Jugend & Bildung

Fragen und Antworten zum Rechtsstreit um den Kitaplatz

Viele Eltern in Nordrhein-Westfalen stehen vor dem Problem einen Betreuungsplatz für ihr Kind zu finden. Oft verweisen die Kommunen auf fehlende Kapazitäten. Was tun? Ein Beispiel aus Münster zeigt: Familien können sich durchaus auf ihre Rechte berufen. Doch es gibt Fallstricke.

von Pirmin Breninek

In NRW ist der Mangel an Betreuungsplätzen groß. In vielen Städten nutzen die Kommunen rechtliche Lücken, um ihr Defizit an Kitaplätzen auszugleichen.© McElspeth / pixabay

Aref K. hat eine Menge zu erzählen. Fast wirkt es so, als müsste er sich Frust von der Seele reden. Arefs Sohn Leon ist zwei Jahre alt. Wie jedes Kind in Deutschland hat Leon seit Vollendung seines ersten Lebensjahres einen Anspruch auf einen geeigneten Betreuungsplatz. So schreibt es das Gesetz vor. Doch in vielen Städten nutzen die Kommunen rechtliche Lücken, um ihr Defizit an Kitaplätzen auszugleichen. Insbesondere, wenn der Mangel an Betreuungsplätzen so groß ist wie in NRW. Das geht beinahe immer zu Lasten der Kinder. So wie im Fall Leons aus Münster. Er bekam nur mit anwaltlicher Hilfe einen Platz in einer Kindertagesstätte.

Hat mein Kind einen Rechtsanspruch auf Betreuung?

Sobald Ihr Kind seinen ersten Geburtstag feiert, hat es automatisch Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Den müssen Eltern allerdings geltend machen. Diese Regelung gilt in Deutschland seit dem 1. August 2013. Umsetzen sollen das die Kommunen. Nicht immer tun sie das nach den Wünschen der Eltern. Was zumutbar ist und was nicht, liegt oft im Ermessensspielraum der Juristen.

Ein Jahr lang tut sich nichts

„Alles fängt damit an, dass man sich in den Kita-Navigator einträgt“, sagt Leons Papa Aref. Der Kita-Navigator ist eine Weboberfläche, in der Eltern ihren Bedarf auf einen Betreuungsplatz in Münster anmelden. Sie können dort ihre Wunsch-Einrichtungen angeben. Das hatte Aref getan. Drei Tage nach der Geburt Leons im Februar 2016. Eigentlich soll die Plattform die Vergabe der Wunschplätze erleichtern. „Doch dann hören Sie erstmal wochenlang nichts“, sagt Aref. Lediglich eine von sieben Kitas erteilte ihm eine Absage.

Welche Fristen muss ich beachten?

Ab wann ein Kitaplatz beantragt werden muss, ist von Stadt zu Stadt unterschiedlich. In der Regel liegen die Fristen zwischen drei bis sechs Monaten vor dem gewünschten Eintrittsdatum. Halten Sie die Fristen nicht ein, muss Ihnen die Stadt bis dahin auch keine Betreuung gewähren. Das gleiche gilt übrigens, wenn Ihnen die Stadt einen Ablehnungsbescheid schicken sollte. In einigen Bundesländern — NRW gehört nicht dazu — ist das Praxis. In diesem Fall müssen Sie Widerspruch einlegen. Die Frist dafür beträgt in der Regel vier Wochen.

Aref begann sich deshalb persönlich bei den Kitas vorzustellen. Vor Ort hörte er jedoch oft, dass die Einrichtungen nur Geschwisterkinder akzeptieren würden – trotz verfügbarer Plätze. Diese Regelung soll verhindern, dass Familien mit mehreren Kindern auf verschiedene Einrichtungen verstreut sind. Ein-Kind-Haushalte sind dadurch jedoch benachteiligt.

Aref hakte weiter bei der Stadt Münster nach. Die machte ihm schließlich ein Angebot: Leon sollte in einer sogenannten Großtagespflege untergebracht werden. Das wollten Aref und seine Frau Khadisha eigentlich nicht. Zudem wäre die Betreuungszeit kürzer gewesen als gewünscht. Beantragt hatten Aref und Khadisha 45 Stunden. Für Leons Eltern war das der Knackpunkt.

Alternative: Tagespflege

Unter Tagespflege versteht man landläufig eine sogenannte Tagesmutter oder einen Tagesvater. Eine solche Kindertagespflegeperson darf bis zu fünf Kinder bei sich aufnehmen. Bei einer Großtagespflege haben sich mindestens zwei Tagespflegepersonen zusammengeschlossen. Gemeinsam dürfen sie nicht mehr als neun Kinder betreuen.

Die Tagespflege, die Aref und seiner Frau vorgeschlagen wurde, schließt täglich um 16.15 Uhr. Für Khadisha zu früh, um Leon rechtzeitig abholen zu können. Sie arbeitet als Ärztin und pendelt mit dem öffentlichen Nahverkehr nach Hamm. Der Zug braucht dafür eine knappe halbe Stunde, einfache Wegstrecke. Aref ist selbstständig und oft außerhalb Münsters unterwegs. Als im Juni 2017, Leon ist zu diesem Zeitpunkt bereits 16 Monate alt, noch immer keine Bewegung in die Sache gekommen ist, holen sich Aref und Khadisha juristische Hilfe.

Vergabepraxis nur schwer durchschaubar

schulte im busch.jpeg

Rechtsanwalt Henning Schulte im Busch

privat

„Das Verfahren in Münster läuft aus meiner Sicht falsch ab“, sagt Rechtsanwalt Henning Schulte im Busch. Er berät Leons Eltern. Der Jurist bemängelt, dass im konkreten Fall trotz freier Kitaplätze ein Angebot gemacht wurde, das für die Familie nicht ausreichend gewesen sei. „Entscheidend ist immer, ob die bestehenden Kapazitäten fair ausgeschöpft werden“, sagt Schulte im Busch. „Alle Kitaplätze für ein Kind in dieser Altersgruppe und mit einem entsprechenden Betreuungsumfang waren bereits belegt“, schreibt die Stadt Münster auf Nachfrage.

Schulte im Busch stört sich insbesondere an der Intransparenz des Vergabeverfahrens. Schwammig und undurchsichtig sei es, sagt er. Eines der Vergabekriterien lautete etwa, dass die Kinder „in die Gruppenstruktur passen“ müssen. „Da ist unklar, was das genau bedeuten soll“, so der Rechtsanwalt.

Erfolgreiche Klage 

Das sah das Verwaltungsgericht Münster ähnlich. Der dortige Richter gab der Familie im Juli 2017 Recht. Per Eilverfahren bekam Leon einen Kitaplatz zugesprochen. Seit Mitte September ist er nun in einer Einrichtung in der Innenstadt untergekommen, die zuvor keinen Platz für ihn hatte. Khadisha kann ihren Sohn wie gewünscht abholen.

Bildschirmfoto 2018-05-11 um 18.35.07.png

Der Rechtsstreit ging bis vor das Oberverwaltungsgericht. Am Ende bekamen Aref und Kadisha Recht. Hier die Berichterstattung der Westfälischen Nachrichten von 2017.

Screenshot Correctiv.Ruhr

Zwar legte die Stadt noch einmal Beschwerde ein. Doch das blieb ohne Erfolg. Im Dezember bestätigte das Oberverwaltungsgericht den Beschluss. Allerdings verlaufen Klagen um einen Kita-Platz nicht immer so erfolgreich wie im Fall Leons. Die Familie hatte Glück im Unglück.

Rechtsanspruch nicht genau abgesteckt

Viele Eltern kritisieren etwa, dass ihnen ein Platz in einer Tagespflege angeboten wird, obwohl sie ihr Kind in einer Kita unterbringen wollten. „Wenn die Stadt sagt: Wir haben keine Kita-Kapazitäten, dann muss der Tagespflegeplatz reichen“, sagt auch Schulte im Busch. Denn das Gesetz bleibt offen und verspricht lediglich: „frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege“. Damit sind beide Betreuungsformen vor dem Gesetz gleichwertig. Klagen gegen die Unterbringung in einer Tagespflege sind somit schwierig.

Mein Kind hat einen Platz in einer Tagespflege, soll aber in die Kita. Was kann ich tun?

Der Rechtsanspruch gilt für einen Betreuungsplatz. Das heißt: egal ob Kindertagesstätte oder Tagespflege. Die Stadt muss nur eines von beidem anbieten. Genauso wenig gibt es einen Anspruch auf einen Platz in der gewünschten Kita. Wenn eine andere Kita noch Kapazitäten hat und ähnlich gut erreichbar ist, darf die Stadt Ihrem Kind auch dort einen Platz anbieten.

Entscheidend vor Gericht ist vor allem die Zumutbarkeit des vorgeschlagenen Platzes. Maßgeblich dafür ist neben der täglichen Betreuungsdauer auch die Entfernung. Befinden sich Kita oder Tagespflege zu weit weg vom Wohnort, kann die Familie einen näher gelegenen Platz einfordern. So wie im Fall Leons. Die Stadt Münster hatte dem Jungen noch einen zweiten Platz zur Tagespflege angeboten. Der wäre über zehn Kilometer von der Innenstadt entfernt gewesen. Das ist entgegen der bisherigen Rechtsprechung.

Wie weit darf eine Betreuungsstelle höchstens entfernt sein?

Ein Angebot gilt gemeinhin dann als zumutbar, wenn es nicht mehr als fünf Kilometer vom Wohnort entfernt ist. Alternativ spricht die Rechtsprechung, insbesondere im städtischen Raum, von maximal einer halben Stunde Entfernung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Das Verwaltungsgericht Münster hatte im Fall Leons sogar von einer maximalen Entfernung von 15 Minuten gesprochen.

Situation in Münster auf dem Prüfstand

Trotz der erstrittenen Betreuung: Eine Erklärung, warum gerade Leon keinen Kitaplatz bekommen hat, fehlt der Familie bis heute. Weiterhin verteidigen die Entscheidungsträger ihr Vorgehen: „Die Stadt Münster war der Auffassung, dass das durchgeführte Verfahren richtig durchgeführt wurde.“

Betreuungssituation in Münster:

43,1 Prozent der Kinder unter drei Jahren besuchen in Münster eine Kita oder eine Tagespflege. Im NRW-weiten Vergleich rangiert Münster damit im oberen Viertel, bundesweit etwa 10 Prozent über dem Mittel. Es gibt aktuell 183 Kindertageseinrichtungen, 29 davon in städtischer Hand, der Rest mit privaten Trägern. In den letzten zehn Jahren hat die Stadt rund 3.000 Plätze allein für Kinder unter drei Jahren geschaffen.

Immerhin: Im Januar 2018 hat die Stadt nun ihre Kriterien zur Vergabe von Betreuungsplätzen überarbeitet. Der Passus hinsichtlich der „Gruppenstruktur“ ist entfallen. Das war nach dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts auch nötig. Kinder von berufstätigen Eltern sind nach den neuen Kriterien nun vorzuziehen – konkret auch dann, wenn ein anderes Kind zwar Geschwister in einer Kita hat, aber nicht beide Eltern berufstätig sind. Ein Schritt in die richtige Richtung, findet Aref.

Dennoch: Knappe Kitaplätze, langwierige Verfahren und undurchsichtige Aufnahmebescheide bleiben ein Thema. Rechtsanwalt Schulte im Busch sieht ein strukturelles Problem: „Wie das Gesetz ausgestaltet wird, das überlässt der Bund den Ländern – und die haben es an die Kommunen weitergegeben.“ Der Fall aus Münster belegt: Selbst in Städten mit hoher Betreuungsquote läuft längst nicht alles reibungslos.

Viel Ärger und Verdienstausfall

Bis Arefs Ärger verflogen ist, wird es wohl noch eine Weile dauern. Erst ein halbes Jahr später als geplant, konnte er wieder voll ins Arbeitsleben einsteigen. Rein juristisch gäbe es deshalb die Möglichkeit auf Schadensersatz zu klagen. „Aber das ist für mich als Selbstständiger schwer nachzuweisen“, sagt er.

Habe ich Anspruch auf Schadensersatz, weil mein Kind keinen Platz bekommt?

Wenn Sie nicht arbeiten können, weil Ihr Kind keinen Betreuungsplatz bekommt, können Sie auf Schadensersatz klagen. Drei Mütter aus Leipzig bekamen im Oktober 2016 in einem solchen Fall vor dem Bundesgerichtshof recht. Die Kommunen müssen in solchen Fällen für Verdienstausfälle aufkommen. Vorausgesetzt: Sie haben die fehlenden Kitaplätze zu verschulden. Wird eine Kita beispielsweise neu gebaut und es gibt Verzögerungen durch die Baufirma, gilt dieser Rechtsanspruch nicht.

Sein Anwalt Henning Schulte im Busch kann sich indes über Zulauf nicht beschweren. Nach dem gewonnen Verfahren haben sich zwölf weitere Eltern bei ihm gemeldet. Alle aus dem Raum Münster. Auch sie pochen auf das Recht ihres Kindes auf einen Betreuungsplatz.

Rechtsanwalt Schulte im Busch im Interview

Am Montagabend, 14. Mai, wird Rechtsanwalt Schulte im Busch auch Gast bei unserer Diskussionsrunde zu Kitaplätzen in NRW sein. Weitere Informationen zur Veranstaltung finden Sie HIER.

Weitere Fragen und Antworten

Sollte ich ein Betreuungsangebot annehmen, das mich nicht zufrieden stimmt?

Oft bieten die Kommunen einen Betreuungsplatz an, der für die Eltern mit erheblichen Anstrengungen verbunden ist. Zum Beispiel weil die Betreuungsdauer nur 35 statt 45 Wochenstunden umfasst. „Besser als nichts“, könnte man meinen. Nimmt man das Angebot jedoch an, verfällt dadurch unter Umständen den Anspruch auf eine längere Betreuung. Schließlich gibt man zu erkennen, dass das Unterangebot ausreicht. Auf juristischem Weg ist es dann kaum mehr möglich eine Vollzeitbetreuung zu erhalten.

Darf die Stadt einfordern, dass mein Kind bei seinen Großeltern untergebracht wird?

Egal ob die Großeltern in der Nähe sind oder nicht: Für den grundlegenden Anspruch auf einen Betreuungsplatz spielt das keine Rolle. Der Rechtsanspruch gilt ab dem 1. Lebensjahr, unabhängig von familiären Bedingungen. Anders verhält es sich bei einer etwaigen Klage. Dort müssen die Eltern gegebenenfalls darauf verweisen, dass es für sie keine Möglichkeit gibt, ihr Kind bei Verwandten oder Freunden unterzubringen.

Weil mein Kind keinen Kitaplatz bekommen hat, ist es jetzt in einer teureren privaten Einrichtung. Bekomme ich die Mehrkosten erstattet?

Die Rechtsprechung ist dahingehend unterschiedlich. Grundsätzlich entschied das Bundesverwaltungsgericht bereits im September 2013, dass die Aufwendungen für einen privaten Kitaplatz „unter bestimmten Voraussetzungen“ zu erstatten sind. In einem Fall aus München urteilte das Bundesverwaltungsgericht jedoch: Der Anspruch auf einen Betreuungsplatz beinhaltet kein Wahlrecht zwischen öffentlicher und privater Betreuung. Die Mehrkosten für die private Betreuung musste die Stadt München in diesem Fall nicht erstatten.