Dresden: Die Polizei schaut weg
Wer sich zu einem Protest verabredet, „versammelt“ sich nach deutschem Recht, demonstriert also, und das muss vorher angemeldet werden. Wer das nicht macht, begeht eine Straftat. In Dresden kommt es in einem fort zu unangemeldeten Demonstrationen vor künftigen Flüchtlingsunterkünften – doch die Polizei macht nichts dagegen
Am Abend des 27. Oktober versammeln sich im Dresdner Stadtteil Laubegast rund 100 Menschen gegenüber einem Hotel, das zu einer Flüchtlingsunterkunft umgebaut werden soll. Die Leute sind erbost, sie wollen nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Die Umbaumaßnahmen sind in vollem Gange. Da kommt es zu einer Rangelei. Ein junger Mann wird von mehreren Demonstranten geschubst und festgehalten. Er läuft weg, wird eingeholt und niedergerissen. Zwei Polizisten beobachten die Szene, Umstehende fordern sie auf, einzuschreiten und den jungen Mann zu schützen. „Was soll ich denn machen“, sagt einer der Polizisten. „Ich gehe da jetzt nicht hin.“
Wäre dieser Angriff nicht von Medien berichtet worden, dann hätte die Öffentlichkeit von dem Protest vor dem Hotel kaum Notiz genommen. Denn eine Versammlungsanzeige lag nicht vor. Die Polizei war offensichtlich unvorbereitet. Doch warum wurde nicht Verstärkung geholt oder die Versammlung aufgelöst, wenn durch sie offensichtlich eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit geschaffen wurde?
Seither haben sich fast jeden Tag angeblich „besorgte Anwohner“ und Rechtsextreme vor dem ehemaligen Hotel versammelt. Mal 20, mal 150. Am 30. Oktober wird ein Transparent mit der Aufschrift „Dresden macht sich grade – für Deutschland“ ausgerollt. Jenes Banner, das am 19. Oktober bei den Ausschreitungen rund um den Jahrestag von PEGIDA als Front-Transparent des Hooligan-Blocks diente. Doch statt in den Folgetagen präsenter zu sein, zieht sich die Polizei zurück. Bis jetzt ist keine der Versammlungen bei einer der zuständigen Behörden angemeldet worden. Es seien „Ansammlungen“, ist seitens der Behörden und der Sächsischen Regierung zu hören.
Christoph Degenhart, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Leipzig, widerspricht. Er sagt, Proteste gegen die Unterbringung von Asylbewerbern seien sehr wohl Versammlungen. „Die kollektive Meinungskundgabe ist hier entscheidend.“ Die zuvor erfolgte Mobilisierung, die Flyer, das gemeinsame Motto, die Transparente – all das deutet darauf hin, dass die Aufmärsche vor dem Hotel keine bloßen „Ansammlungen“ sind, sondern eben Versammlungen. Wohlgemerkt: nicht angemeldete Versammlungen. Degenhart: „Die Position der Sächsischen Regierung erscheint mir nicht zwingend.“
Im Internet, auf der Facebook-Seite „Nein zum Vier-Sterne-Heim in Laubegast“, wird von spontanen Versammlungen von Laubegastern gesprochen, einen Organisator gebe es nicht. Doch es sind nicht nur Anwohner, die hier auf die Straße gehen. Es gibt eindeutig Hintermänner, die den Protest steuern. Das geschieht über Flyer und im Internet. Oftmals, wenn die Seite aktiv mobilisiert, gibt es später am Abend einen Aufzug. Wenn nicht, trifft man sich einfach so vor der Unterkunft, um die Meinung nach außen zu tragen. Fackeln und Kerzen sind nicht selten zu sehen.
Also sind es Versammlungen, die angemeldet werden müssten. Wer eine Versammlung nicht anmeldet, verstößt gegen das Versammlungsrecht, wer sie trotzdem durchführt, kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr belangt werden.
In mehreren Kleinen Anfragen haben Politiker versucht zu verstehen, auf welcher Grundlage die Behörden diese und andere offenkundigen Versammlungen als „Ansammlungen“ qualifizieren. Nach einem „Schweigemarsch“ im Chemnitzer Vorort Einsiedel blockierten Anfang Oktober rund 150 Menschen eine geplante Flüchtlingsunterkunft. „Die Ansammlung wurde weder als Versammlung angezeigt noch stellte sie eine Versammlung dar“, antwortet das Sächsische Innenministerium, ohne konkret zu werden.
In Dresden schiebt die zuständige Versammlungsbehörde die Verantwortung der Polizei zu. „Soweit eine Behörde nicht vor Ort ist, kann sie diese Einschätzung nicht treffen.“ Die Polizei habe in diesen Fällen eine „gesetzliche normierte Eilzuständigkeit“. Doch die will davon nichts wissen. Die Einschätzung oder Klassifizierung obliege der Versammlungsbehörde. „Diese Entscheidung haben wir als Polizei nicht zu kommentieren.“
Die Organisatoren der Proteste sind froh über die Unstimmigkeiten. So müssen sie keine Verantwortlichen benennen, die für zahlreiche Verstöße gegen das Sächsische Versammlungsgesetz belangt werden könnten. „Entspannte Polizisten nickten anerkennend, alles blieb ruhig und easy so wie wir unser Laubegast kennen“, steht anschließend auf ihrer Facebook-Seite. Über den Aufzug am 18. November schreiben sie: „Auch gilt ein Dank der Polizei Sachsen, welche die Prozession begleitete.“ Die Organisatoren fühlen sich so sicher, dass sie sogar die Gründung einer „Bürgerwehr“ angekündigt haben, um die Anwohner vor den Asylsuchenden zu „schützen“. „Wir bezweifeln, dass die Polizei allein das Gewaltmonopol aufrecht erhalten kann“, schreiben sie am 20. November.
Folgt man der Argumentation der Behörden, müsste es für die Polizei mit Berufung auf das Polizeigesetz bei „Ansammlungen“ eigentlich einfacher sein, Platzverweise zu erteilen oder sie bei Übergriffen wie am 27. Oktober gar aufzulösen. Warum ist aber das Gegenteil der Fall und sie werden von der Polizei sogar begleitet? Es drängt sich der Verdacht auf, dass möglichst wenige von den Protesten erfahren sollen. Die Frage, wie viele „Ansammlungen“ mit Asyl-Thematik es 2015 bereits gab, kann das Innenministerium nicht beantworten: „Ansammlungen werden durch die Behörden weder erfasst noch registriert.“ Damit werden es in der Statistik wohl einige Proteste vor geplanten Unterkünften weniger sein. Und welche „Ansammlungen“ kennen wir noch nicht?
In den letzten Tagen ist es ruhiger geworden in Laubegast. An einer von der AfD angemeldeten Kundgebung nahmen nur 150 Personen teil – für die Organisatoren eine große Enttäuschung. Doch auf Facebook wird deutlich, dass jede Aktivität rund um das ehemalige Hotel genau beobachtet wird. Seit kurzem ist die Seite „Nein zum Vier-Sterne-Heim in Laubegast“ ein Bündnis mit den Blockierern der Flüchtlingsunterkunft im Dresdner Stadtteil Übigau eingegangen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es auch in Laubegast zu Blockadeversuchen kommt, wenn ein genauer Einzugstermin für die ersten der insgesamt 94 Asylsuchenden bekannt wird. Bis dahin wird auf Facebook weiter provoziert. Am Donnerstagabend war dort ein Foto zu sehen, auf dem vor der zukünftigen Unterkunft 21 Protestler Blätter mit Buchstaben in die Luft halten, die zusammen den Schriftzug „Laubegaster Ansammlung“ ergeben.