199 Übergriffe, kaum Verurteilungen
Im Jahr 2014 gab es 199 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Eine gemeinsame Recherche von CORRECTIV und „SpiegelOnline” zeigt im Detail, wie viele Fälle aufgeklärt, wie viele Täter verurteilt wurden.
Diese Recherche erscheint gemeinsam mit „SpiegelOnline“.
Volksverhetzung, Sachbeschädigung, Körperverletzung: 199 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte wurden im Jahr 2014 laut offizieller Statistik in Deutschland gezählt. Weil die Übergriffe vor mehr als einem Jahr stattfanden, kann man jetzt zu einer abschließenden Analyse kommen. Die 2014er Zahlen sind also die aktuellsten, die man vollständig bilanzieren kann.
Selbst mit ausreichend zeitlichem Abstand gestaltete sich die Recherche als schwierig. Denn in der offiziellen Statistik sind die Fälle anhand von Datum, Ort und Delikt verzeichnet – ohne Aktenzeichen, das aber notwendig ist, um die Auskunft von der Staatsanwaltschaft zu bekommen. Diese Aktenzeichen mussten also zunächst bei vielen einzelnen Polizeibehörden erfragt werden.
Insgesamt 157 der 199 Fälle ließen sich auf diese Weise überprüfen. Das Ergebnis: Bei Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte führen die Ermittlungen nur selten zum Erfolg. Selbst wenn die Polizei der Staatsanwaltschaft Tatverdächtige benennen kann, folgt meistens die Einstellung des Verfahrens – weil die Täterschaft nicht nachweisbar ist.
Von den 157 Fällen, die wir überprüfen konnten, wurden in 50 Fällen Tatverdächtige ermittelt. Von diesen 50:
- endeten 15 Verfahren mit einer Verurteilung. Das Strafmaß reichte von Geldstrafen über Bewährungsstrafen bis hin zu 5 Jahren Haft für versuchten Mord. Die beiden Täter im mecklenburgischen Sanitz hatten Molotowcocktails auf ein Haus geworfen, in dem Flüchtlinge schliefen
- laufen fünf Verfahren noch
- wurden 28 Verfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt, weil die Tat nicht nachweisbar war. Es gab also einen Anfangsverdacht, die Polizei benannte Verdächtige, aber es konnten keine Zeugen oder ausreichende Beweise ermittelt werden. So dass die Staatsanwaltschaft von einer Anklage absah. Darunter sind vier Fälle, in denen der Täter bereits wegen eines anderen Delikts zur Rechenschaft gezogen wurde.
- sind zwei Fälle polizeilich abgeschlossen, wurden aber noch nicht staatsanwaltlich bearbeitet.
In 107 der von uns überprüften 157 Fälle wurde kein Tatverdächtiger ermittelt, in drei davon machten die Behörden keine Angaben.
Wie ist diese hohe Einstellungsquote zu bewerten? Dass mehr als die Hälfte dieser Fälle eingestellt wurden, spreche für eine schwierige Beweisführung, sagt Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle, die auf dem Gebiet der Strafverfolgung forscht. Der Begriff „aufgeklärt“ sei zudem irreführend. „Als aufgeklärt gilt ein Fall, wenn die Polizei der Staatsanwaltschaft Namen liefert“, so der Kriminologe. Die hohe Einstellungsquote könne Hinweise für eine Verbesserung geben, meint Rettenberger.
Auch der Dresdner Oberstaatsanwalt Lorenz Haase sieht die hohe Einstellungsquote nicht negativ. Sie zeige, dass jeder Fall genau untersucht werde. Auch Martin Steltner, Pressesprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, auf die mit 41 Fällen der Großteil aller Übergriffe entfällt, hält sich mit Schuldzuweisungen zurück. Dass die Einstellungsquote hoch ist, sei normal.
Das Themenfeld „Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte“ existiert beim Bundeskriminalamt (BKA) erst seit dem Jahr 2014. Im Rahmen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes werden dabei von den jeweiligen Landesbehörden jene Straftaten weitergegeben, die „erkennbar im Zusammenhang mit der Asylthematik stehen.“ So heißt es in den Antworten der Bundesregierung auf Kleine Anfragen, die seitdem quartalsmäßig von Linken-Politikern gestellt werden.
Von den insgesamt 199 Übergriffen gelten 172 als politisch rechtsmotiviert – laut offizieller Statistik des BKA. Nicht unter diese Kategorie fallen beispielsweise Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen. In anderen Fällen ist die Einstufung schwerer nachzuvollziehen. So wurde in einem Fall in Dietenheim in Baden-Württemberg, bei dem Flugblätter verteilt wurden, in denen vor „den Gefahren“ für die Bevölkerung durch die Unterbringung von Flüchtlingen in einer laut Staatsanwaltschaft „grenzwertiger Weise“ gewarnt wurde, zwar wegen Volksverhetzung ermittelt, die Straftat jedoch nicht als rechtsmotiviert eingestuft.
2015 stieg die Zahl der Übergriffe rapide an, sie verfünffachte sich nahezu auf 988. Davon fiel erneut jeder dritte in die Kategorie Sachbeschädigungen. Brandstiftungen nahmen deutlich zu: von 3,5 Prozent aller Fälle im Jahr 2014 auf 9 Prozent im vergangenen Jahr.
Im Dezember 2015 haben die Kollegen von „Zeit Online“ die vorläufigen Zahlen für das gerade zuende gehende Jahr untersucht. Viele Ermittlungen dauerten zu dem Zeitpunkt noch an. Das ernüchternde Ergebnis damals: Noch nicht einmal für jede vierte schwerwiegende Attacke konnte ein Tatverdächtiger ermittelt werden.
Die Aufklärungsquote bei Sachbeschädigungen liegt bei Flüchtlingsunterkünften bei 21 Prozent. Die Aufklärungsquote in der polizeilichen Kriminalstatistik für allgemeine Sachbeschädigungen liegt bei 24,9 Prozent, also ungefähr gleichauf.
Mitarbeit: Christina Elmer und Patrick Stotz