Putins Bedrohung aus Russland: Europa braucht Position der Stärke
Das Manifest einiger prominenter SPD-Politiker über eine Rückkehr zu einer pazifistischen Außenpolitik mit Russland weist in die falsche Richtung. Europa muss angesichts der wachsenden Bedrohung durch das autoritäre Regime Putins seine Verteidigung stärken, um aus einer Position der Stärke die Demokratie zu schützen. Ein Denkanstoß.

Die europäische Sicherheit ist das dringlichste Thema der heutigen Zeit. Die Wiederherstellung der europäischen Verteidigungskapazitäten ist eine schwere Aufgabe und kostet eine Menge Geld. Der Wunsch, eine pazifistische Haltung zu bewahren, mag verlockend sein, wenn man bedenkt, dass es viele andere dringende Probleme gibt. Doch das ist eine gefährliche Versuchung. Angesichts der Ausbreitung autoritärer Regime könnte Europa die Fähigkeit verlieren, seine eigenen Werte und Grundlagen zu verteidigen. Das Vermächtnis des Nobelpreisträgers Andrej Sacharow zeigt, dass man stark sein muss, um Frieden und Stabilität zu erreichen.
Eine Gruppe angesehener SPD-Mitglieder hat vor Kurzem ein Manifest veröffentlicht, in dem Deutschland aufgefordert wird, zu einer internationalen Politik zurückzukehren, die auf den Prinzipien der OSZE-Schlussakte von Helsinki beruht. Bald sind es 50 Jahre seit der Unterzeichnung dieses unbestreitbar historischen Dokuments. Seine Bedeutung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Zum ersten Mal wurden darin Sicherheitsfragen und Menschenrechte in einem einzigen internationalen Abkommen zusammengeführt.
Im selben Jahr, 1975, wurde zwei Monate später dem sowjetischen Dissidenten und Wasserstoffbombenerfinder, Andrej Sacharow, der Friedensnobelpreis verliehen. In seiner Nobelpreisrede erläuterte Sacharow die Idee, die den Helsinki-Vereinbarungen zugrunde liegt, mit den Worten:
„Frieden, Fortschritt, Menschenrechte – diese drei Ziele sind untrennbar miteinander verbunden: Es ist unmöglich, eines dieser Ziele zu erreichen, wenn die beiden anderen ignoriert werden.“
In unserer Kategorie Denkanstoß sammeln wir kluge Ideen und Analysen, zu Themen, die wir als Gesellschaft bewältigen müssen. In loser Folge kuratieren wir hier Gast-Beiträge.
Die Sicherheitsgewinne der 1980er sind verloren
Zu Recht weisen die Verfasser des Manifests, dass die in Helsinki erzielten Sicherheitsgewinne, die Ende der 1980er Jahre mit dem Ende des Kalten Krieges verstärkt wurden, inzwischen verloren gegangen sind.
35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer sehen wir wieder Konfrontationslinien in Europa und auf der ganzen Welt. In Europa ist ein Krieg im vierten Jahr in vollem Gange, der Nahe Osten steht wieder in Flammen, bewaffnete Konflikte breiten sich in Afrika aus, und in Südostasien wächst die militärische Rivalität.
Achtzig Jahre nach der Niederlage der Achsenmächte steht die Welt erneut vor einer Herausforderung durch autoritäre Mächte. Sie sind unzufrieden mit ihrem Platz in der Welt, streben nach mehr Macht und Einfluss und versuchen letztlich, ihre eigene Vision einer globalen Ordnung durchzusetzen – eine Vision, die weit entfernt ist von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit.
Die Welt steht vor vielen anderen dringenden globalen Problemen – Klimawandel, soziale Spaltung, epochale Veränderungen in der Technologie und vieles mehr. Aber die Bedrohung der Sicherheit steht an erster Stelle: In einer mit Atombomben bewaffneten Welt ist die Existenz der Zivilisation – und das Leben selbst – in Gefahr.
Die Autoren des Manifests sind sich einig, dass Europa seine Verteidigungskapazitäten ausbauen muss, fordern aber eine „Deeskalationsstrategie“: Vermeidung eines Wettrüstens zugunsten von mehr Vertrauen und Zusammenarbeit.
Sergey Lukashevsky ist Leiter des Sacharow-Zentrums und bei CORRECTIV.Exile tätig. Er lebt und arbeitet in Berlin.
Dieser Ansatz beruht auf starken Werten – Friedfertigkeit und Dialog –, ist aber heute leider äußerst gefährlich. Eine solche Politik wird Europa angesichts der Herausforderung schwächen, die autoritäre Regime für die freie Welt darstellen.
Expansion als Kern der Kreml-Politik
Ich empfinde tiefe Dankbarkeit gegenüber Deutschland, das meiner Familie und mir eine neue Heimat gab, nachdem wir gezwungen waren, Russland zu verlassen. Umso mehr fühle ich mich verpflichtet, deutsche Politiker und Bürger davor zu warnen, die Bedrohung zu unterschätzen.
Als Historiker betrachte ich die heutigen Probleme durch eine historische Linse, und ich glaube, dass Sacharows Vision und sein Ansatz für die internationale Sicherheit erneut von großer Bedeutung sind. Sacharow bedauerte zutiefst seine Rolle bei der Schaffung der zerstörerischsten Waffe der Welt und sah die Schaffung eines dauerhaften Friedens, die weltweite Abrüstung und die vollständige Abschaffung der Atomwaffen als wichtigste Aufgabe der Menschheit an. Gleichzeitig verfügte er über umfangreiche Erfahrungen im Leben in einem totalitären Land und im Umgang mit der sowjetischen Führung und kannte deren Beweggründe und Arbeitsweise.
Sacharow bezeichnete den expansionistischen Charakter des sowjetischen Systems als grundlegend. Auch die heutige russische Politik ist auf Expansion ausgelegt. Das ist in erster Linie auf tiefe innere Widersprüche zurückzuführen – auf mangelnde politische und wirtschaftliche Freiheit, auf die wirtschaftliche Stagnation und enorme soziale Ungleichheit –, dazu kommen imperiale und revanchistische Narrative. Wie auch immer, die hybride und militärische Expansion ist zu einem Kernelement der Kremlpolitik geworden. Eine Abkehr vom Expansionismus wird nur durch einen Regimewechsel möglich sein, der nicht stattfinden kann, solange Wladimir Putin an der Macht bleibt.
Sacharows Mahnung für Europas Sicherheit und Verteidigung
Im Vergleich zur UdSSR der Breschnew-Ära ist das heutige Russland noch vielmehr ein System der persönlichen Herrschaft durch einen einzigen Mann. Daher sind Sacharows Worte von 1975 über das sowjetische Politbüro heute noch wichtiger:
„Die totalitäre, kabinettsbasierte Führung ist in der Lage, Entscheidungen hinter verschlossenen Türen, ohne vorherige öffentliche Diskussion, zu treffen, und riesige, unkontrollierte finanzielle Mittel für verdeckte Aktionen im Ausland zu mobilisieren. All diese Merkmale verleihen der sowjetischen Außenpolitik besondere Eigenschaften: große Dynamik, pragmatische Prinzipienlosigkeit […] Sie erlauben, jegliche Vereinbarungen nach Belieben zu brechen, Grausamkeit und enormes Potenzial für geheime subversive Aktionen in anderen Ländern.“
In dieser Situation muss der Westen – und insbesondere Europa – stark sein. Sacharow schrieb, dass Rüstungskontrollgespräche nur aus einer Position des Gleichgewichts heraus möglich sind und dass Abrüstung, so wichtig sie auch ist, nicht aus Schwäche betrieben werden kann. Für ihn erhöhte die militärische Parität nicht das Kriegsrisiko, sondern senkte es – sogar den Atomkrieg.
Ich kann nicht vorschreiben, was für Deutschland das Beste ist – seien es mehr amerikanische Raketen oder ein gemeinsames strategisches Sicherheitsprogramm mit Großbritannien und Frankreich –, aber es ist von entscheidender Bedeutung, dass Europa gleichermaßen gegen die russische nukleare Bedrohung geschützt ist.
Strategische Sicherheit allein reicht aber nicht aus. Sacharow kritisierte den Westen während des Kalten Krieges für seine Erstschlag-Doktrin. „Atomwaffen sind nur als Abschreckung gegen eine nukleare Aggression eines potenziellen Feindes sinnvoll“, schrieb er 1983. „Man darf nicht mit nuklearer Gewalt drohen, um eine konventionelle Aggression zu verhindern, wenn deren Einsatz inakzeptabel wäre.“ Europa muss also wieder ein Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte herstellen.
Leider bedeutet dies erhebliche Verteidigungsausgaben und eine Verstärkung der Armee. Sacharow bezeichnete das Wettrüsten als tragisch „in einer Welt mit so vielen dringenden, lebenswichtigen Problemen“, fügte aber hinzu, dass dies ein geringer Preis sei, um einen umfassenden Krieg zu verhindern.
Putins Drohungen: Europa muss geeint handeln
Ich will damit nicht sagen, dass Russland einen umfassenden Krieg gegen die gesamte NATO plant. Aber die Sowjetunion hatte in den 1970er Jahren auch keine ausdrücklichen Pläne, Bonn oder Paris einzunehmen. Dennoch wird Putin die Drohung mit militärischer Gewalt nutzen, um seine Interessen durchzusetzen, Zugeständnisse zu fordern und seinen Einfluss auszuweiten. Die Ukraine hat gezeigt, dass der Kreml, wenn seine Kernforderungen nicht erfüllt werden, zu militärischen Mitteln greift. Dies ist jetzt besonders gefährlich, da die Verteidigungsanlagen aus der Zeit des Kalten Krieges nicht mehr vorhanden und Polen und die baltischen Staaten verwundbar sind. Außerdem hat der Kreml den Westen in den letzten drei Jahren wiederholt mit nuklearen Drohungen erpresst. Der Einmarsch in die Ukraine hat bewiesen, dass das, was als aggressive Rhetorik beginnt, zu einer erschreckenden Realität werden kann.
Abschließend möchte ich Sacharows Appell an den Westen des späten 20. Jahrhunderts wiederholen: Überwindet die Uneinigkeit! Pluralismus und offene Debatten sind die größten Stärken der Demokratie. Doch angesichts der autoritären Gefahr braucht Europa heute – wie vor fünfzig Jahren – politische Einheit. Europa muss stark werden, um seine Werte und seine Demokratie zu verteidigen.
Die Deutschen, wie alle Völker des demokratischen Europas, verdienen es, die Wahrheit zu erfahren. Der europäische Frieden, der auf gegenseitiger Zusammenarbeit, Friedfertigkeit und guter Nachbarschaft beruhte, wie man ihn sich in den späten 1980er Jahren vorstellte, ist tragischerweise vorbei. Russlands groß angelegter Einmarsch in der Ukraine hat seine Rückkehr unmöglich gemacht. Das bedeutet nicht, dass ein stabiler Frieden kein strategisches Ziel mehr sein sollte. Aber der Weg dorthin führt nicht über einseitige Zugeständnisse oder die Beschwichtigung des Aggressors. Europa steht vor einer Zeit mit harter Arbeit, Zurückhaltung – und auch vor einem hohen finanziellen Einsatz sowie der Aufgabe einiger alter Gewohnheiten. Andernfalls wird nicht nur der Frieden verloren gehen, sondern auch die Idee eines demokratischen Europas, das Freiheit und Menschenrechte schützt.
Wie Sacharow glaube ich an die Kraft der menschlichen Vernunft, an die echte Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Glück und an das Potenzial Deutschlands und der Europäischen Union. Ein starkes Europa ist möglich – aber es muss sich von gefährlichen Illusionen verabschieden. Es muss sich zusammenschließen und handeln.
Redaktion: Justus von Daniels, Finn Schöneck