Elf angebliche Forderungen aus dem Wahlprogramm der Grünen im Faktencheck
Auf Facebook kursiert eine Liste mit Forderungen, die angeblich im Wahlprogramm der Grünen stehen sollen. Darunter zahlreiche Verbote und Preiserhöhungen. Die meisten der aufgestellten Behauptungen sind falsch oder es fehlt wesentlicher Kontext.
„Wer wählt so ein politisches Programm?“, wird auf Facebook gefragt und ein Bild verbreitet, auf dem Fotos der beiden Parteivorsitzenden der Grünen, Robert Habeck und Annalena Baerbock, zu sehen sind. Dazu werden 13 Punkte aufgelistet, die angeblich im Wahlprogramm der Partei Bündnis 90/Die Grünen stehen sollen. Der Beitrag von Ende März wurde mehr als 1.800 Mal auf Facebook geteilt.
Ein endgültiges Wahlprogramm der Grünen für die Bundestagswahl im September 2021 gibt es bislang nicht. Am 19. März wurde aber ein Programmentwurf veröffentlicht. Der soll auf dem nächsten Grünen-Parteitag vom 11. bis 13. Juni diskutiert und final beschlossen werden.
Von den insgesamt 13 Punkten in dem Facebook-Beitrag hat CORRECTIV.Faktencheck elf geprüft. Mehrere sind falsch oder es fehlt Kontext. Die Punkte „Entzug von Freiheit“ und „Entzug von Selbstbestimmung“ sind für einen Faktencheck nicht geeignet, weil es sich dabei um unkonkrete Begriffe und Pauschalisierungen handelt.
1. Behauptung: Höhere Strompreise
Bewertung: Fehlender Kontext
Wir haben nach dem Wort „Strompreis“ im Programmentwurf der Grünen gesucht. Dazu heißt es auf Seite 36 unter dem Abschnitt „Zukunftsfähigkeit eines starken Handwerks sichern“: „Durch die Senkung der EEG-Umlage sorgen wir für bezahlbare Strompreise.“ Zum Thema Strom schreiben die Grünen zudem auf Seite 7: „Statt Ölheizungen werden Wärmepumpen, Power-to-Heat und Strom aus erneuerbaren Energien die Heizquellen der Zukunft.“
Auf Seite 9 des Entwurfs ist zudem die Rede von einer „Energierevolution“. Es wird ein Ausstieg aus fossilen Energien gefordert, unter anderem bezüglich der Stromversorgung. Auch erwähnen die Grünen eine „umfassende Steuer- und Abgabenreform“, damit „Strom zu verlässlichen und wettbewerbsfähigen Preisen vorhanden“ sei.
Im April 2021 legte die Bundestagsfraktion der Grünen ein Papier mit Maßnahmen zur Reformierung des Strommarktes vor. Die Änderungen sollen den Strommarkt nach und nach komplett auf erneuerbare Energien ausrichten. In dem Papier heißt es: „Die Strompreise müssen darum endlich widerspiegeln, wann Strom tatsächlich günstig ist. Dann nämlich, wenn richtig viel Wind- und Sonnenstrom durch unsere Leitungen fließt.“
Dem Beschluss der Grünen-Fraktion ist zu entnehmen, dass die Grünen Strom aus umweltschädlichen Quellen auf dem Markt tatsächlich unattraktiver – also teurer – machen wollen. Als Instrumente dafür wollen sie einen CO2-Preis und die EEG-Umlage nutzen.
Ob die Umsetzung dieser Forderungen in Zukunft insgesamt zu höheren Strompreisen führen würde, ist nicht pauschal zu beantworten. In einem Artikel der Welt heißt es zum Beispiel: „Mit einer schnellen Verdopplung der CO2-Abgabe auf Benzin und Heizöl wollen die Grünen die Energiewende finanzieren. Strompreis-Senkungen und ein ‘Energiegeld’ für Bürger sollen die Belastungen ausgleichen.“
2. Behauptung: Höhere Heizkosten
Bewertung: Fehlender Kontext
Zum Thema Heizkosten steht im Programmentwurf der Grünen auf Seite 9: „das Öl für die Heizung und das Gas im Industriebetrieb müssen auf erneuerbare Energien umgestellt werden“. Darüber hinaus ist auf Seite 16 von einer „Klima-Sanierungsoffensive bei Gebäuden“ die Rede.
In diesem Zusammenhang schreibt die Partei: „Wenn im Gebäudebestand ein Heizungsaustausch ansteht oder umfassend saniert wird, sollen Erneuerbare, wo immer möglich, verbindlich zum Einsatz kommen. Wir legen dazu ein Investitionsprogramm für 2.000.000 Wärmepumpen bis 2025 auf.“
Auch hier ist unbelegt, ob diese Maßnahmen insgesamt zu höheren Heizkosten führen werden. Für bestimmte Menschen könnte die Umstellung aber Mehrkosten verursachen.
Bereits seit dem 1. Januar 2021 gibt es in Deutschland einen CO2-Preis, der die Verwendung von Heizöl teurer macht. Nach Ansicht der Grünen ist dies ein Anreiz, um die Energieversorgung von Gebäuden umzustellen und zu sanieren. Die Grünen-Bundestagsfraktion verkündete im Dezember 2020 aber, sie wolle sich dafür einsetzen, dass die Mehrkosten bei Mietwohnungen komplett von den Vermietern bezahlt werden.
3. Behauptung Höhere Fleischpreise oder ein Verbot von Fleisch
Bewertung: Teilweise falsch
Die beiden Behauptungen in dem Facebook-Beitrag widersprechen sich. Von einem Verbot von Fleisch ist im Programmentwurf der Grünen nicht die Rede.
Zum Thema Fleischpreise heißt es im Entwurf auf Seite 28, Menschen in der Landwirtschaft würden „von Dumpingpreisen erdrückt“. Zudem würden zu viele Tiere gehalten. Das will die Partei ändern. „Damit Tierschutz wirtschaftlich machbar“ sei, sollen „Landwirt*innen durch eine Umbauförderung, faire Preise für ihre Arbeit und verpflichtende Haltungskennzeichnungen auf den Produkten für alle Tierarten“ unterstützt werden. Dabei sollen der Umbau in tiergerechte Ställe und die Weidetierhaltung durch einen „Tierschutz-Cent“ auf tierische Produkte gefördert werden.
Höhere Fleischpreise scheinen somit plausibel. Mit der Einführung eines „Tierschutz-Cents“ gäbe es eine Tierwohl-Steuer für Verbraucher, die alle tierischen Produkte betreffen soll.
4. Behauptung: Verbot von Autos
Bewertung: Falsch
Von einem Autoverbot ist in dem Programm nirgends die Rede. Unter dem Abschnitt „Autos der Zukunft bauen“ auf Seite 19 des Programmentwurfs steht lediglich die Forderung, ab 2030 nur noch „emissionsfreie Autos“ neu zuzulassen.
Die Partei schreibt, dass sich „die Automobilindustrie“ so bei der „Entwicklungsarbeit verlässlich auf Elektromobilität“ ausrichten könne. Bis dahin soll der Kauf emissionsfreier Autos über ein „Bonus-Malus-System“ in der Kfz-Steuer gefördert werden und die „Dieselsubvention“ beendet werden.
Außerdem wollen die Grünen den Ausbau der Infrastruktur für den Verkehr auf den Ausbau von Schienen, Radwegen und eine Vernetzung umweltfreundliche Verkehrsmittel fokussieren. Auf ein Verbot von Autos lässt aber keiner der Punkte schließen.
5. Behauptung: Verbot von Einfamilienhäusern
Bewertung: Falsch
Von Einfamilienhäusern oder einem Verbot diesbezüglich steht nichts im Programmentwurf. Die Behauptung zielt vermutlich auf eine Debatte von Februar 2021 ab. Am 12. Februar sagte Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter in einem Interview mit dem Spiegel (bezahlpflichtig), dass der Bau von Einfamilienhäusern aus ökologischen Gründen schlecht sei, weil er zu viel Fläche und Energie verbrauche und die Zersiedlung voran treibe.
Von einem Verbot war jedoch nicht die Rede. Hofreiter sagte im selben Interview: „Natürlich wollen die Grünen nicht die eigenen vier Wände verbieten. Die können übrigens sehr verschieden aussehen: Einfamilienhaus, Reihenhaus, Mehrfamilienhaus, Mietshaus. Wo was steht, entscheidet allerdings nicht der Einzelne, sondern die Kommune vor Ort.“ Bezüglich der Zukunft von Einfamilienhäusern sagte er: „Das wird von Region zu Region, von Ort zu Ort unterschiedlich sein. Man muss den Kommunen die Möglichkeit geben zu entscheiden.“
Die Bundestagsfraktion der Grünen stellte auch in einer Pressemitteilung am 13. Februar klar, dass die Partei keine Einfamilienhäuser verbieten wolle.
6. Behauptung: Verbot von Flügen
Bewertung: Teilweise falsch
Im Programmentwurf heißt es auf Seite 20, dass die Partei „Kurzstreckenflüge“ bis 2030 „überflüssig machen“ wolle. Dazu passend äußerte Annalena Baerbock in einem Interview mit der Bild am Sonntag (bezahlpflichtig) am 17. Mai, dass sie perspektivisch für die Abschaffung von Kurzstreckenflügen sei.
Dazu solle die Bahn „massiv“ ausgebaut werden, heißt es im Programmentwurf. Die Zahl von Langstreckenflügen gelte es zu vermindern und das Fliegen „gleichzeitig zu dekarbonisieren“ . Zudem sollen nach Ansicht der Grünen „umweltschädliche Subventionen im Flugverkehr“ abgebaut und „Finanzhilfen für unwirtschaftliche Regionalflughäfen“ beendet werden.
Einem generellen Flugverbot kommt nichts davon gleich. Lediglich im Bezug auf Nachtflüge heißt es im Entwurf: „Neben einer Reduktion des Fluglärms durch weniger und bessere Flugzeuge braucht es ein echtes Nachtflugverbot.“
7. Behauptung: Verbot von Reisen
Bewertung: Falsch
Es ist hier nicht ganz klar, was gemeint ist. „Reisen“ kann als „Urlaub“ oder „Verkehr“ verstanden werden. Zu beidem findet sich kein Verbot im Programmentwurf der Grünen.
Der Verkehr soll laut dem Entwurf, wie bereits oben geschildert, klimafreundlicher gestaltet werden. Langstreckenflüge sollen reduziert, aber nicht verboten werden. Das einzige geforderte Verbot beim Thema Verkehr betrifft Nachtflüge. Das Stichwort „Urlaub“ kommt nicht im Entwurf vor.
Beim Thema Tourismus gibt es auf Seite 37 einen Abschnitt mit der Überschrift „Der Tourismuswirtschaft nachhaltig auf die Beine helfen“. Dort wird beschrieben, wie Tourismus als „zentraler Wirtschaftsfaktor“ nach der Corona-Pandemie „klimaschonender, ökologischer und sozial nachhaltiger“ gestaltet werden kann. Weiter heißt es: „Ein ökologischer und sozial blinder Massentourismus mit klimaschädlichen Kreuzfahrtschiffen, endloser Müllproduktion und riesigem Ressourcenverbrauch hat keine Zukunft.“ Von einem Reise-, Urlaubs- oder Tourismusverbot ist nicht die Rede.
8. Behauptung: CO2-Steuer
Bewertung: Größtenteils richtig
Eine CO2-Bepreisung für die Bereiche Wärme und Verkehr gibt es in Deutschland bereits. Sie wird manchmal umgangssprachlich als „CO2-Steuer“ bezeichnet, es handelt sich aber um einen nationalen Emissionshandel. Dieser gilt in Deutschland seit Januar 2021, das Gesetz zur Änderung des Brennstoffemissionshandelsgesetzes ist am 10. November 2020 nach Zustimmung von Bundestag und Bundesrat in Kraft getreten.
Zum Thema CO2-Bepreisung heißt es im Programmentwurf der Grünen auf Seite 12: „Wollte man die Klimaziele allein über die Bepreisung von CO2 erreichen, müsste der Preis 180 Euro betragen, was unweigerlich zu erheblichen sozialen Unwuchten führen würde. Einige könnten sich rauskaufen, andere nicht mehr teilhaben. Wir sehen in der CO2-Bepreisung also ein Instrument von vielen, das wir wirksam und sozial gerecht einsetzen wollen.“
Zudem heißt es, es werde ein „CO2-Preis auch im Bereich Strom und Industrie“ angestrebt, „der dafür sorgt, dass erneuerbare Energie statt Kohlestrom zu Einsatz kommt“. Sollte das auf europäischer Ebene nicht schnell genug gelingen, wollen die Grüne „auf einen nationalen CO2-Mindestpreis“ für Industrie und Strom setzen.
Laut Programmentwurf wollen die Grünen also den bereits existierenden CO2-Preis erhöhen und den Emissionshandel auf weitere Bereiche ausweiten.
9. Behauptung: Mehr illegale Migration
Bewertung: Falsch
Die Grünen wollen laut Programmentwurf ein Einwanderungsgesetz schaffen, „das neue Zugangswege für Bildungs- und Arbeitsmigration“ ermöglicht (Seite 98). Weiter heißt es, Asylverfahren sollten in Deutschland „rechtssicher, fair und transparent“ gestaltet werden. Die Partei wolle dafür sorgen, „dass es zügig zu einer Entscheidung über den Aufenthaltstitel kommt, damit Menschen früh verbindliche Gewissheit haben, ob sie bleiben können oder nicht.“ Zudem steht im Programmentwurf, dass die Partei die „Ausrufung ‘sicherer’ Herkunfts- oder Drittstaaten“ ablehne (Seite 99).
Weiter heißt es im Entwurf: „Menschen, die nach sorgfältiger Prüfung der asyl- und aufenthaltsrechtlichen sowie nach Ausschöpfung aller Rechtsschutzmöglichkeiten kein Asyl bekommen und in ihrem Herkunftsland nicht gefährdet sind, müssen zügig wieder ausreisen.“
10. Behauptung: Mehr Genderwahn
Bewertung: Fehlender Kontext
Der Begriff „Genderwahn“ wird laut der Bundeszentrale für politische Bildung vor allem von extrem rechter und rechtspopulistischer Seite genutzt, um gegen Politik, die die Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts ausgleichen will, zu polemisieren und die traditionelle Geschlechterordnung zu verteidigen.
Unabhängig von diesem Framing-Begriff finden sich zum Thema Gender verschiedene Punkte im Programmentwurf der Grünen. So geht es ihnen um die Stärkung von Rechten von Frauen, zum Beispiel bezüglich der Förderung von Frauen in der digitalen Wirtschaft (Seite 41). Zudem heißt es, der Bundeshaushalt solle nachhaltiger und gerechter gestaltet werden. Darunter falle auch das „Gender-Budgeting“, womit „eine konsequente Berücksichtigung und Einbeziehung von Gleichstellungsaspekten bei finanz- und haushaltspolitischen Entscheidungen“ erreicht werden soll (Seite 47).
Zudem soll es unter anderem eine „gender-sensible Berufsberatung“ geben, um die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen zu stärken (Seite 60). Darüber hinaus wird im Programmentwurf ein „Gender-Check“ vorgeschlagen, mit dem geprüft werden soll, „ob eine Maßnahme oder ein Gesetz die Gleichberechtigung der Geschlechter voranbringt“ (Seite 100).
Zudem fordern die Grünen „50 Prozent Frauen in internationalen Verhandlungen“. Nach dem Vorbild der schwedischen Regierung soll es einen „Gender Equality Plan“ geben, um vergleichbare Kriterien für die Gleichstellungspläne der Ministerien zu schaffen (Seite 119).
Redigatur: Matthias Bau, Alice Echtermann
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Der Entwurf des Wahlprogramms der Grünen für die Bundestagswahl vom 19. März 2021: Link