Flucht & Migration

Beweise sichern für einen Prozess, den es vielleicht nie gibt

Die Füße in Berlin, das Herz und der Kopf noch in Syrien. Und dazwischen: eine Suche nach Gerechtigkeit. Zwei nach Deutschland geflohene Syrer sammeln Beweise und Zeugen der Kriegsverbrechen, die seit 2011 Syrien stattgefunden haben. Für sie weit mehr als nur eine Arbeit.

von Cécile Debarge

Ein Mann trauert im Sommer 2017 auf dem Friedhof von Khan Sheikhun. Kriegsverbrechen wie den Giftgasangriff auf den Ort wollen syrische Anwälte dokumentieren.© OMAR HAJ KADOUR / AFP

„Wir wollen allen Mördern in Syrien eine Nachricht überbringen: die Straflosigkeit ist vorbei“, sagt Anwar Al-Bunni, bevor er an seiner elektronischen Zigarette zieht, die die Luft mit einem süßen Marshmallow-Duft erfüllt. Von jemand anderem hätte diese Behauptung utopisch, oder gar anmaßend geklungen.

Aber Anwar Al-Bunni ist einer der syrischen Anwälte, die das erste Mal in Europa eine Strafanzeige gegen das syrische Regime eingereicht haben – wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das war im März 2017. Seitdem liegen drei weiteren Strafanzeigen im Büro der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe.

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Der syrische Anwalt Anwar Al-Bunni

Cécile Debarge

Bis heute ist Deutschland das einzige Land, das solche Anzeigen akzeptiert. Ein Grund ist das Weltrechtsprinzip. Straftaten können in Deutschland vor Gericht gebracht werden, auch wenn die Tat nicht in Deutschland geschehen ist, und weder Täter noch Opfer deutsche Staatsbürger sind. Im September verurteilte das Oberlandesgericht Stuttgart einen nach Deutschland geflüchteten Syrer wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen zu dreieinhalb Jahren Haft.

„Nach der Verurteilung von zwei ruandischen Rädelsführern im Jahr 2015 hat Deutschland auch Erfahrung mit Kriegsverbrecherprozessen“, sagt Yaroslavna Sychenkova, Rechtsberaterin beim Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte. Sychenkova gehört zu dem Team, das zusammen mit dem syrischen Anwalt Anwar Al-Bunni die Anklage erarbeitet hat. Unter den 500.000 syrischen Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, befinden sich auch Tausende von Zeugen, so die Rechtsberaterin.

Al-Bunni, der Anwalt, ist einer von ihnen: „Alle Syrer haben gelitten, alle haben Informationen, aber manche haben Angst zu sprechen – wegen ihres Asylantrags.“ Anwar Al-Bunni war einer der bekanntesten Häftlinge in Syrien. Er wurde im Jahr 2006 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er die Beirut-Damaskus-Erklärung unterzeichnet hatte, die sich für bessere Beziehungen zwischen dem Libanon und Syrien forderte.

Die Übergangsjustiz vorbereiten

Alles, in dem nackten Raum, der Al-Bunni als Büro dient, sieht provisorisch aus. Vor allem er selbst. Das einzig persönliche sind drei Gegenstände auf dem Schreibtisch: eine kleine, rot-weiß-schwarze Flagge mit der Aufschrift „Free Syria“, der Menschenrechtspreis des deutschen Richterbundes von 2009 und ein Objekt aus Glas, in das – auf Französisch und Arabisch – „Zukunftshaus“ gemeißelt ist.

Sein „Zukunftshaus“ ist auf keinen Fall in Europa, sondern in Syrien. „Wir können nicht einfach alles den Europäern überlassen. Die Übergangsjustiz muss in Syrien, mit den Syrern stattfinden“, sagt Al-Bunni, der seit August 2014 in Berlin lebt.

„Es sind außerdem zu viele Fälle und Deutschland kann sich nicht allein mit allen beschäftigen“, sagt der syrische Aktivist Hadi al Khatib. Er hat im Jahr 2014 die Webseite „Syrian Archive“ gegründet, dort sind bisher 1,2 Millionen Videos und Fotos aus dem Syrien-Konflikt gesammelt. Es gibt unterschiedliche Quellen. „Wir bekommen USB Sticks, Festplatten, Links zu Dropbox oder E-mails mit Fotos und Videos,von Syrern, die oft noch in Syrien oder in der Türkei leben“.

Unermüdlich speichert das Team vom „Syrian Archive“ Videos und Fotos, die auf Twitter, Instagram, Facebook und Youtube erscheinen. Sie veröffentlichen auch Recherchen auf ihrer Webseite. So hat das Team die Angriffe auf drei Krankenhäuser in der nord-syrischen Stadt Idlib mit Fotos, Zeitungsartikeln, Berichten, Luftbildern und Videos belegt. „Niemals zuvor wurde ein Konflikt so intensiv dokumentiert“, sagt Bénédict de Moerloose von der Schweizer Nichtregierungsorganisation „Trial International“, die gegen die Straflosigkeit von Kriegsverbrechen kämpft.

Crowdfunding für die UN

Al-Bunni und Kollegen wollen jeden Schnipsel der Gegenwart festhalten, ohne zu wissen, ob die Zukunft einen Prozess bringen wird. Denn trotz der vielen Dokumente sind die Chancen auf eine internationale Aufarbeitung der Kriegsverbrechen gering. 

Der internationale Strafgerichtshof hat keine Zuständigkeit, da Syrien kein Mitgliedstaat ist. Dazu blockieren Russland und China seit 2014 eine Resolution vor dem UN-Sicherheitsrat. Der wichtigste Schritt kam im Dezember 2016. Die UN-Generalversammlung verabschiedete eine Resolution, um Kriegsverbrechen in Syrien zu ermitteln. Die Finanzierung sollen die Mitgliedsstaaten leisten, auf freiwilliger Basis. Doch nur wenige Staaten haben bisher dazu beigesteuert – die Bundesregierung gab eine Million Euro.

Deshalb startete der Deutsch-Syrische Verein „Adopt a Revolution“ im Juni 2017 eine Crowdfunding-Kampagne. Der Verein sammelte 230.000 Euro für die UN-Untersuchung. Im Herbst begann die Kommission mit der Arbeit, trotz des niedrigen Budgets.

Beweise sammeln

Vor allem müssen es belastbare Beweise sein. Die Mitarbeiter vom „Syrian Archive“ überprüfen jedes Foto und jedes Video: die Ortsangabe, das Datum, die Quelle, und ob die verschiedenen Angaben übereinstimmen. „Es gibt auch viele falsche Informationen. Wir müssen unbedingt die Echtheit des Materials prüfen, damit Anwälte die Beweise später verwenden können“, sagt Hadi al Khatib. Innerhalb von drei Jahren hat sein Team vom „Syrian Archive“ mehr als 7000 Videos und Fotos überprüft. „Doch mehr als eine Million sind noch übrig“, sagt al Khatib und lächelt. „Inzwischen ist es uns gelungen, etwa 2000 vertrauenswürdige Quellen zu sammeln, viele von ihnen sind Bürger-Journalisten“.

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Screenshot von der Webseite des „Syrian Archive“

Cécile Debarge

Al Khatib hat das Projekt im Süden der Türkei gegründet, mit ihm arbeiten fünf andere daran: drei Syrer, die in Schweden, in Dänemark und in der Türkei leben, außerdem zwei Deutsche in Berlin. Doch auch zu sechst wird es lange dauern, meint Hadi al Khatib. Allerdings geht es für ihn nicht darum, was vernünftig oder pragmatisch ist, oder ob eines Tages tatsächlich ein Prozess stattfindet. Er macht diese Arbeit auch, um damit umzugehen, dass er überlebt hat. Und viele seiner Freunde eben nicht.

Leben nach dem Überleben

„Hier zu sein ist auch eine große Herausforderung“, sagt al Khatib. Während er sicher in Deutschland lebt, sieht er auf dem Bildschirm seines Laptops grausame Bilder vom Krieg. Es ist manchmal ganz komisch, diese Videos zu gucken, wenn du hier, in Sicherheit bist“, sagt Hadi al Khatib. „Dort, in Syrien, ist das so, als ob du immer bereit bist etwas sehr schweres zu überwinden, es gibt einen Überlebenswillen. Aber hier hat man das nicht“. Die Kriegsverbrechen haben für Hadi al Khatib und Anwar Al-Bunni die Gesichter und die Namen von Personen und Städten, die sie kennen.

Schon bevor der Krieg anfing, half das von Al-Bunni gegründete „Syrian Center For Legal Researches and Studies“ Frauen, die in den Gefängnissen von Bashar al Assad saßen. Manche kamen schwanger aus der Haft, dann begann für sie eine zweite Strafe: zu ihren Familien zurückzukehren, schwanger, wegen einer Vergewaltigung. Die einzige Lösung, die Scham und Tabu erlaubte, war die Abtreibung. „Das ist keine Arbeit für mich, das ist mein Leben.“ Al-Bunni lächelt bitter.

Diese Wörter sind fast genau dieselben, die Hadi al Khatib benutzt, wenn er vom „Syrian Archive“ redet. Was am Anfang nur ein Projekt von vielen war, ist inzwischen eine Vollzeitbeschäftigung. „Wir wollen vorangehen und dafür müssen wir fähig sein voranzugehen“, sagt er. Das heißt zunächst, das Projekt zu finanzieren – eine erste Förderung kam im Jahr 2014 von der kanadischen Aktivisten-Gruppe „Alternatives International“, eine zweite im Jahr 2016 von der Berliner NGO  „Open Knowledge Foundation Deutschland“.

Psychische Belastung

Doch wie sollen sie mit der psychischen Belastung umgehen? Die Aktivisten schauen sich zur Überprüfung ihrer Echtheit zunächst die Metadaten von Fotos und Videos an. Also zum Beispiel die Art der Datei, der Zeitpunkt ihrer Entstehung. Nur wenn sie mehr Information brauchen, schauen sie das ganze Video.

„Wenn etwas schwer zu ertragen ist, wie Chemiewaffenangriffe, versuchen wir, die Arbeit kurz zu halten. Ein paar Tage, dann machen wir etwas anderes.“ Das reicht aber nicht. Wenn möglich und wenn sie wollen, treffen die Mitarbeiter des „Syrian Archives“ Psychologen, um darüber zu sprechen.

Immer wieder kommen Al-Bunni und al Khatib auf einen Satz zurück: „Wir müssen eine vertrauenswürdige Klage vorbereiten.“ Sie wollen, dass Kriegsverbrecher verurteilt werden. Aber während sie auf ein hypothetisches offizielles Gericht warten, stellen andere die Verdächtigen mit Hilfe des Internets und sozialen Netzwerken wie Facebook an den Pranger.

Ende der Straflosigkeit

Viele Webseiten – die Mehrheit auf Arabisch, andere auf Englisch – veröffentlichen Facebook-Profile, Namen und Fotos von mutmaßlichen Kriegsverbrechern. Vor allem solche, die als Flüchtlinge nach Europa geflohen sind.

Deutsche Behörden fangen an, sich damit zu beschäftigen. Seit dem Jahr 2011 hat der Bundesgerichtshof 74 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Darunter 29 Verfahren gegen Einzelpersonen, von denen nur vier zu einer Anhörung kamen. Die vier Männer wurden zu zwei bis achteinhalb Jahren Haft verurteilt, zwei nach dem Weltrechtsprinzip, die anderen beiden waren deutsche Staatsbürger.

„Die Fälle, die bislang vor Gericht gebracht wurden, sind nicht repräsentativ für die Verbrechen in Syrien“, schreibt Human Rights Watch in einem Bericht von Oktober 2017. Bisher richten sich die Prozesse nicht gegen ex-Mitglieder der syrischen Armee sondern gegen Mitglieder der Freien syrischen Armee, den nicht-staatlichen Oppositionsgruppen, dem IS oder Jabhat-al-Nusra.

Worauf es ankommt

„Es ist unmöglich, dass alle Mörder verurteilt werden, aber wir müssen einen Mittelweg finden“, sagt Hadi al Khatib. „Es muss auch die kleinen treffen, auch die Befehlsempfänger.“ Das ist ebenfalls das Ziel von Anwar Al-Bunni: sich mit den Kriegsverbrechern beschäftigen, die sich in Europa verstecken. „Aber nicht mit Bildschirmfotos sondern mit Zeugen, die erzählen können, was sie erlitten haben“.

Ein Netzwerk von knapp dreißig Anwälten – aus Europa, dem Libanon und der Türkei – führen Interviews mit den Opfern und bereiten eine Klage vor. Außerdem möchten sie eine Schwarze Liste erstellen, und sie an Interpol und die europäischen Einwanderungsbehörden verteilen. Damit sich mutmaßliche Kriegsverbrecher nicht problemlos in Europa bewegen können. Al-Bunni sagt: „Wahrscheinlich wird es für Syrien keine internationale Justiz geben, aber wenn sie nicht mehr sorglos wären, und nicht mehr ruhig schlafen könnten, wäre ich schon zufrieden.“

Die Journalistin Cécile Debarge hat mit einem Stipendium des Deutsch-Französischen Instituts und der Robert-Bosch-Stiftung einige Wochen in unserer Redaktion verbracht.

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