Virukratie oder Virokratie?
In den USA und in Brasilien kann man sehen, was passiert, wenn der Mensch es dem Virus zu leicht macht, die Menschen zu infizieren - das nennt man Virukratie. Die Alternative? Wenn Politiker Maßnahmen ergreifen, die dem Rat der Virologen folgen, und so die Menschen besser schützen - in der Virokratie.
„Um die Herrschaft über diesen Planeten konkurrieren nur wir und die Viren“, schreibt der Molekularbiologe und Nobelpreisträger Joshua Lederberg, „sie suchen nach Nahrung und wir sind ihr Stück Fleisch.“ In den letzten vier Monaten haben wir erlebt, dass sich wieder ein Virus aus dem Tierreich auf den Weg gemacht hat, um uns zu dezimieren. 260 Viren ist das bereits gelungen – nicht nur Polio, HIV/Aids, Dengue, Masern, Ebola, SARS, Vogelgrippe H5N1 zeugen davon. In über sechs Millionen Menschen ist das neue Coronavirus bisher nachweislich eingedrungen, wahrscheinlich hat es über zwanzig Millionen erwischt.
Wir oder sie, letztlich wird uns nur ein Impfstoff schützen, und bis wir den haben, helfen uns fünf Dinge: Wir müssen uns voneinander fern halten, wir müssen uns maskieren, wir müssen möglichst viele von uns testen, wir müssen die Infizierten isolieren und am Leben halten. Das Wichtigste: Solange wir den Impfstoff nicht haben, ist Wissen der wirksamste Impfstoff gegen das Virus.
Was uns daran hindert, das Virus zu besiegen: unter anderem der Glaube, COVID-19 sei harmlos wie eine Erkältung. Wir alle haben einen Crashkurs in Virologie hinter uns gebracht, wir wissen jetzt viel über die Verdopplungszeit, Zoonosen und Aerosole. Und das verdanken wir Virologen und Epidemiologinnen wie Marylyn Addo, Jonas Schmidt-Chanasit, Stephan Becker, Melanie Brinkmann, Gerard Krause, Karl Lauterbach, Hendrik Streeck, Alexander Kekule, Christian Drosten und anderen. Sie haben uns in Talkshows und Interviews zu Coronabürgern gemacht.
Mit uns sind die Leute schlauer geworden, die uns regieren. Die überforderte Regierung hörte auf den Rat der gesammelten Virologen, und wir Bürger hörten deshalb auf die Regierung. Diese Dreieinigkeit zwischen Politik, Wissenschaft und Volk funktionierte, weil die Botschaften der Wissenschaft einheitlich und beängstigend genug waren. In der Pandemie, das begriffen wir, gibt es nur die Wahl zwischen Virukratie oder Virokratie. Das Virus oder wir, entweder macht sich das Virus exponentiell breit in der Gesellschaft, weil wir es ihm zu leicht machen, das ist Virukratie, zu besichtigen in Brasilien oder den USA. Oder wir und die Regierenden nutzen das Wissen der Virologen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Die Virologen regieren nicht, aber die Politik basiert auf virologischen und epidemiologischen Erkenntnissen.
Deutschlands Virenerklärer wurde Christian Drosten, der in seinem täglichen Podcast differenziert erläutert, wie sich das neuartige Virus ausbreitet, was der „Reproduktionsfaktor“ ist oder was das Wort „Letalität“ bedeutet. Er führt uns durch das Imperium der Viren, mit einem Kommunikationsstil, den wir so nicht kennen, nicht von Politikern: Drostens Aussagen lassen Platz für Korrekturen und Unsicherheiten.
Als Wissenschaftler dann das taten, was Wissenschaftler nun mal machen müssen, neue Erkenntnisse suchen, sich zu widersprechen und sich zu korrigieren, verloren die Regierenden ihre Kronzeugen und zu viele Bürger das Vertrauen. Medien attackieren nun Virologen, als seien sie Politiker.
Politiker reden anders als Virologen. „Der unsichtbare Feind“, so nennt US-Präsident Donald Trump das neuartige Coronavirus, um seine Versäumnisse zu entschuldigen. Doch Virologen können es sichtbar machen, deshalb starren wir jeden Abend in den Nachrichten auf diesen Eindringling, der skurril aussieht wie eine außerirdische Kastanie.
„Wir führen Krieg“, sagt der französische Präsident Emanuel Macron, auch das ist falsch. Bisher können wir uns nur wehren, indem wir vor uns davonlaufen und in Wohnungen verstecken. Wir sind keine Soldaten, wir sind alle Zivilisten, und die Ältesten und Schwächsten sterben nicht an der Front, sondern in den Heimen.
Viren sind auf ein Ziel programmiert: auf das Eindringen in fremde Körperzellen. Nur dort können sie sich vermehren. Dass uns die Viren dabei krank machen oder umbringen, ist nicht mehr als ein Kollateralschaden. Viren wollen uns nicht töten – sie tun es einfach.
„60 Prozent der Bevölkerung könnten infiziert werden“, hat Kanzlerin Angela Merkel den Deutschen prophezeit und damit die beruhigende Botschaft verbreiten wollen, „es schafft uns nicht“. Im 20. Jahrhundert starben allerdings mehr Menschen durch Virus-Infekte als durch alle Kriege. Auf rund 700.000 wird die Zahl der Säugetier- und Vogelviren geschätzt, die auf den Menschen überspringen könnten. 260 von ihnen ist es bereits gelungen.
Stellt euch nicht so an, schüttelt ruhig weiter Hände, wollte Großbritanniens Premier Boris Johnson sagen, als er Infizierten im Krankenhaus die Hand reichte. Vier Wochen später kämpfte er auf der Intensivstation mit dem Leben. Nun ja, man kann es dem Virus einfach machen oder so schwer wie möglich. SARS-CoV-2 hat binnen weniger Monate Staaten und die globale Wirtschaft in eine Krise gestürzt, die Gesellschaften ihrer Gewissheiten beraubt und sie existenziell bedroht.
„Wir werden wahrscheinlich einander viel verzeihen müssen“, sagte der Gesundheitsminister im Bundestag – ein ehrlicher, wenn auch verräterischer Satz. Da war den Regierenden schon klar, dass es viel zu verzeihen gab. Erstens, der lustige Glaube, ein sich rasch vermehrendes Virus in China werde schön in Asien bleiben. Zweitens, die – trotz Pandemieplan – lückenhafte Vorbereitung auf eine Pandemie in deutschen Kommunen und Krankenhäusern. Drittens, die Maskenkomödie: Masken bringen nix, sowieso zu wenig da, näht euch die selbst, Maskenpflicht! Viertens, das Testvakuum, wochenlang waren anfangs immer zu wenig Testkits da.
Dass die Regierenden der Welt Studien und Warnungen vor den Gefahren einer drohenden Pandemie über Jahre ignoriert haben, gehört zu den Dingen, die man nicht verzeihen kann, schon gar nicht Gesundheitsministern. Wie in der Klimakrise und der Migrationskrise zeigen sich Politiker unfähig, offensichtlichen, grundlegenden Fehlentwicklungen und Risiken mit nachhaltigem Handeln zu begegnen, also das zu machen, was die Studien von Wissenschaftlern nahe legen. Brauchen wir erst die Eskalation der Bedrohung, um zu spät das zu befolgen, was uns die Eskalation erspart hätte?
In den großen Krisen der Menschheit, hat Frank Schirrmacher in seinem Buch „Minimum“ beschrieben, werde die Familie zur Schicksalsgemeinschaft, die Menschen suchten Schutz und Trost zuerst in ihrer Familie, „denn in jedem Familienmitglied lebt ein Vertrauen aus Urzeiten: Was immer geschieht, man wird nicht in Stich gelassen“.
SARS-CoV-2, das nicht heimtückisch sein kann, weil es keine Absichten hat, dieses Virus zerstört neben Lungen dieses Urvertrauen – und das beschreibt die tückische Angst, die das Virus auslöst: Um das Virus zu bekämpfen, muss der Mensch die Familie zerlegen in die Gefährdeten und die Gefährder, und er muss sie voneinander isolieren.
Das Virus ist im doppelten Sinn ein innerer Kontrahent: er besetzt unsere Körper, und er besetzt unser Denken; er attackiert unser Leben, auch wenn wir überleben. Das Virus entfacht einen inneren Bürgerkrieg: Der besorgte Bürger in uns ringt mit dem sorglosen Bürger. Wer sich diesen inneren Streit nicht eingesteht und nach außen entweder als Propagandist für den radikalen Shutdown oder für die rücksichtslose Rückkehr zur Normalität auftritt, belügt sich.
Diesen inneren Meinungsstreit zwischen Angst und Zuversicht trägt fast jede und jeder aus. Dieser Streit ist mal ein ruhiger Dialog, mal ein wüstes Geschrei, besonders dann, wenn man gegen Mitternacht auf CNN die Horror-Show aus dem Weißen Haus verfolgt: Ein US-Präsident, der mit Zahlen von zweihunderttausend oder zwei Millionen Toten Amerikanern herum hantiert und sich – während er diese Modellrechnungen referiert – einen Scherz über sein Verhältnis zu Models erlaubt. Über 60.000 infizierte Ärztinnen und Ärzte, Schwestern und Pfleger in den USA, das ist die schlimmste Zahl einer Seuchenpolitik in der Virukratie.
Wissen ist in der vom Virus befallenen Demokratie die Grundlage für vernünftiges Verhalten, darum liefern Medien und Virologen den wichtigsten Impfstoff gegen die Pandemie, solange der Impfstoff noch nicht gefunden ist. Uns dämmert langsam: Die demokratischen Staaten werden diese Pandemie nur in den Griff bekommen, wenn erstens die Regierungen ihre Bürger zu Komplizen machen und nicht wie Untertanen behandeln; und wenn zweitens wir Bürger uns wie Machthaber verhalten – wir entscheiden durch unser Verhalten jetzt darüber, wie sich medizinische Notwendigkeiten mit ökonomischen Interessen vereinbaren lassen. Wissen ist Macht – uralter Spruch, in diesen Zeiten kommt auch aus dem Unwissen Macht: sich einzugestehen, was wir noch nicht wissen.
Wir wissen, dass Viren die Erde länger bevölkern als wir, und dass sie uns brauchen wie Mietnomaden unvorsichtige Hausbesitzer brauchen. Dass wir es ihnen durch unsere Lebensweise leichter machen als noch vor fünfzig Jahren. Wir dringen in die Welt der Viren ein, nicht sie in unsere.
Wir wissen nicht, wie genau das Virus auf den Menschen übergesprungen ist, wann genau der Ausbruch stattfand, ob es in Richtung einer noch gefährlicheren Ansteckung mutiert. Eines aber ist sicher: In der Welt, in der wir leben, wird dieser Mietnomade nicht der letzte gewesen sein, der uns besucht. Besser, wir begreifen diese Pandemie als Generalprobe.
Wir fangen an, auf die Unwissenden herabzuschauen, die ohne Maske und Abstand auf Plätzen herumstehen, um das Virus durch Missachtung zu vernichten. Wir lächeln über die No-Mask-Machos, die stolz und unverwundbar wie Siegfried durch die Geschäfte schlendern. Wir bedauern, dass ihre Ignoranz es dem Virus leichter macht. Weil das Virus unsichtbar ist, versuchen die Unverwundbaren es sichtbar zu machen und geben ihm den Namen Bill Gates. Dessen Mahnungen über Jahre sollen ihn verdächtig machen, dabei hat er nur sein Vorwissen laut und deutlich geteilt. Nicht laut genug, wie er jetzt selbstkritisch sagt.
Aus dem Lockdown wieder heraus zu kommen, das ist, so wissen wir nach fünf Monaten Corona Crashkurs, die eigentliche Kunst. Was vor Monaten noch ein einig Volk von Coronabürgern war, ist jetzt eine Klassengesellschaft von Home-Office-Bürgern: die Klasse der Home-Office-Eltern mit Kind denkt anders über den Lockdown als die Klasse der Home-Office-Singles, die Klasse der Home-Office-Bürger mit Großeltern denkt anders über das Leben ohne Lockdown als die Klasse der Home-Office-Bürger ohne Großeltern. Ganz zu schweigen von Krankenschwestern, Kassiererinnen, Ärztinnen, Busfahrern und allen anderen, die nie im Lockdown waren.
Das Misstrauen gegenüber den Bürgern ist bei Politikern offenbar unterschiedlich stark, die einen halten die Pandemie nur beherrschbar mit klaren Regeln, die anderen glauben an die „Eigenverantwortung“, das neue Modewort.
Tatsächlich braucht eine Demokratie in diesen pandemischen Zeiten ein neues Verhältnis von Regierenden und Regierten, so etwas wie eine redaktionelle Gesellschaft, in der Bürger sich informieren und kommunizieren wie wissende Staatsbürger. Und in der Politiker die black box democracy aufgeben zu Gunsten einer Transparenz, die Erkenntnisse so offen macht wie Christian Drosten in seinen Podcasts und Maßnahmen so ausführlich erklärt wie Andrew Cuomo, der Gouverneur von New York, in seinen täglichen TV-Briefings.
Aus Bürgern wissende Staatsbürger zu machen, die so viel Wissen haben, dass sie ein Leben mit dem Virus hinbekommen, dabei möchte diese Website helfen. Unser Team aus Wissenschaftlern und Reportern ist seit Februar den Spuren des Virus gefolgt, vom Tiermarkt im mittleren China aus rund um den Erdball nach Europa, in die USA und nach Südamerika. Recherchen bei Infizierten, Angehörigen von Opfern, Ärzten, Virologen, Politikern und Wirtschaftsexperten helfen, die Frage zu beantworten, wie die Menschheit die Pandemie noch in den Griff bekommen kann.
Habt ihr Fragen? Sucht ihr nach Studien und Reportagen? Wollt ihr wissen, ob eine Nachricht stimmt oder nicht? Wie es ist, wenn man sich infiziert hat? Wir wollen euch helfen, Antworten zu finden.