Europa

Demolition Atlas Europe gestartet: CORRECTIV recherchiert europaweit zum massenhaften Abriss

Jedes Jahr werden in Europa hunderttausende Gebäude abgerissen. In Kooperation mit internationalen Medien decken wir die ökologischen, sozialen und kulturellen Folgen auf.

von Marius Münstermann

“Durch den Abriss und Neubau entstehen Unmengen an Abfall und Co2
“Durch den Abriss und Neubau entstehen Unmengen an Abfall und Co2“, sagt ein Professor für Baubetriebswesen. Foto von Haley Hamilton auf Unsplash

CORRECTIV.Europe startet mit dem Demolition Atlas Europe ein neues Rechercheprojekt. Zusammen mit weiteren Medien wollen wir den massenhaften, kaum regulierten Abriss von Gebäuden beleuchten – ein Phänomen, das bisher zu wenig Beachtung erhält, obwohl es viele Probleme verursacht: 

  • Mehr als ein Drittel aller Abfälle in der EU stammen aus dem Baugewerbe und dem Abriss von Gebäuden. Gleichzeitig verschlingt der Gebäudesektor die Hälfte aller Rohstoffe.
  • Der Abriss und Neubau von Gebäuden, insbesondere die Herstellung von Beton und Stahl, ist sehr energieintensiv und treibt die Klimakrise voran.
  • Neubauten führen in vielen Fällen zu deutlich höheren Mietpreisen. Diese Entwicklung beschleunigt Gentrifizierungsprozesse und steht einer nachhaltigen Stadtentwicklung im Weg.
  • Mit jedem abgerissenen Gebäude geht ein Stück Geschichte verloren. Selbst denkmalgeschützte Gebäude werden mitunter abgerissen.
  • Abriss ist nicht alternativlos. Studien zeigen, dass die energetische Sanierung bestehender Gebäude in den meisten Fällen nachhaltiger und ressourcenschonender ist als ein Neubau.

In Deutschland meldete das Statistische Bundesamt zuletzt 12.600 abgerissene Gebäude im Jahr 2022, wodurch 16.500 Wohnungen verloren gingen. Wo genau diese sich befinden und was der Grund für den Abriss ist, bleibt intransparent. Die Abrisse sind in den meisten Fällen nicht genehmigungspflichtig. Hinzu kommt: Nach Einschätzung der Deutschen Umwelthilfe, die Mitglied im Trägerkreis des deutschen Abriss-Atlas ist, liegt die Dunkelziffer wesentlich höher, als es die offiziellen Angaben vermuten lassen.

Tatsächlich sei der Aussagegehalt der behördlichen Abbruchstatistiken begrenzt, sagt der Bauingenieur Jens Otto, Professor für Baubetriebswesen an der TU Dresden. Er veröffentlichte im Frühjahr eine Studie, für die er die offiziellen Angaben zum Abriss von Gebäuden in allen Bundesländern ausgewertet hat. Dabei stellte er fest: Die Daten seien nur bedingt vergleichbar und teils sogar lückenhaft, kritisiert Otto. “Die offiziellen Daten bilden das Phänomen Abriss nicht ausreichend ab, die Potenziale der aufwändigen Datenerhebung bleiben ungenutzt.” Auch andere Forschende kritisieren, dass in den meisten Ländern Europas genaue und vor allem lokale Zahlen zu Gebäudeabrissen fehlen.

Diese Lücke wollen wir schließen und die Dimensionen des Massenphänomens Abriss erstmals sichtbar machen. Mit Hilfe des Demolition Atlas Europe von CORRECTIV.Europe entsteht nun eine stetig wachsende und europaweite Datenbank. Der Demolition Atlas Europe basiert auf CORRECTIVs hauseigenem Tool, dem CrowdNewsroom: Auf einer interaktiven Karte können Bürgerinnen und Bürger Gebäude eintragen, die vom Abriss bedroht sind oder die kürzlich abgerissen wurden.

Der Demolition Atlas Europe beginnt zunächst in Zusammenarbeit mit der Investigativredaktion des griechischen Onlinemagazins SOLOMON, gefördert durch den Journalismfund Europe. Vorbild ist der Abriss-Atlas, den CORRECTIV in den vergangenen zwei Jahren bereits in der Schweiz und in Deutschland aufgebaut hat. CORRECTIV.Europe will nun mit weiteren Redaktionen zusammenarbeiten, um dem Thema in ganz Europa mehr Sichtbarkeit zu verleihen.  

“Jeder Investor steht vor der Entscheidung: Abriss oder Sanierung?”, sagt Bauingenieur Otto. “In der Regel ist es lukrativer, abzureißen und neu zu bauen.” Bestandsgebäude entsprächen oft nicht den aktuellen Vorstellungen von moderner Architektur, böten zu wenig Nutzfläche im Verhältnis zur sehr teuren Grundstücksfläche und ließen die Potenziale neuer Materialien und Konstruktionsformen ungenutzt, so Otto. Aus ökologischer und gesellschaftlicher Perspektive sei jedoch absehbar: “Wir können uns den Abriss gar nicht mehr leisten.”

“Durch den Abriss und Neubau entstehen Unmengen an Abfall und Co2. Es werden nicht erneuerbare Ressourcen und graue Energie, die in all dem Stahl, Estrich, Mauerwerk und Beton gebunden sind, verschwendet”, sagt Otto. “Das ist ein globales Problem.” Eine nachhaltige Bauwende erreiche man nur, indem bestehende Gebäude möglichst lange genutzt würden. “Der Erhalt des Gebäudebestands ist die höchste Form der Nachhaltigkeit. Da kann selbst ein noch so ökologischer Neubau nicht mithalten”, sagt Otto. “Sanierung und Erhalt der Bausubstanz ist das Gebot der Stunde.”

Demolition Atlas Europe wird entwickelt mit Unterstützung von Journalismfund Europe.

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