Integration & Gesellschaft

NRW: Wie viele Jobs kosten uns geschlossene Grenzen?

Europas Rechtspopulisten wollen die EU zerschlagen. Das ist nicht nur ein zivilisatorischer Rückschritt. Ein Ende der EU kostet Jobs und macht uns alle ärmer. Ein Analyse für Nordrhein-Westfalen.

von Stefan Laurin

© Old Europe Spy von Maik Meid unter Lizenz CC BY-SA 2.0

Das Schreckensszenario: Die Welt macht die Grenzen dicht. Zäune und Zölle zeugen von einem neuen Nationalismus. Unwahrscheinlich? Die Alternative für Deutschland lehnt die bislang übliche Freizügigkeit innerhalb der Europäische Union ab. Marine LePen vom rechtsradikalen Front National will ebenso wie ihr niederländisches Gegenstück Geert Wilders die EU verlassen. Großbritannien hat den Austritt bereits im vergangenen Jahr beschlossen. Der im November gewählte US-Präsident Donald Trump will zum Schutz der amerikanischen Industrie die Zölle massiv erhöhen.

Gegen Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP hat sich eine breite Front über Parteigrenzen hinweg gebildet: Linkspartei, AfD, Grüne, NPD und Teile der SPD sind dagegen, den Freihandel weiter auszubauen. Doch was würde ein Zusammenbruch für uns in Nordrhein-Westfalen konkret bedeuten?

„Die Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen ist auf das Engste mit dem Europäischen Binnenmarkt verknüpft“, sagt Alexander Hoeckle von der Industrie- und Handelskammer Köln. „Unsere wichtigsten Handelspartner haben wir in der Europäischen Union. Holland und Frankreich sind ganz wichtige Märkte für Unternehmen aus NRW. Der europäische Binnenmarkt ist für die Unternehmen im Land noch bedeutender als China, die USA oder Osteuropa. Wir gehören zu den maßgeblichen Profiteuren der europäischen Einigung.“

Der freie Austausch von Menschen, Kapital, Waren und Dienstleistungen vergrößere den Markt und senke die Kosten, sowohl für Unternehmen als auch für Kunden, erklärt er. „Je weniger Barrieren es gibt, umso besser.“ Und Barrieren seien mehr als Zölle, die US-Präsident Donald Trump für Importautos auf 35 Prozent erhöhen will: „Da geht es dann um Prüf- und Zulassungsverfahren mit zum Teil hohen Kosten. Die sind zum großen Teil politisch und nicht sachlich begründet. Warum ein amerikanischer Mensch auf ein medizinisches Produkt anders reagieren soll als ein deutscher, ist nicht logisch zu erklären.“ Zum Teil seien auch Traditionen im Spiel: „Wir nutzen Antibiotika, um bei Hähnchen die Keime in den Griff zu bekommen, die USA Chlor. Da prallen dann Anschauungen aufeinander.“

NRW-Wirtschaft ist auf Export angewiesen

Wie viele Arbeitsplätze in NRW am europäischen Binnenmarkt und an einem funktionierenden Welthandel hängen, kann der IHK-Experte nicht genau sagen. Aber er kann mit einigen wenigen Zahlen aufzeigen, wie wichtig Exporte sind: „Das verarbeitende Gewerbe in Nordrhein-Westfalen macht 45,6 Prozent seines Umsatzes mit Exporten. Und von denen gehen 60 Prozent in Staaten, die zur Europäischen Union gehören.“

Wenn die Barrieren, egal ob Zölle oder andere Handelshemmnisse, erhöht würden, sei das vor allem ein Problem für den Mittelstand: „Große Unternehmen haben ganze Abteilungen, die Staaten, in die sie exportieren wollen, genau analysieren“, sagt Hoeckle. „Mittelständische Unternehmen können sich so einen Aufwand oft nicht leisten. Sie sind darauf angewiesen, dass die Regeln einheitlich sind.“

Es sei ideal, wenn Produkte an den Orten hergestellt werden, an denen das am besten und am günstigsten geht. In der Fachsprache nennt sich das „komparativer Kostenvorteil“. Die Autoindustrie nutzt diesen seit langem: Da kommt die Elektronik aus Korea, der Stahl für die Bleche aus Schweden, die Kupplungen aus dem Schwarzwald und die Federn aus Italien. „Autos sind keine nationalen, sie sind internationale Produkte.“

Einkommen der US-Mittelschicht gesunken

Eine große Vielfalt der Angebote, Jobs und günstige Preise – eigentlich müssten offene Märkte nur Freunde haben. Eigentlich, denn auch wenn es viele Gewinner der Globalisierung gibt, sagt Hoeckle, es gebe nun einmal auch Verlierer: „Die jetzige Generation kann in Ländern wie den USA oder Frankreich nicht mehr ihren Kindern versprechen, dass es ihnen einmal besser gehen wird.“ Das sei ein Grund dafür, dass der Freihandel in die Kritik geraten sei, meint Höckle. In den USA sind die Einkommen der Mittelschicht in den vergangenen Jahren gesunken während die Gutverdiener beim Einkommen deutlich zulegen konnten. „Aber ob es den nachfolgenden Generationen besser geht, hängt auch von den Rahmenbedingungen ab, die in den Ländern herrschen. Sie müssen wettbewerbsfähig sein, wenn sie mithalten wollen.“

Arbeitszeitverkürzungen, hohe Mindestlöhne und ein starker Kündigungsschutz seien wie hohe Energiepreise: politisch gewollt, aber sie kosteten Jobs. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen würden dann auf die freien Märkte geschoben.

„Aber aus der Geschichte wissen wir, dass freier Handel unter dem Strich ein Wohlstandsbringer ist. Wir hatten schon einmal eine Phase, in welcher der Welthandel wichtig war und diese wurde abgelöst von Jahrzehnten, in denen die Grenzen wieder dicht gemacht wurden. Wohlhabender wurden die Menschen in dieser Zeit nicht und friedlich ging es auch nicht zu.“

1914 endete eine Zeit offener Grenzen

Die Ära offener Grenzen in Europa beendete 1914 der Erste Weltkrieg. Ihm folgten Jahrzehnte des nationalen Egoismus. Krieg, Verfolgung, Armut und Unterdrückung prägten diese Zeit. Erst als nach dem Zweiten Weltkrieg die westlichen Staaten die Grenzen abbauten und begannen wieder zusammenzuarbeiten, nahmen dort Freiheit, Demokratie und Wohlstand wieder zu. Bis heute.

Eines der größten Industrieunternehmen in Nordrhein-Westfalen ist die Bayer AG. Das in Leverkusen ansässige Unternehmen ist mit Arzneimitteln und Pflanzenschutzmitteln international ausgerichtet. Weltmarken wie Aspirin haben Bayer weltbekannt gemacht.

Zur Zeit steckt das Unternehmen in der größten Firmenübernahme aller Zeiten: Bayer hat  66 Milliarden Dollar für seinen US-Konkurrenten Monsanto geboten. „Wir stehen für freie, offene Märkte und für freien Handel“, sagt Pressesprecher Christian Hartel. „Wir unterhalten Produktionsnetzwerke rund um den Globus. Wir forschen und pflegen Forschungskooperationen in allen wichtigen Ländern, und die Entwicklung neuer Produkte ist auch eine sehr internationale Angelegenheit. Kurz: Wir sind als Unternehmen in der vernetzten Welt auf Offenheit, Marktzugang und Verzicht auf Schranken jeder Art eingestellt.“

Keine Notfallpläne für EU-Zerfall

Hartel ist der Ansicht, dass nicht nur Unternehmen wie Bayer vom Freihandel profitieren: „Das gilt genauso für viele andere Firmen – große und mittlere, in Europa wie auch in Nordamerika und in anderen Regionen. Diese Vernetzungen sind von Vorteil für die einzelnen Volkswirtschaften – Beschränkungen der Handelsbeziehungen bewirken das Gegenteil.“

Wie viele Jobs eine Renaissance der Handelsbeschränkungen kosten würde, sagt Hartel nicht. Es gebe keine Pläne bei Bayer für ein Szenario, in dem die Europäische Union zerbricht, weil niemand sich auf so eine Situation einstellen könne. Die EU und der Euro hätten sich bewährt: „Entsprechend gehen wir davon aus, dass die EU insgesamt und der Euro in den vergangenen Jahrzehnten für uns positiv waren und jegliche Art von Protektionismus nachteilig sein würde, international, national und auch auf Länderebene.“    

Roland Döhrn beobachtet seit Längerem, dass der Handel über die Grenzen der Staaten hinweg abnimmt. Er ist Leiter des Kompetenzbereichs „Wachstum, Konjunktur, Öffentliche Finanzen“ beim RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen. „Es gibt viele Gründe für die augenblicklich Schwäche des Welthandels: Chinas Wirtschaft orientiert sich stärker nach innen, Staaten wie die USA importieren weniger Energie, die Krise in vielen Staaten der Europäischen Union. Aber all das reicht nicht aus, um das Phänomen zu erklären.“

Der Andere hat immer Schuld

Döhrn ist sich sicher, dass ein weiterer Faktor dazu kommt: „Immer mehr Staaten versuchen, mit protektionistischen Maßnahmen ihre Wirtschaft zu schützen.“ Es gebe ein Phänomen, das um sich gegriffen habe und zunehmend das Denken bestimme: „Für viele ist die Sache ganz einfach: Der Andere hat Schuld. Und dabei ist es egal, wer dieser Andere ist. Für den US-Präsidenten Donald Trump sind es die Mexikaner und die europäischen und asiatischen Autobauer. Die Briten, die für den Brexit gestimmt haben, halten die polnischen Arbeiter für ein Problem, die ihnen angeblich ihre Jobs genommen haben.“

Die TTIP- und CETA-Gegner von rechts bis links in Deutschland glauben, die USA oder die Schiedsgerichte, die angeblich Umwelt- und Sozialgesetze aushebeln, seien die Ursache kommender Schwierigkeiten. „Mit Fakten hat das alles wenig zu tun und Fakten will scheinbar auch niemand hören“, sagt Döhrn. Dass es seit über 100 Jahren im Handel Schiedsgerichte gibt und dass sich belegen lässt, dass diese genauso oft gegen wie für die Unternehmen entscheiden, interessiert beispielsweise niemanden.“

Die Probleme der britischen Öffentlichkeit mit der Zuwanderung haben seiner Meinung nach wohl weniger mit der Freizügigkeit in der Union zu tun, als mit den Nachwirkungen des Empires: „Viele Menschen aus den ehemaligen Kolonien haben noch einen britischen Pass und können jederzeit in das Land einreisen.“

Schutzzölle helfen nicht gegen eigene Probleme

Und dass die Wähler von Trump wahrscheinlich diejenigen sind, die am meisten darunter litten, wenn die USA die Einfuhrzölle erhöhten, sei naheliegend, würde aber auch nur wenige seiner Fans interessieren: „Gerade wer es wirtschaftlich nicht so leicht hat, ist auf preiswerte Importe angewiesen. Jeans aus Bangladesch oder Fernseher aus China sind preiswerter als vergleichbare Produkte aus den USA, die sich viele nicht leisten können.“

In Deutschland begründe die Stahlindustrie ihre Krise mit billigem Stahl aus China. „Europa importiert mehr Stahl aus Russland als aus China, aber darüber redet kaum jemand.“ Das Problem der europäischen Stahlindustrie sei, dass der Stahlverbrauch bedingt durch den technischen Fortschritt sinkt. Zudem sind durch den Zusammenbruch des Baubooms in einigen Ländern riesige Überkapazitäten entstanden. Man tut sich politisch aber sehr schwer, diese zu verringern. Deutschland steht dabei sogar noch recht gut da. „Schutzzölle gegen chinesischen Stahl klingen vielleicht gut, helfen aber nicht gegen die europäischen Überkapazitäten.“

Eigentlich, sagt Döhrn, sei es gar nicht so schwer, eine Volkswirtschaft fit für die Globalisierung zu machen: „Es darf nicht zu viel reguliert werden, die Infrastruktur muss stimmen und Bildung und Forschung sollten exzellent sein.“ Wichtig sei auch die Mentalität der Menschen: „Sie müssen Wachstum wollen und nicht in jeder Investition und jeder Forschung zunächst einmal nur das Risiko sehen.“ Aber daran hapere es. Immer weniger Menschen sei in Ländern wie Deutschland klar, woher ihr Wohlstand komme: „Deutschland ist ein reiches Land, weil es eine starke Exportwirtschaft hat. Hier werden Waren wie Maschinen oder Autos hergestellt, die sich auf dem Weltmarkt behaupten. Mit diesen Industrien erwirtschaften wir unseren Wohlstand und in diesen Industrien gibt es gut bezahlte Arbeitsplätze.“

Der Süden Deutschlands hat noch mehr zu verlieren

Sinken die Exporte drastisch, weil Staaten sich gegen den Freihandel entscheiden – oder im schlimmsten Fall sogar die Europäische Union zerbricht – dann gehen diese Industrien und diese Arbeitsplätze verloren. „Das lässt sich dann auch nicht mit neuen Jobs in der Gesundheitswirtschaft auffangen, wie einige Politiker gerne erzählen.“ Denn wer als Pflegerin oder Masseur in einem Krankenhaus arbeitet, verdient längst nicht so viel wie ein Arbeiter bei Ford in Köln oder in einem Maschinenbauunternehmen im Sauerland. „Und auch das Geld, das unser Gesundheitssystem am Laufen hält, wird ja überwiegend über Krankenkassenbeiträge erhoben und muss erst erwirtschaftet werden.“ Und das wird es zu einem großen Teil durch den Export.

Auch Döhrn kann nicht genau sagen, wie viele Jobs in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen durch einen Einbruch beim Export verloren gingen. „Nordrhein-Westfalen ist im Export ohnehin schwächer als Baden-Württemberg oder Bayern. Einerseits könnte das heißen, dass der, der in guten Zeiten schon Schwächen zeigt, also NRW, mehr verliert, wenn das Exportklima rauer wird. Andererseits haben die beiden südlichen Bundesländer mehr zu verlieren als NRW.“

Die Wirkungen eines Super-Gaus, wenn Politiker wie Marine LePen und Geert Wilders an die Macht kommen und die EU auseinanderfällt, seien seriös nicht abzuschätzen. Es ist übrigens genau dieser Super-Gau, den sich der NRW-Vorsitzende der AfD wünscht: Marcus Pretzell ist ein Bewunderer der Front National-Vorsitzenden Marine LePen. Das ihre Politik, würde sie je umgesetzt werden, den Standort NRW Jobs und Wachstum kosten würde, ist ihm offenbar egal.