Säumige Helfer
Im September 2015 hat Außenminister Steinmeier in New York 1,8 Milliarden Dollar für Flüchtlingslager im Nahen Osten versprochen. Bis heute weiß niemand, wie viel davon tatsächlich gezahlt wurde. Der Fall ist typisch
Am Abend des 29. September 2015 lädt Außenminister Steinmeier zu einer Geberkonferenz für syrische Flüchtlinge in das Westin Grand Central in New York. 19 Flaggen hängen im Konferenzraum. Österreich, Kanada und Frankreich sind da, Schweden, Schweiz und die Vereinigten Arabischen Emirate. In New York kommt in jenen Tagen die UN-Generalversammlung zusammen, das alles beherrschende Thema: der seit vier Jahren tobende Krieg in Syrien, die rund 11 Millionen Flüchtlinge, es ist eine der größten humanitären Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg. Diplomatische Fortschritte bleiben aus. Wenigstens bei der humanitären Hilfe soll es vorangehen. Steinmeier sagt: „Es darf nicht passieren, dass Hilfsorganisationen Nahrungsmittelrationen kürzen, Gesundheitsstationen schließen und Zelte nicht gegen Kälte isolieren können, weil ihnen das Geld fehlt.“
Es ist eine kurze Konferenz. Bereits zwei Stunden nach Beginn der Zusammenkunft tritt Steinmeier vor die Presse. „Wir haben uns darauf geeinigt, gemeinsam 1,8 Milliarden Dollar für die internationalen Hilfsorganisationen bereitzustellen. Deutschland alleine wird davon 100 Millionen Euro beitragen.“
Foto: UN Photos/Rick Bajornas
Endlich geht es voran, so scheint es. António Guterres, UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, dankt herzlich. Auch in der UN-Generalversammlung wird Steinmeiers Ankündigung am nächsten Tag begrüßt.
Aber wieviel Geld von wem gezahlt wurde – das ist bis heute unklar.
Schon die Aufstellung darüber, wer an jenem 29. September was zugesagt hat, ist bis heute ein Geheimnis. „Zwischen 12 und 15 Ländern“ hätten Zusagen gemacht, sagte Steinmeier damals. Es werde eine Liste der Geber und ihrer Versprechen geben, sprang Steinmeiers Sprecher dem Minister zur Seite.
Die Liste ist nicht veröffentlicht worden. Auch auf ausdrückliche Nachfrage im Außenministerium erhält man sie nicht. Auf der Webseite des Auswärtigen Amtes heißt es nur, es handele sich um „zusätzliche Unterstützung“. Wahrscheinlich existiert diese Liste gar nicht. Das bestätigt ein deutscher Diplomat, der mit der Sache befasst ist.
In einer Mail an CORRECTIV schreibt er: „Wir haben leider keine Liste verfügbar, die Aufschluss über einzelne Zusagen der G7-plus-Teilnehmerstaaten bietet. Die Gesamtsumme von 1,8 Milliarden Dollar beinhaltet sowohl Pledges, die im Raum gemacht wurden, als auch solche, die uns bilateral zugesagt, dann aber während der Veranstaltung nicht wiederholt wurden.“
Wir haben bei den Außenministerien der Teilnehmerstaaten nachgefragt. Ein Sprecher in London erinnert sich, dass „nach unserem Verständnis Großbritannien 200 Millionen Pfund zugesagt hat.“ Aus Stockholm heißt es dagegen: „Schweden hat beim erweiterten Treffen der G7-Außenminister kein Versprechen zu vermehrter Unterstützung gegeben.“ In Ankara betont man, die Türkei habe in diesem Jahr bereits 7,6 Milliarden Dollar für syrische Flüchtlinge im Land ausgegeben. Habe die Türkei in New York mehr versprochen? Keine Antwort.
Axel Bisschop, Finanzchef des UN-Flüchtlingskommissariats, ist sichtlich bemüht, keinen Geber zu blamieren. Aber auch er zuckt mit den Schultern. „Einige der Zusagen sind sehr wahrscheinlich welche, die früher schon einmal gemacht wurden.“ Auch er hat keinen Überblick darüber, wer was zugesagt hat. „Mit den wenigen Ländern, von denen wir wissen, haben wir Kontakt aufgenommen, und wir hoffen sehr, dass diese Zusagen eingelöst werden.“
Und selbst Deutschland, eigentlich ein verlässlicher Geber, hat die zugesagten 100 Millionen Euro noch nicht vollständig überwiesen. Das europäische Informationssystem EDRIS, in dem die EU die Hilfszahlungen ihrer Mitgliedsstaaten verwaltet, verbuchte bis zum 1. Dezember lediglich 36,8 Millionen Euro aus Deutschland für die Syrienhilfe. Zwei Drittel des Geldes fehlen. Aller vermeintlichen Dringlichkeit beim Abdichten kalter Flüchtlingszelte zum Trotz.
Zu wenig, zu spät, gar nicht
Steinmeier ist nicht der einzige, der mehr verspricht als er hält. Er ist leider in schlechter Gesellschaft. Macht eine Krise Schlagzeilen, dann sind Regierungen, Stiftungen und Unternehmen schnell bei der Hand, Millionen an Hilfsgeldern zuzusagen. Ob sie das Geld wirklich zahlen, bekommt die Öffentlichkeit später kaum mit. Immer wieder zahlen sie zu wenig, zu spät oder gar nicht. Im Oktober sagte Flüchtlingshochkommissar Guterres: „Wir sind pleite. Wir sind nicht in der Lage, das absolute Minimum an Schutz und Hilfe zu leisten, um die menschliche Würde derer zu schützen, um die wir uns sorgen.“
Foto: European Parliament unter Lizenz CC BY-NC-ND 2.0
Not im Flüchtlingslager
Was das für die Millionen syrischer Flüchtlinge heißt, weiß Bettina Lüscher, Sprecherin des Welternährungsprogramms in Genf. Die UN-Organisation benötigt 25 Millionen Dollar pro Woche, um die aus ihrer Heimat vertriebenen Syrer zu ernähren. Ein Betrag, der seit Jahren nicht zusammenkommt.
Im September 2015 war so wenig Geld da, dass man 360.000 Notleidenden sämtliche Hilfe streichen musste, für die meisten anderen wurden die Hilfen halbiert. Flüchtlinge mussten teilweise mit 50 Cent Unterstützung pro Tag auskommen. „Dann heißt das, dass die Menschen weniger essen, die Mahlzeiten kleiner werden, die Eltern ihre Kinder aus den Schulen nehmen und sie zum Betteln schicken“, sagt Lüscher. „Und das im 21. Jahrhundert. Es ist furchtbar mitanzusehen.“
Foto: Jeff Miller/University of Wisconsin-Madison
Bereits im März 2015 kamen auf einer Geberkonferenz in Kuwait Vertreter von fast 80 Staaten zusammen, um zu entscheiden, wer wieviel für die syrischen Flüchtlinge gibt. Der errechnete Bedarf: 8,4 Milliarden US-Dollar. Als UN-Generalsekretär Ban Ki Moon am Ende der Konferenz vor die Presse trat, verkündete er stolz: „UN-Mitgliedsstaaten, Organisationen und internationale Partner haben 3,8 Milliarden Dollar Unterstützung zugesagt.“ Weniger als die Hälfte des benötigten Geldes. Aber immerhin.
Wäre es nur sofort und vollständig überwiesen worden. Doch wieder einmal kam das Geld nur verzögert, nur häppchenweise und nur zum Teil auf den Konten der Helfer an. Bis heute, Stand Anfang Dezember, stehen noch über 674 Millionen Dollar aus. Und dabei sind neue Versprechen in Milliardenhöhe hinzugekommen.
Hätten die Geber die im März gegebenen Versprechen erfüllt, hätten sie sofort und vollständig das Geld überwiesen, hätten die Rationen für die Familien nicht gekürzt werden müssen. Und hätten sich vielleicht weniger Flüchtlinge nach Europa aufgemacht.
Ein Konsortium aus islamischen Hilfsorganisationen versprach im vergangenen Jahr mehr als 200 Millionen Dollar an Nothilfe. Der Vorsitzende dieses Konsortiums, Abdullah al-Matooq, ist zugleich Minister im kuwaitischen Kabinett. Wir wollten nachhaken, wo das Geld geblieben ist. Auf schriftliche Nachfragen — keine Reaktion. Telefonisch ist niemand zu erreichen. Der letzte Jahresbericht auf der Homepage der Organisation datiert aus dem Jahr 2010. Das zugesagte Geld – wird vermutlich nie ankommen.
Andere Krisen, ähnliche Muster
Auch für die Ebolakrise in Westafrika riefen Hilfsorganisationen zwischen Oktober 2014 und Juni 2015 zu dringender Hilfe auf. Jeden Tag gab es neue Infektionen, Geld wurde sofort benötigt, um Isolierstationen aufzubauen, Menschen mit sauberem Trinkwasser, Nahrung oder einem Dach über dem Kopf zu versorgen. Trotz der dramatischen Lage gingen den UN-Zahlen zufolge fast 600 Millionen Dollar, die Geber versprochen hatten, nie ein. Darunter fast 150 Millionen Dollar aus Großbritannien, 100 Millionen von der Weltbank, 200 Millionen von privaten Gebern, darunter Unternehmen und Stiftungen.
Noch schlechter ergeht es Ländern, deren Krisen keine Schlagzeilen machen. Das zeigt das Beispiel von Gambia, einem der ärmsten Länder der Welt. Von den 24 Millionen Dollar, die die Ärmsten dort dringend gebraucht hätten, wurde gerade einmal 1 Million gezahlt – ein Anteil von fünf Prozent. Viele andere Krisen, die nicht im Rampenlicht stehen, teilen ein ähnliches Schicksal.
Die Helfer, die auf das Geld angewiesen sind, sind machtlos. Denn Hilfszahlungen sind freiwillig. „Keine Regierung ist zu irgendetwas verpflichtet“, sagt Rasmus Egendal, Sprecher des Welternährungsprogramms in Rom, das zu 100 Prozent aus freiwilligen Beiträgen getragen wird. „Wir treffen mit einigen Regierungen Absprachen, die regeln, wie und was sie zahlen. Aber fast immer gilt: Wenn eine Regierung sich entscheidet, das Welternährungsprogramm nicht zu unterstützen, können wir nichts dagegen tun“, sagt Egendal.
Foto:WFP/Dina Elkassaby
Geberkonferenzen? Oft nur Show
Seine Organisation hat daraus gelernt. Zwar nutzt man die großen Geberkonferenzen weiterhin als Plattform, um für Unterstützung zu werben. „Aber wir planen nicht auf Grundlage der Geberkonferenzen“, sagt Egendal: „Unsere Planungsgrundlage sind die Ergebnisse dessen, was uns individuell im Gespräch mit Vertretern bestimmter Länder versprochen wird. Das ist verlässlicher.“
Und schränkt sogleich ein: „Allerdings war es in diesem Jahr selbst auf diese Weise bei vielen Gebern schwierig, deutliche Angaben zu bekommen.“
Nach der Statistik der UN sind im Jahr 2014 eineinhalb Milliarden Dollar versprochen, aber nicht gezahlt worden. Das entspricht ungefähr einem von fünfzehn versprochenen Dollars.
Rasmus Egendal vom Welternährungsprogramm ist ernüchtert, was die Syrienhilfe angeht. „Wenn wir uns die Entwicklung ansehen, dann ist es so: 2013 haben wir 80 Prozent (der zugesagten Gelder) erhalten, 2014 noch 60 Prozent, dieses Jahr vielleicht 50. Das ist nicht besonders vielversprechend.“
Sein Kollege Axel Bisschop vom UN-Flüchtlingshilfswerk ist optimischer. Seine Erfahrung: Bisweilen komme zugesagtes Geld erst zwei oder drei Jahre später. „Vor diesem Hintergrund finde ich die Zahlen von der Syrienkonferenz in diesem Jahr eigentlich noch ganz gut“, sagt er. Er habe die Hoffnung, dass manche Geber noch bis Silvester zahlen werden. Das wäre dann zwar spät – aber besser als nie.
Überlastete Kontrolleure
Die Vereinten Nationen verfügen über ein eigenes Kontrollsystem, das versprochene und tatsächlich geleistete Hilfszahlungen gegenüberstellt. Der Financial Tracking Service, kurz FTS, ist die umfangreichste Datenbank über Hilfszahlungen weltweit. Angesiedelt ist es beim UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, abgekürzt: OCHA. Verbucht werden dort Hilfszahlungen von Staaten und privaten Gebern an UN und anerkannte Hilfsorganisationen. Die Zahlen sind umfassend, werden täglich aktualisiert und sind öffentlich zugänglich. „Das System beruht auf Freiwilligkeit“, sagt Sprecher Jens Laerke. „Wir sind zu 100 Prozent abhängig von den Informationen, die Geber und Empfänger an uns melden.“
Auch bei OCHA verlässt man sich nicht auf mündliche Zusagen. „Nur weil jemand etwas bei einem öffentlichen Treffen verspricht, nehmen wir es noch nicht als Zusage in unser System auf“, sagt Laerke. „Erst brauchen wir eine schriftliche Bestätigung der entsprechenden Regierung. Nur dann verfolgen wir die Zusage.“ Bei mündlichen Zusagen mache man sich eine Notiz und frage nach. Laerke: „Es kann ein bisschen Zeit kosten, bis Geber und Empfänger Zahlungen bestätigen, vor allem wenn es um große Summen von verschiedenen Gebern geht. Normalerweise braucht das gut einen Monat.“
Wieder das Beispiel Syrien: 3,8 Milliarden Dollar, versprochen vor mehr als acht Monaten in Kuwait. 1,8 Milliarden Dollar, versprochen vor mehr als zwei Monaten in New York. Zusammen wären das 5,6 Milliarden Dollar. Plus all die vielen Zusagen von Politikern in aller Welt, die gar nicht erst im Kontrollsystem der UN gelandet sind.
Eingegangen sind laut OCHA-Statistik bis Anfang Dezember aber nur 4,7 Milliarden Dollar. Fehlen mindestens 900 Millionen Dollar.
Die Kontrolleure sind hoffnungslos überlastet. In Genf, wo die meisten humanitären Organisationen sitzen, führen gerade einmal zwei Angestellte das Tracking-System. „FTS sieht jeden Monat 1500 bis 2000 Berichte durch. Natürlich sind wir nicht genügend Leute, um das zu schaffen. Jede Unterstützung der Mitgliedsstaaten, um unser System zu verbessern, ist deshalb sehr willkommen“, so Laerke. Doch wer bezahlt schon gern die eigenen Rechnungsprüfer?
Monate der Planung — dahin
Millionen-Versprechen gestalten Politik. Auch deshalb ist es so wichtig, dass sie eingehalten werden und dass Bürger aus Geber- wie aus Empfängerländern dies auch kontrollieren können. Gerade erst hat die EU der Türkei 3 Milliarden Dollar zur Versorgung von syrischen Flüchtlingen im Land versprochen. Niemand weiß bisher, wer dieses Geld zahlen soll. Werden es wieder Luftbuchungen sein, Gelder, die bisher andere Helfer bekamen, die dann leer ausgehen? Die bisherige Praxis lässt genau das befürchten.
Für die großen Hilfsorganisationen sind diese leeren Versprechen ein gewaltiges Problem. Sie haben lange Planungsvorläufe. Fehlt Geld, gerät alles in Schieflage. Dann sind Monate der Vorbereitung dahin, sagt Bettina Lüscher vom Welternährungsprogramm. „Eigentlich müssen wir wissen, wieviel Geld wir in den nächsten sechs Monaten bekommen“, sagt sie — damit sie verlässlich gemeinsam mit den Hilfsorganisationen vor Ort planen können.
Manche Regierungen bezahlen am Anfang des Jahres erst einmal die Hilfsorganisationen im eigenen Land. Erst dann erhalten internationale Organisationen ihr Geld. Die Folge: Die Hilfsorganisationen müssen abwägen, was am dringendsten ist – und das nicht ganz so dringende hintanstellen. Es sind schwere Entscheidungen. So konnte das UN-Flüchtlingswerk 2015 in Afrika 14 dringend benötigte Flüchtlingslager nicht bauen und sieben nicht erweitern, weil die dafür benötigten 215 Millionen Dollar schlicht nicht aufzutreiben waren.
Als Radiobeitrag im Deutschlandradio Kultur
„Millionenhilfe“ von Marc Engelhardt ist eine Recherche von CORRECTIV, die über Crowdfunding finanziert wurde. Deutschlandradio Kultur sendete die Geschichte am Montag, den 14.12. Hier finden Sie den Beitrag im Deutschlandradio Kultur.
Von der Crowd finanziert
Diese Recherche wurde über die Plattform crowdfunding.correctiv.org finanziert. Über das Portal von CORRECTIV kann jeder interessierte Bürger und Journalist unabhängige Geschichten finanzieren. Wir bedanken uns bei allen Spendern. Sofern die Spender einer Namensnennung zugestimmt haben, werden sie hier namentlich aufgeführt:
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Mitarbeit: Marcus Bensmann, Jonathan Sachse
Textchef: Ariel Hauptmeier