das Internetcafé besucht haben, diese bestritt jedoch in einer Vernehmung jemals in dem Café gewesen zu sein. Die Mitgefangene sagte jedoch aus, dass sie in direkter Nähe des Internetcafés gewohnt habe und auch während des offenen Strafvollzugs mehrfach mit Corryna G. in der Wohnung gewesen sein. Ein ehemaliger V-Mann mit Kontakten sowohl zum Trio also auch zu G., ist sich sicher, dass Corryna G. auch Kontakt zu den NSU-Terroristen Mundlos und Böhnhardt hatte, was sie jedoch bestreitet.

Brutale Aktionen im Schwalm-Eder-Kreis

Ein Jahr nachdem sich Heise mit dem ehemaligen V-Mann Tino Brandt möglicherweise über das NSU-Kerntrio unterhalten hatte, marschiert Thorsten Heise im November 2008 bei einem NPD-Aufmarsch in Fulda mit. Weitere Teilnehmer sind auch Markus H. und ein Alexander S., der später auch mit Markus H. und Ernst zusammen zu einer AfD-Demonstration fahren wird. Der spätere Bekannte von Ernst, Alexander S., ist 2008 bei den „Freien Kräften Schwalm-Eder“ aktiv. Einer Kameradschaft, gegen die bis 2011 allein 97 Ermittlungen, auch wegen Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz, liefen. 2008 stehen ihre Mitglieder besonders durch zwei brutale Aktionen in der Öffentlichkeit: Einmal überfällt Kevin S. zusammen mit Kameraden ein Zeltlager der Jugendorganisation „Linksjugend, solid“ von der Partei DIE LINKE. Mit einem Klappspaten und einer leeren Bierflasche schlägt er früh morgens auf Jugendliche ein, die in ihrem Zelt schlafen. Eine 13-Jährige verletzt er lebensbedrohlich. In dem anschließenden Strafverfahren wird Kevin S. von dem Anwalt Dirk Waldschmidt vertreten, der auch Stephan Ernst zeitweise vertrat.

Kevin S. pflegte ab 2007 engeren Kontakt zu den NSU-Unterstützern Ralf Wohlleben und André K.. Vor dem Überfall auf das Zeltlager hatte er eine Zeit lang in deren sogenannten „Braunen Haus“ in Jena gewohnt, einem damals bundesweit bedeutsamen Vernetzungsort der Neonazi-Szene. Auch Kevin S. steht auf der eingangs beschriebenen NSU-Umfeld-Liste der Bundesanwaltschaft.

Bei Durchsuchungen nach den brutalen Aktionen der „Freien Kräfte Schwalm-Eder“ werden bei Alexander S. Anleitungen zum Bombenbau gefunden. Auch auf Ernsts Computer fanden sich bei den Durchsuchungen nach dem Mord an Lübcke solche Anleitungen. Laut H.’s ehemaliger Lebensgefährtin habe dieser auch selbst Sprengstoff hergestellt und Probesprengungen durchgeführt. Auch habe er ihr gegenüber geäußert, dass, sollte er schwer erkranken und daran sterben müssen, er sich vorher einen Sprengstoffgürtel basteln würde um „so viele Kanaken wie möglich“ mit in den Tod zu nehmen.

Der Kasseler Rechtsextremist Mike S., ein enger Weggefährte von Ernst, hat ebenfalls Kontakte in den Schwalm-Eder-Kreis. Mit ihm sind Ernst und Markus H. am 14. Februar 2009 bei einem rechtsextremen Aufmarsch in Dresden, bei dem die Erinnerung an die Alliierten-Bombardements auf Dresden benutzt werden, um geschichtsrevisionistische Erzählungen zur Nazi-Diktatur zu verbreiten. Am 1. Mai im selben Jahr überfallen sie zusammen mit hunderten weiteren Rechtsextremen eine Demo des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Dortmund. Mitinitiator ist Steven H., der früher auch beim Thüringer Heimatschutz aktiv war. Ernst wirft bei den Ausschreitungen einen Stein auf einen Motorradpolizisten, der sich aber noch in Sicherheit bringen kann. Er wird dafür 2010 zu einer siebenmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.

Markus H. ist 2009 mehrfach auf NPD-Versammlungen. Bei einem Stammtisch des Kreisverbands Waldeck-Schwalm/Eder bezeichnete er sich als „Führer der Autonomen Nationalen“, wie aus Unterlagen der Bundesanwaltschaft hervorgeht. Auf einem Stammtisch des NPD-Kreisverbands Nordhessen fordert er im gleichen Jahr mehr Aktivitäten im Schwalm-Eder-Kreis, dort hatte H. auch seinen Wehrdienst abgeleistet. In dieser Zeit dürften sich auch Markus H. und Alexander S. kennengelernt haben, wie auch Alexander S. vor Gericht angab. Auch Ernst besuchte nach Erkenntnissen des hessischen Verfassungsschutzes Versammlungen der NPD Schwalm-Eder. S., der ebenfalls bei der rechtsextremen Partei im Schwalm-Eder-Kreis aktiv war, will Ernst jedoch erst 2017 kennengelernt haben. Zwischen S. und H. hingegen entwickelt sich bereits 2009 eine enge Freundschaft. Die beiden fahren nicht nur gemeinsam zu rechten Demonstrationen, sondern machen auch zusammen Urlaub in Holland. Am Morgen nach der Ermordung Lübckes werden sie sich in Kassel treffen.

Der „abgekühlte“ Rechtsextremist auf einer Sonnenwendfeier

Zusammen mit Kadern des neonazistischen „Freien Widerstands Kassel“, mit denen H. und Ernst auch nach Dresden und Dortmund gereist waren, nimmt Ernst im Juni 2011 an einer von Heise organisierten Sonnenwendfeier in Thüringen teil. Unter den Gästen ist neben Mike S. auch der Kasseler Daniel B., der wenige Monate später, als der NSU auffliegt, eine Art Solidaritätsbekundung mit der rechtsextremen Terrorzelle auf seine Facebook-Seite gesetzt haben soll.

Auf einem Foto des hessischen Verfassungsschutzes von der Sonnenwendfeier 2011 ist Ernst zu sehen, wie er auch vor Gericht einräumt. Brisant ist das deshalb, weil der Verfassungsschutz Ernst zwar 2009 noch als “brandgefährlich” einstufte, dann aber 2015 seine Beobachtung einstellte weil dem Amt keine neuen rechtsextremistischen Erkentnissen vorgelegen hätten. Seitdem galt er beim Verfassungsschutz also als “abgekühlt”.

Als „vollkommen irreleitendes Wort“ bezeichnet das die Linken-Politikerin Martina Renner. Es verkenne, dass es „vollkommene Normalität“ sei in der Szene, dass sich das Engagement von Rechtsextremen mit zunehmendem Alter und veränderten Lebensumständen wie etwa Familie ändere, das aber keinesfalls ein Indiz dafür sei, dass sie sich von der Szene abgewendet hätten.

Tatsächlich berichtet auch Ernst vor Gericht, er habe sich nach dem Angriff in Dortmund 2009 angeblich von der Szene gelöst. Einer der Gründe sei gewesen, dass es Anfeindungen gegen ihn und seine Familie gegeben hätte. Kameraden hätten gesagt, seine Frau sei „nicht deutsch genug“. Er habe in der Zeit auch mit Angstzuständen und Panikattacken zu kämpfen gehabt und eine Therapie begonnen. Wenn er auf Feiern von rechtsradikalen Freunden war, dann nur, „um mal Leute zu haben mit denen man reden konnte“, behauptet Ernst vor Gericht. Einer dieser rechtsradikalen Freunde ist Mike S., den Ernst auch nach 2009 ab und zu getroffen hat, einmal in Hannover, ein anderes Mal auf einem Flohmarkt, wie er vor Gericht erzählt. Sein „Ausstieg“ soll in der Therapie kein Thema gewesen sein. Dafür aber wird die Therapie bei der Verhandlung wegen der Tat in Dortmund thematisiert. Die Verhandlung ist 2010, ein Jahr nach seinem angeblichen Ausstieg.

2011, im gleichen Jahr wie die Sonnenwendfeier von Heise, meldet sich Ernst im Mai im Schützenverein „1952 Sandershausen“ an, auf Initiative von H., wie er den Ermittlern später erzählen wird. „Über einen Kollegen mit Bogenschießen angefangen“, notiert auch seine damalige Therapeutin in ihrem letzten Eintrag der Therapie im Frühjahr 2011. H. ist da bereits drei Jahre Mitglied in dem Schützenverein.

Am 4. November 2011 erschießen sich Böhnhardt und Mundlos in einem Wohnmobil in Eisenach nach einem Banküberfall. Beate Zschäpe zündet am gleichen Tag die Wohnung der drei in Zwickau an und stellt sich am 8. November der Polizei.

Das Auffliegen des NSU versetzt 2011 die ganze Bundesrepublik in einen Schockzustand. Die Öffentlichkeit erfährt von einer rechtsextremen Terrorzelle, die über ein Jahrzehnt in Deutschland morden und Banken ausrauben konnte. Und sie erfährt in der folgenden Zeit von dem Versagen, den Pannen sowie dem Sabotieren der Ermittlungen und der Aufklärung von Sicherheitsbehörden. Eine Zeit lang kommen täglich neue ungeheuerliche Informationen ans Licht und der NSU-Komplex wächst sich aus zu einer der größten Staatsaffären der Bundesrepublik. Vorher standen Rechtsextreme unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, aber das war schief gegangen. Jetzt schauten Medien und Öffentlichkeit auf die Nazis und Rechtsextremen im Osten wie im ganzen Land.

Schießtrainings im Wald und in Tschechien

Über Ernst und Markus H.’s Einbindung in rechtsextreme Netzwerke ist in den Jahren unmittelbar nach dem Auffliegen des NSU wenig bekannt. Klar ist aber, dass sie sich, wie auch Alexander S., mehr und mehr der AfD zuwenden und an Waffen trainieren.

2015 findet die Bürgerversammlung in Lohfelden statt, bei der Lübcke über die dort geplante Unterbringung von Geflüchteten informiert und die Sätze fallen: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Und da muss man für Werte eintreten und wer diese Werte nicht vertritt, der kann dieses Land jederzeit verlassen.“ H. und Ernst sind im Publikum. H. filmt die Szene und stellt sie anschließend online. Das Video bereitet den Nährboden für den Hass gegen Lübcke, der sich im Netz entfaltet. Auch die ehemalige CDU-Bundestagsabgeornete Erika Steinbach trägt mit Postings dazu bei, Morddrohungen gegen Walter Lübcke unter einem dieser Facebook-Post vom Februar 2019 bleiben auch nach dem Mord noch online.

Nach eigener Aussage beginnt Ernst in der Zeit nach der Bürgerversammlung damit, Informationen über Lübcke zu recherchieren, wie er es zuvor mit Personen jüdischen Glaubens, Politikern, politisch Engagierten und Journalisten getan hatte. Das habe er H. auch erzählt und beide seien sich einig gewesen, dass man „etwas machen“ müsse, erzählt Ernst später den Ermittlern.

Sie beginnen in dieser Zeit nach den Angaben von Ernst, neben den Schießtrainings im Schützenverein auch im Wald zusammen an legal und illegal erworbenen Waffen zu trainieren. Dabei kommt demnach auch die spätere Tatwaffe zum Einsatz, die Ernst dem Waffenhändler Elmar J. abgekauft haben soll. Den Kontakt zum Waffenhändler soll zuvor H. hergestellt haben. Ernst kauft neben der Tatwaffe noch weitere Revolver, Pistolen und auch eine Maschinenpistole, die später in seinem Waffenversteck auf dem Gelände seines Arbeitgebers ausgegraben werden. Einige der illegal bei J. erworbenen Waffen verkauft Ernst laut Bundesanwaltschaft gewinnbringend weiter.

Auch H. soll Ernst Munition und eine Schrotflinte verkauft haben. Ein anderes Gewehr, das H. kauft, wird von Ernst bezahlt, er schießt auch immer wieder damit, aber H. trägt es laut Bundesanwaltschaft zum Schein auf seiner Waffenbesitzkarte ein. Bei den gemeinsamen Schießtrainings soll H. für die Munition gesorgt haben, die er selbst herstellte. Dafür nutzte er eine Wiederladepresse, die bei Durchsuchungen in seinem Arbeitszimmer gefunden wurde und mit der er bereits verschossene Patronenhülsen erneut mit Munition beladen kann.

Ebenfalls sichergestellt werden diverse Schusswaffen, darunter auch eine nachträglich unbrauchbar gemachte Maschinenpistole. H. besaß für diese Waffe keine Genehmigung und wurde auch wegen dieses Waffendeliktes von der Bundesanwaltschaft angeklagt. Ein LKA-Beamte konnte die Maschinenpistole in wenigen Stunden wieder funktionsfähig machen und vollautomatische Schüsse abgeben. Nach Recherchen des ZDF soll H. auch mit Waffenhändlern Geschäfte gemacht haben, die auf Adresslisten des NSU standen.

Wie auch Verfassungsschützer Temme und Kader der inzwischen verbotenen Kampfgruppe „Combat 18“ machen auch H. und Ernst Schießtrainings in Tschechien. H. habe dort auf Flohmärkten Kontakte wegen Waffen und Drogen knüpfen wollen, wie Ernst vor Gericht angibt.

Dass der Verfassungsschutz von alledem nichts mitbekam, bezeichnete Holger Matt, Anwalt der Familie Lübcke, als „Komplettversagen der Verfassungsschutzbehörden“ in seinem Schlussplädoyer vor dem Oberlandesgericht im Januar.

Der Angriff auf Ahmed I.

Im Jahr 2016 soll Ernst laut Anklage Ahmed I. niedergestochen haben. Der war gerade erst aus dem Irak nach Deutschland geflohen und lebte in der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete im Kasseler Stadtteil Lohfelden, über die Lübcke bei der Bürgerversammlung berichtet hatte. „Ich habe mein Land verlassen um Schutz zu finden, aber hier wurde mein Leben zerstört“, wird Ahmed I. später vor Gericht sagen. Nach der Tat interessiert sich die Polizei auch für Stephan Ernst, weil er als rechtsmotivierter Gewalttäter polizeibekannt war. Eine Hausdurchsuchung fand jedoch laut Ahmed I.’s Anwalt, Alexander Hoffmann, nicht statt. Der Anwalt sieht darin eine vertane Chance Ernst schon damals als Täter zu überführen. „Dann wäre der Mord an Herrn Lübcke nicht möglich gewesen“, sagte Hoffmann gegenüber CORRECTIV.

Viele Indizien sprechen dafür, dass Ernst der Angreifer gewesen sein könnte. Bei Durchsuchungen im Juli 2019 in seinem Wohnhaus fanden die Ermittler ein Messer, das eine sehr seltene DNA-Spur aufweist, wie sie auch Ahmed I. besitzt. Ernst wohnte in der Nähe des Tatortes. Ein Fahrrad, das bei ihm gefunden wurde, passt zu dem Fahrrad des Täters, das eine Überwachungskamera in Tatortnähe aufgezeichnet hatte. Der Tatort liegt auf dem Weg zur Arbeit, den Ernst täglich per Rad zurücklegte. In seiner ersten Vernehmung am 25. Juni 2019 hatte Ernst den Ermittlern erzählt, er sei am 6. Januar völlig aufgebracht durch Kassel gelaufen und habe einem ihm entgegenkommenden Ausländer gesagt: „Euch müsse man den Hals aufschneiden“. Der 6. Januar war der Tag, an dem Ahmed I. niedergestochen wurde. Ernst streitet die Tat bis heute ab.

Ernst im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss

Auf einen Beweisantrag der Fraktion DIE LINKE hin wurde eine Mitarbeiterin des hessischen Verfassungsschutzes wenige Wochen vor dem Anschlag auf Ahmed I. in einer geheimen Sitzung des NSU-Untersuchungsausschuss zu Stephan Ernst befragt. Der Grund war, dass die Mitarbeiterin 2009 in einem Vermerk über die rechtsradikale Szene in Nordhessen auch „Stephan Ernst“ aufgeführt hatte. Neben seinem Namen prangte in roter Schrift die Einschätzung „brandgefährlich“, geschrieben von dem damaligen Leiter des Amtes. CORRECTIV konnte das Protokoll der geheimen Sitzung einsehen.

Als die Zeugin in der geheimen Sitzung des Ausschusses dazu befragt wurde, wie sie selbst Stephan Ernst eingeschätzt hätte, antwortete sie, dass man ihn weiter im Auge behalten sollte. Doch genau das passierte dann nicht wie wir inzwischen wissen, sondern seine Beobachtung wird 2015 eingestellt. So können Ernst und H. in dieser Zeit ungestört mit ihren Schusswaffen trainieren, Lübcke ausspionieren und die Tat vorbereiten.

Ernst fühlt sich in der Zeit nicht nur zur AfD hingezogen. Zwischen 2016 und 2019 überweist er auch dreimal je 100 Euro an die „Identitären“. Eine Gruppe Rechtsextremer, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Bei Durchsuchungen finden die Ermittler im Haus von Ernst auch einen Artikel der BILD-Zeitung über das Attentat in Christchurch. Ein Rechtsextremist hatte 2019 in der neuseeländischen Stadt einen Anschlag auf zwei Moscheen verübt und dabei 51 Menschen getötet und über 50 weitere verletzt. Der Attentäter hatte an den Kopf der „Identitären“, den Rechtsextremisten Martin Sellner, 1500 Euro überwiesen, es entstand dadurch ein E-Mail-Wechsel.

Gelöschte Chats nach der Tat

Bereits 2017 beginnt Ernst mit konkreten Vorbereitungen seiner Mordtat. Er späht die Lebensumstände seines späteren Opfers aus und fährt dazu auch wiederholt zum Wohnhaus Lübckes, mindestens einmal auch zusammen mit H., nach Angaben von Ernst. Gestützt werden diese durch Angaben des Sohnes von Walter Lübcke, der im Frühjahr 2018 zwei Personen gesehen hatte, deren Beschreibung auf die von Ernst und H. passen würde. H. und Ernst besuchen währenddessen weiter AfD-Veranstaltungen, darunter auch die gewaltvolle Demonstration in Chemnitz am 1. September 2018. Sie gilt als Schulterschluss der AfD mit gewaltbereiten Hooligans und Rechtsextremen. Es war einer der wichtigsten Momente auf dem Weg zu dem Entschluss, Lübcke zu töten, wird Ernst später den Ermittlern berichten.

Auf der AfD-Demonstration in Chemnitz und einer weiteren AfD-Demo in Erfurt sind Ernst und H. mit Alexander S. unterwegs. Mit ihm kommunizieren sie seit Dezember 2017 verschlüsselt über die App Threema. Später nach dem Mord werden alle drei ihre Chatinhalte löschen. Drehte sich die Kommunikation auch um den Mord? Es sei darin auch um Lübcke gegangen, sagte Ernst vor Gericht, ruderte nach einer Besprechung mit seinem Anwalt jedoch zurück und sagte aus, dass die Chats unpolitisch gewesen und Lübcke nie Thema gewesen sei. Sollte S. im Vorfeld von der Tat gewusst haben, wäre die Frage, ob hinter dem Mord eine terroristische Vereinigung steht. Für die braucht es nach dem Strafgesetzbuch mindestens drei Personen.

Dass es Mitwisser bei der Mordtat gab, darauf deuten auch Google-Anfragen in der Tatnacht hin. Wie das ZDF recherchierte, gab es bereits vor und auch kurz nach der Tat einen sprunghaften Anstieg von Google-Anfragen zu dem Begriff „Lübcke“ etwa in Kombination mit „Kopfschuss“ zu Zeitpunkten als der Mord noch nicht öffentlich bekannt war. Das alle Google-Anfragen von Ernst oder H. selbst kamen, ist nahezu ausgeschlossen, da sie aus unterschiedlichen Bundesländern stammen.

Als Markus H. nach seiner Verhaftung im Juni 2019 dem Haftrichter vorgeführt wurde und dieser den Haftbefehl verlas, entgegnete H. daraufhin: „Wie? Nur Beihilfe zum Mord“ und „Was ist mit Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung?“ Zuvor hatte H. dem verblüfften Haftrichter noch ausgerichtet, er sei vor wenigen Monaten wegen seiner Waffenbesitzkarte vom Verfassungsschutz befragt worden und da sei nichts zu beanstanden gewesen, wie der zuständige Richter am Bundesgerichtshof später vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt berichten wird.

H. nahm Alexander S. Berichten zufolge auch mit zu Schießübungen. Die beiden telefonierten am Tattag miteinander und trafen sich tags darauf, am 2. Juni, in Kassel. In seiner Vernehmung vor Gericht schildert S., wie sich H. und er am Tag zuvor am Telefon zu dem Treffen verabredet hätten. Sie hätten dann am 2. Juni zusammen einen Flohmarkt auf einem Parkplatz bei IKEA mit einem Parkhaus daneben besucht. Stimmt die Beschreibung, liegt dieser Parkplatz nur wenige Meter von Ernsts Arbeitsstelle entfernt. Dort wo Ernst während der Nachtschicht die Tatwaffe vergräbt. An dem Abend schickt H. an S. einen Link zu einem Presseartikel über den Mord.

In der Nacht zuvor hatte Ernst Walter Lübcke durch einen Schuss in den Kopf aus nächster Nähe getötet. Die Tat war professionell und über mehrere Jahre vorbereitet, es gab kein Bekennerschreiben. Auch das Vorgehen, die Opfer mit einem Schuss in den Kopf zu töten, ähnelt dem des NSU. Die NSU-Terroristen erschossen ihre Opfer jedoch nicht zu Hause, sondern an ihrem Arbeitsplatz: im Kiosk, am Blumenstand, im Imbiss, häufig mitten in der Stadt und am helllichten Tag.

Bei Ernst wird nach dem Mord an Lübcke ein Band der Schriftenreihe „Eine Bewegung in Waffen“ sichergestellt. Eine Anleitung zum Guerillakrieg, die sich wie ein Drehbuch für den NSU-Terror liest, wie mehrere Zeugen und Sachverständige vor NSU-Untersuchungsausschüssen aussagten. Zum Kauf angeboten wurde sie in Deutschland über die neonazistische Zeitschrift „NS-Kampfruf“ der US-amerikanischen Neonazi-Organisation „NSDAP-AO“ die in Deutschland verboten ist. Das Blatt hatte Markus H. Ende der 90er bezogen, weshalb gegen ihn wegen „Einfuhr von Propagandamaterial“ ermittelt wurde.

Auch in einer Garage des NSU-Kerntrios wird eine Ausgabe dieser Zeitschrift aus dem Jahr 1998 von Ermittlern gefunden, in der ein Auszug aus dem Pamphlet abgedruckt ist. Das Bundesamt für Verfassungsschutz notiert dazu: „Es ist von einer starken ideologischen Beeinflussung der späteren NSU-Mitglieder durch die Publikationen und die Vorgehensweise der „NSDAP/AO“ auszugehen.“

Es gibt aber auch Unterschiede: Ernst führte nach außen ein bürgerliches Leben mit seiner Familie, er war anders als der NSU nicht auf ein konspiratives Netzwerk angewiesen, das im Untergrund unterstütze, damit die Terroristen nicht aufflogen. Er hatte seinen Schützenverein und seine Arbeitskollegen, die alle seine rechtsextremen Ansichten geteilt hätten, wie Ernst vor Gericht berichtete und die der Anwalt von Ahmed I. in seinem Plädoyer als „Betriebskampfgruppe” bezeichnete.

Der Mord an Walter Lübcke steht auch im Kontext einer „rassistischen Mobilisierung der bürgerlichen Mitte“, wie es Martina Renner nennt. „Man hätte aus der Analyse zum NSU sehen können, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen, also inwieweit Minderheiten oder Personen ausgemacht werden, die aus diesem Land vertrieben werden müssen oder umgebracht werden sollen, dass diese Debatte im Kontext steht mit der Entstehung rechtsterroristischer Strukturen“, sagt Renner.

Das NSU-Kerntrio konnte auch deshalb unerkannt Morden und Banken ausrauben, weil Unterstützer falsche Pässe, die Tatwaffe und Spendengelder lieferten. Nur wenige dieser Helfer wurden vor Gericht verurteilt. Bis heute fehlt es an Aufklärung darüber, wie groß das NSU-Netzwerk tatsächlich war, ob es weitere Zellen gab und Taten, die dem NSU bislang nicht zugeordnet wurden.

„Wenn man dieses Netzwerk, diese Strukturen nicht richtig analysiert und benennt, dann kann man die Gefahren, die aus diesen Strukturen erwachsen, nicht richtig einschätzen,“ sagt Martina Renner.

Ernst handelte nicht alleine, er war kein Einzeltäter. Es gilt, weiter aufzuklären, wer ihn bei dem Mord an Lübcke unterstützt hat und in welche rechtsextremen Netzwerke er eingebunden war, die auch mit dem NSU verbunden waren. Nach dem Ende des Gerichtsprozesses liegt diese Aufgabe beim Untersuchungsausschuss des Landtages in Hessen.

Update 27.1.2021

Die Plädoyers der Verteidigung der Angeklagten

Vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt haben die Verteidiger von Stephan Ernst und Markus H. mittlerweile ihre Plädoyers gehalten. Die Verteidiger von Stephan Ernst fordern ihn nur wegen Totschlags zu verurteilen und nicht wie in der Anklage gefordert wegen Mordes. Rechtsanwalt Mustafa Kaplan argumentiert, dass die Mordmerkmale Heimtücke und niedere Beweggründe nicht erfüllt seien. Das liege auch daran, dass es keinen Widerspruch gegeben habe, wenn sich Ernst in seinem Umfeld rassistisch geäußert hätte. So habe Ernst das Gefühl gehabt, im Interesse der Allgemeinheit zu handeln, als er Lübcke ermordete.

Der Anwalt sagte, dass er „keine juristisch nachvollziehbaren Gründe“ sehe, warum Markus H., der wegen Beihilfe angeklagt ist, nicht als Mittäter angeklagt und verurteilt werde. Auch die NSU-Terroristin Beate Zschäpe sei wegen Mittäterschaft verurteilt worden, obwohl es wie bei H. keine DNA-Spur oder andere Spuren von ihr an den Tatorten gegeben habe.

Wegen des Mordversuches an Ahmed I. beantragte die Verteidigung, Ernst freizusprechen, da ihr Mandant nichts mit dem Fall zutun habe. „Ich hoffe, dass der Vorfall bald aufgeklärt wird“, sagte Anwalt Kaplan. Der Verteidiger von Ahmed I., Alexander Hoffmann, bezeichnete das als Schlag ins Gesicht. Anders als im Fall Lübcke hatte Ernst sich zu dem Anschlag auf Ahmed I. nicht geäußert und auch keine Fragen des Opfers und seines Verteidigers beantwortet.

Die Verteidigung von Markus H. sprach sich in ihrem Schlussvortrag dafür aus, Markus H. wegen des Vorwurfes der psychischen Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke als auch wegen eines Waffendeliktes, das ihm die Bundesanwaltschaft auch zur Last legt freizusprechen.

Nach dem Plädoyer hatten Ernst und H. Gelegenheit für ein Schlusswort. H. schloss sich darin den Ausführungen seiner Verteidigung an. Ernst beteuerte, dass er bereue, was er Walter Lübcke angetan habe und das es ihm leid tue.
Nach dem Urteil, das am 28. Januar erwartet wird, ist die Aufarbeitung des Falls aber nicht beendet, sie obliegt nach dem Urteil besonders dem zuständigen Untersuchungsausschuss des Landtages in Hessen.

Diese Recherche wurde gefördert durch ein Stipendium des Vereins für Recherche und Reportage e.V./Brost-Stiftung

Redaktion: Justus von Daniels, Illustration: Janosch Kunze, Grafik: Benjamin Schubert, Belén Ríos Falcón